Das Kasernengespenst.

Eine Besichtigung von A-Z.

I.
Die Vorgesetzten melden sich an.

Von Freiherrn von Schlicht.
in: Der höfliche Meldereiter und
in: Das Kasernengespenst.


Über den Wert oder Unwert der Besichtigungen gibt es beim Militär ebsoviel Köpfe wie Ansichten und ebensoviel Ansichten wie Köpfe.

Das hört sich an, als wäre es dasselbe, und doch ist es das schon nicht, weil es beim Militär viele Köpfe gibt, die gar keine Ansicht haben, oder richtiger gesagt, gar keine zu haben haben.

Wenigstens nicht nach der Ansicht der Vorgesetzten, und wenn die ihren Untertanen auch das laute Denken abzugewöhnen die Macht haben — dagegen, daß die Untergebenen sich im stillen zuweilen doch ihre eigenen Gedanken machen, ist kein Militärstraf-Gesetzbuch, kein Kriegsgericht und kein Arresthaus gewachsen.

Die Gedanken sind zollfrei, wenigstens vorläufig noch; wären sie auch straflos, wäre es besser.

Aber die verbotenen Gedanken sind ja die süßesten. Schon als Kind denkt man ja, anormal veranlagt, wie das heutzutage zur Bildung gehört, am liebsten an das, woran man nicht denken soll — wobei ich aber nicht im geringsten an das denke, was andere sich vielleicht bei diesen Worten denken.

In mancher Weise sind auch die Soldaten Kinder, wenn auch schon erwachsene Kinder, und so kommt es, daß auch sie am liebsten über solche Dinge nachdenken, die sich schon deshalb nicht für sie eignen, weil sie nichts davon verstehen.

Zu diesen ihnen unverständlichen Dingen gehört auch alles, was Besichtigung heißt; und über eine solche Vorstellung macht sich jeder seine eigene Vorstellung.

Die Musketiere denken, auch wenn sie Grenadiere oder Gardisten sind: O wär' es vorüber und alles erst vorbei! Ich glaube, ich brech mir die Knochen sonst doch noch mal entzwei.

In den Augen der Unteroffiziere ist jede Besichtigung weiter nichts als eine neue Veranlassung, ganz gewaltig angeschnauzt zu werden, weil dem einen Mann der Helm schief auf dem Kopf sitzt, oder weil einem anderen die Patronentaschen verrutscht sind.

Für die Leutnants ist die Besichtigung in jeder Hinsicht ein hirnverbrannter Unsinn.

Für die Hauptleute ist sie ein memento mori: Denke daran, daß du sterben mußt, wenn auch noch nicht als Mensch, so doch als Soldat.

Der Major betrachtet sie als Veranlassung, wieder einmal darüber nachzudenken, in welcher Stadt er sich zur Ruhe setzen wird, wenn er einmal den bunten Rock lediglich deshalb ausgezogen hat, weil ihm die ganze Sache schon längst keinen Spaß mehr macht.

Der Herr Oberst endlich trägt jeder Besichtigung gegenüber eine um so größere Ruhe zur Schau, je weniger sie seinen innersten Gedanken entspricht. Je mehr ihm selbst der Hosenboden zittert, desto weniger Veranlassung liegt nach seiner offiziellen Behauptung vor, sich irgendwie aufzuregen.

Die höheren Vorgesetzten, die Generale und Exzellenzen, denken natürlich über eine Besichtigung ganz anders, für sie ist es das, was es nach einem alten Wort auch für alle anderen sein soll, nämlich ein Tag der Freude. So denken sie aber natürlich nur dann, wenn sie besichtigen — fühlt man ihnen aber selbst auf den hohlen Zahn, ach du großer Gott, dann ist auch ihnen sehr elendiglich zumute, dann zittert die älteste Exzellenz wie der jüngste Hauptmann; denn den Abschied wollen sie alle nicht, die einen, weil sie zu wenig Geld, die anderen, weil sie einen zu großen Ehrgeiz haben.

Und die hohen Vorgesetzten, die ihren Untergebenen so oft das Lied des Bürgermeisters aus Zar und Zimmermann vorsingen: „O, ich bin klug und weise, und mich betrügt man nicht,” haben Angst vor dem Tag, an dem ihnen von höchster Stelle aus bewiesen wird, daß sie mit dem Gesang nur renommierten, daß es mit ihrer Weisheit und Klugheit gar nicht so weit her war.

So sind die Ansichten über die Besichtigungen sehr verschieden und doch sind sie bis zu einem gewissen Grade alle gleich.

Auf alle Fälle wäre das Leben als Soldat noch sehr viel schöner, als es so wie so schon zuweilen ist, wenn es keine Besichtigungen und auch keine Vorgesetzten gäbe.

Das Ideal für die Leutnants wäre es außerdem, wenn es auch keine Untergebenen und damit auch keinen Dienst gäbe. Dann lohnte es sich doch noch zu leben, dann hätte dieses Dasein noch einen Zweck, aber des Morgens nur aufzustehen, um den Kerls theoretische und praktische Kenntnisse beizubringen, von denen die am nächsten Tag doch keine Ahnung haben, von den Vorgesetzten egal etwas auf den Hut zu bekommen, und sich bei den Besichtigungen fortwährend sagen lassen zu müssen, man merke es schon an den mangelhaften Kenntnissen der Leute, daß man dem Dienst nicht die nötige Liebe und das notwendige Interesse entgegenbrächte — nee, das hatte doch wahrlich keinen Sinn. Das war schade um die schöne Zeit, die man da unnötig auf dem Kasernenhof und dem Exerzierplatz vertrödelte, die konnte man viel nützlicher damit verbringen, daß ma gar nichts tat; dann wußte man doch wenigstens, was man tat.

Im Offizierkasino des Infanterieregiments werden heute bei dem Frühstück solche und ähnliche halbrevolutionäre Reden geäußert, die natürlich nicht annähernd so schlimm gemeint sind, wie sie einem unparteiischen Dritten vielleicht geklungen hätten, denn im Grunde ihres Herzens sind fast alle doch mit Leib und Seele Soldat.

Und daß sie heute schelten, hat eine besondere Veranlassung: Die hohen Vorgesetzten haben sich für die nächste Woche zur Besichtigung angesagt.

Seit langer Zeit hat man gewußt, daß sie kommen würden, und da man keine Möglichkeit sah, das Unheil abzuwenden, hat man auf ein Wunder gehofft.

Aber die Zeit der Zeichen und Wunder schien definitiv vorüber zu sein, die hohen Vorgesetzten kommen doch.

Der Herr Oberst hat diese Botschaft am frühen Morgen auf dem Regiments­bureau erhalten. Ihn läßt sie ganz kalt, er wird ja nicht besichtigt, sondern nur seine zwölf Kompagnien. Na, und wenn die Herren Hauptleute ihre Sache nicht gut machen, wenn die Kerls nicht genügend ausgebildet sind, dann müssen die Herren allein die Folgen tragen, seine Schuld ist es dann nicht. Er hat sie genug ermahnt, sich die allