„Ich suche eine Menschin.”

Eine Faschingshumoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Wiener Hausfrauen-Zeitung”, XXXIX. Jhrgg. Nr.5 vom 2.2.1913


„Und Sie verlangen also das Unmögliche allen Ernstes von mir, gnädiges Fräulein? Und vor allen Dingen verlangen Sie es von mir als einen Beweis meiner Liebe? Was aber dann, wenn mir dieser Beweis nicht gelingt, weil er mir nach meiner Ueberzeugung nicht gelingen kann? Was dann?”

Voll banger Furcht sah der lange Leutnant von Gelmeroda in das bildhübsche Gesicht des jungen, schlanken, eleganten Mädchens, das da vor ihm stand. Und so durchdringend sah er sie an, als wolle er in ihren großen, rehbraunen Augen lesen, was dann werden solle, wenn er es trotz aller Anstrengungen nicht fertig brachte, sie auf dem Faschingsball unter den zahllosen Masken herauszufinden, ohne daß sie ihm auch nur die leiseste Andeutung über ihr Kostüm gemacht hatte. Und angesichts der schweren Aufgabe, die seiner harrte, blickte er plötzlich so verzagt drein, daß Fräulein Ria, das einzige Kind ihrer sehr reichen Eltern, ein klein wenig verwöhnt, wie sie war, lustig auflachte, bis sie dann übermütig sagte: „Zerbrechen Sie sich doch nicht schon heute den Kopf über das, was dann? Als Offizier müssen Sie doch stets an den Sieg, niemals an eine Niederlage glauben.” Bis sie dann gleich darauf beinahe mit der Stimme eines verhätschelten Kindes bat: „Ach, Herr von Gelmeroda, lassen Sie mir doch das Vergnügen. Ich freue mich ja so schrecklich darauf, daß Sie mich vielleicht stundenlang suchen müssen, und schelten Sie mich ruhig abergläubisch oder sonst was, aber ich werde den Gedanken nicht los, daß Sie mich finden müssen, wenn Sie mich wirklich lieb haben.”

So leise sie auch die letzten Worte sprach, der junge Leutnant hatte sie dennoch verstanden, und rasch ergriff er ihre Hand, um sie an die Lippen zu führen: „ich liebe Sie, gnädiges Fräulein, mehr als mein Leben, und ich werde es Ihnen beweisen. Wenn Sie auf dem Faschingsball auch unter Tausenden von Menschen stehen sollten, ich werde Sie finden. Aber wenn ich Sie gefunden habe, dann verlange ich auch meinen Lohn, und nicht wahr, gnädiges Fräulein, den werden Sie mir dann nicht verweigern?”

Aber wohl, um ihn zu necken und um seine Liebe noch mehr zu entflammen, blieb sie die Antwort schuldig, bis sie übermütig meinte: „Erst müssen Sie mich finden, Herr Leutnant, und Sie sagen ja selbst, daß das nicht so leicht sei. Haben Sie schon darüber nachgedacht, wie Sie es anfangen werden, auf meine Spur zu kommen, denn Sie dürfen nicht vergessen, daß Sie mir zusagten, sich weder bei meiner Zofe noch sonst irgendwie hinter meinem Rücken darnach zu erkundigen, in welchem Kostüm oder auch nur in welcher Frisur ich komme.”

Unwillkürlich stöhnte der junge Offizier schwer auf: „Ich weiß, gnädiges Fräulein, was ich Ihnen versprach, und ich werde es natürlich auch halten. Wie ich es fertig bringen soll, meine Aufgabe zu lösen, wissen höchstens die Götter, wenn die es wissen. Auf mein Herz allein, das in Ihrer Nähe lauter und unruhiger schlägt als sonst, kan ich mich auf dem Faschingsball nicht verlassen, es müßte denn sein, daß Sie mir das Suchen etwas erleichtern sollten, oder wenigstens das Finden.”

Aber Fräulein Ria lachte hell und fröhlich auf und schüttelte den Kopf mit dem dichten, kastanienbraunen Haar: „Nein, Herr Leutnant, selbst ist der Mann, und wenn Sie mich wirklich lieben — — —”

Und um dem schönen Fräulein Ria zu beweisen, daß und wie er sie liebe, zermarterte sich der Leutnant in den nächsten Tagen sein Gehirn, um den Weg zu finden, auf dem er das Unmögliche erreichen konnte. Der große Faschingsball, zu dem sich die ganze Gesellschaft der Stadt zum lustigen Faschingstreiben zusammenfand, würde sicher von wenigstens fünfhundert weiblichen Masken besucht sein. Wie sollte er da unter den vielen die eine herausfinden, noch dazu, wo sie in einem fremden Kostüm und unter der Maske erschien? Auch er mußte im Kostüm erscheinen, und er hatte Fräulein Ria nichts davon verraten dürfen, welche Tracht er wählte. Selbst wenn sie wollte, konnte sie ihm da das Suchen und das Finden nicht erleichtern. Nur eine List vermochte das Unmögliche vielleicht doch möglich zu machen, nur eine List, aber welche? Das arme Gehirn schmerzte ihn, denn soviel wie in diesen Tagen hatte er in seinem ganzen bisherigen Leutnantsleben noch nicht nachgedacht, bis ihm dann doch endlich eines Abends bei der Sektflasche ein rettender Gedanke kam. Vielleicht, daß es so ging, aber auch nur vielleicht. Allerdings brauchte er zunächst noch einen Helfershelfer, auf dessen Dienste und Verschwiegenheit er sich verlassen konnte, aber der war in dem Fähnrich, der bei seiner Kompagnie stand und ihm an Größe und Figur ziemlich glich, schnell gefunden. Gott sei Dank, daß der wenigstens noch nicht selbst verliebt war, so hatte er Zeit, sich dem Herrn Leutnant mit Freuden zur Verfügung zu stellen.

Der Tag des Faschingsballes brach endlich an, und schon lange vor der festgesetzten Stunde füllte sich der Riesensaal mit einer lachenden, fröhlichen und scherzenden Menge. Alle waren im Kostüm, ein jeder und eine jede hatte sich bemüht, möglichst originell zu erscheinen, aber das größte Aufsehen erregte doch die Maske eines Herrn, der als moderner Diogenes kam, denn frei nach dem bekannten Wort des Weisen: „Ich suche einen Menschen,” stand auf der Schiefertafel, die er an einem Bindfaden um den Hals trug, geschrieben: „Ich suche eine Menschin.” In der rechten Hand trug er eine große Stallaterne mit einem brennenden Licht, um mit dieser fortwährend allen Damen in das maskierte Gesicht zu leuchten, während er unter dem linken Arm eine schmale Tonne trug, die er von Zeit zu Zeit auf den Boden stellte, und auf die er sich dann niedersetzte, um sich anscheinend von dem vielen vergeblichen Suchen zu erholen.

Alle drängten belustigt und neugierig heran, um zu erfahren, wer dieser moderne Diogenes sei. Jeder bot ihm seine Hilfe an, und eine jede fragte ihn neckend und foppend: „Diogenes, du Weiser, suchst du mich?” Aber so oft er auch seine laterne hob, um den Damen ins Gesicht zu leuchten, jedesmal ließ er sie wieder sinken.

Die einzige, die sich fernhielt, war Fräilein Ria. Natürlich hatte auch sie die Maske längst bemerkt, sie allein dachte sich gleich, wer er war, und wen er suchte, aber wenn sie sich auch über seine lustige Idee amüsierte, ja, wenn er ihr auch manchmal aufrichtig leid tat, daß er sie immer und immer noch nicht fand, sie fragte ihn trotzdem nicht: „Suchst du vielleicht mich?” Dazu war es ja immer noch Zeit. Erst wenn er sie wirklich nicht erkannte, dann konnte sie ihm das Finden und Suchen immer noch erleichtern, denn finden mußte er sie, schon weil sie ihn seit langem liebte.

Aber je länger der Abend dauerte, desto mehr bereute sie es, ihn vor eine so schwere Aufgabe gestellt zu haben. Wie schön hätte sie sich mit ihm zusammen amüsieren, mit ihm zusammen tanzen können. Statt dessen stand sie hier, er dort drüben an seine Tonne gelehnt. Ob sie dem nicht doch endlich ein Ende machte? Aber dann schüttelte sie wieder den Kopf; sie hatte es von ihm als Zeichen seiner Liebe verlangt, daß er sie fände, drum mußte sie auch dabeibleiben.

So trat sie denn mit einem anderen Tänzer zum Walzer an, bis dann plötzlich mitten im Spiel die Musik verstummte, bis mit einem lauten Aufschrei alle Paare zur Seite stoben, so daß sich eine breite Gasse bildete für den mehr als Betrunkenen, der da jetzt in den Saal hereingeschwankt kam und der seinen derben Knüppel so drohend schwang, daß selbst die Saaldiener, die sich vergebens bemüht hatten, ihn zurückzuhalten, es nicht wagten, sich ihm zu nähern. Ein jeder sah es auf den ersten Blick, das war keine Maske, die sich da hereindrängte, sondern ein wirklich Betrunkener. Seine Kleidung starrte vor Schmutz und Dreck, wild und wirr hing ihm das Haar in das Gesicht, mit verglasten Augen sah er blöde um sich, die zitternden Hände hielten die halbvolle Schnapsflasche, aus der er von Zeit zu Zeit einen Schluck nahm, während er vor sich hintorkelte und dabei um sich sah, als wisse er nicht, wo er sei.

Wie hatte der Mensch hier hereinkommen können? Wie war es möglich, daß die Diener den hereingelassen hatten? Aber die gaben, von dem Vorstand befragt, die Auskunft, der Kerl habe mit fast übermenschlicher Kraft sich den Eintritt erzwungen, und er habe gedroht, jeden niederzuschlagen, der sich ihm in den Weg stelle. Und die Absicht schien der Betrunkene auch jetzt noch zu haben, bis er dann plötzlich auf dem glatten Parkett strauchelte und vergebliche Anstrengungen machte, sich wieder aufzurichten. Aber auch jetzt wagte niemand, sich ihm zu nähern, denn er hatte sich den Handriemen seines dicken Knüppels fest um die rechte Hand geschlungen, so daß man einsah, man würde ihm den nicht entreißen können.

Es gab nur eines: die Schutzmannschaft mußte herbeigeholt werden, und so eilten die Saaldiener davon, um die nächste Polizeiwache zu verständigen. Bis aber die Polizei kam, konnte selbst im besten Falle wenigstens noch eine Viertelstunde vergehen, und schon, um möglichst schnell einen Fortgang des Balles zu erreichen, und um die fröhliche Faschingsstimmung durch dieses Intermezzo nicht ganz zu zerstören, bemühten sich die Herren des Vorstandes, mit dem Trunkenbold auf gütlichem Wege zu unterhandeln. Angesichts seines drohenden Knotenstockes gab es aber nichts zu fordern und zu verlangen, und so bat man ihn denn um die Bedingeungen, unter denen er bereit sein würde, freiwillig den Saal wieder zu verlassen. Man stellte ihm bares Geld, Essen und Trinken im Ueberfluß in Aussicht, aber der Betrunkene lachte nur geringschätzig auf, bis er dann, endlich wieder auf seinen Beinen stehend, mit lallender Stimme sagte: „Nichts zu machen — ich bleibe hier, und wenn ihr die Polizei holt, dann sollt ihr mal sehen, wie schnell ich mit der fertig werde. Ich bleibe hier und ich gehe nicht eher weg, als bis ich das schönste Mädchen hier im Saal geküßt und mit ihr getanzt habe, und wenn ihr glaubt, daß ich nicht tanzen kann, weil ich nach eurer Meinung besoffen bin, ich werde euch schon beweisen, daß ich doch noch tanzen kann. Laßt nur die Musik spielen, ich werde mir schon ein hübsches Mädchen suchen. Vorwärts, die Musik soll spielen!”

Geschah es unter der Drohung des erhobenen Knotenstockes, geschah es, weil die Herren des Komitees glaubten, die Musik würde am schnellsten über diesen häßlichen Zwischenfall hinweghelfen, auf jeden Fall erklangen plötzlich wieder die Geigen, aber keine der Damen wagte zu tanzen. Jede fürchtete sich, in die Nähe des Betrunkenen zu kommen und vielleicht von diesem ergriffen zu werden. Jede der jungen und hübschen Tänzerinnen schmiegte sich ängstlich an ihren Herrn, und in ihrer Angst stürzte Fräulein Ria, die zu diesem Tanz nicht engagiert war, plötzlich nun doch auf den Diogenes zu, der auch jetzt noch, unbeirrt um alles, was um ihn herum vorging, seine Menschin suchte. Was lag jetzt noch daran, ob er sie fand oder ob sie sich ihm zu erkennen gab? Nur nicht dem Trunkenbold in die Arme fallen! So unklammerte sie denn mit beiden Händen die Arme des Menschensuchers und flüsterte ihm zu: „Geben Sie es auf, mich zu finden, ich komme freiwillig zu Ihnen.”

Mit seiner Laterne leuchtete Diogenes ihr in das durch die Maske noch halb verhüllte Gesicht, dann aber schüttelte er den Kopf: „Ich kenne dich nicht — — ich höre deine Stimme zum erstenmal, und mein Herz sagt mir, daß du nicht die richtige bist.”

Und ehe Fräulein Ria sich noch von ihrem grenzenlosen Erstaunen erholt hatte, fühlte sie sich plötzlich von den Armen des Betrunkenen erfaßt — sie wollte schreien und um Hilfe rufen, aber die Angst schnürte ihr die Kehle zu, sie brachte keinen Ton über ihre Lippen. Mit ganz entsetzten Augen starrte sie dem Betrunkenen in das Gesicht, eine Art Krampf lähmte ihr die Glieder, bis dann plötzlich ein helles, fröhliches Lachen an ihr Ohr klang, und ihr der Trunkenbold nun nicht mehr mit lallender, sondern mit übermütiger Stimme zurief: „Sehen Sie wohl, gnädiges Fräulein, nun habe ich Sie doch herausgefunden unter den vielen hundert fremden Masken; glauben Sie nun, daß ich Sie liebe?”

Und ehe sie noch Zeit zu irgend einer Antwort fand, hatte er seine Perücke, den falschen Bart, die angeklebte Nase abgerissen, die viel zu großen zerfetzten Stiefel von den Füßen geschleudert, den Rock und die Hose abgestreift, bis der junge Offizier dann plötzlich in der kleidsamen Tracht eines fahrenden Sängers vor ihr stand.

„Glauben Sie es nun, gnädiges Fräulein, daß ich Sie liebe?” fragte er noch einmal so leise, daß nur sie es verstehen konnte, denn nun, da der Schrecken überstanden war, drängten alle Paare lustig und neugierig heran, um zu erfahren, wer ihnen allen einen solchen Streich gespielt habe. Aber als die Zahl der Neugierigen immer mehr und mehr wuchs, ergriff er sie bei den Händen und zog sie schnell mit sich fort, um sie dann noch einmal zu fragen: „Glauben Sie es nun, daß ich Sie liebe?” Und ohne ihre Antwort abzuwarten, fuhr er fort: „Seien Sie mir nicht böse, wenn ich vielleicht auch Sie erschreckt habe, aber ich sah keinen anderen Ausweg, um Sie zu finden. Sie mehr als alle anderen mußten es mit der Angst bekommen, denn ich sagte mir, wenn Ria dich liebt, wie du sie, dann wird sie in ihrer Furcht nur auf dich zueilen und bei dir Schutz und Hilfe suchen. Das ist auch geschehen, nur daß ich nicht selbst der Diogenes war, denn dann hätte ich Sie ja nicht gefunden, sondern Sie hätten sich mir zu erkennen gegeben. So mußte ich Sie einem anderen in die Arme treiben, von dem Sie glaubten, ich sei es. Ich habe getan, was Sie von mir verlangten, ich habe Sie heute abend unter all den anderen herausgefunden, nun aber lasse ich Ihre Hand nicht wieder los, die behalte ich für mein Leben, und nicht wahr, ich darf sie behalten?”

Trotz des Ernstes, mit dem er jetzt zu ihr sprach, amüsierte sie sich im stillen immer noch über die List, die er angewandt hatte, um sie zu finden, und um ihr dadurch seine Liebe zu beweisen. So erwiderte sie denn jetzt den Druck seiner Hand, und laut und ehrlich kam auf seine Frage das Jawort über ihre Lippen. Da jubelte er hell auf, bis er dann seine Arme um sie schlang, um sich mit ihr in den Faschingstrubel zu stürzen, trunken vor Glück und vor Freude, tausendmal trunkener, als er es vorhin als Betrunkenr gewesen war!


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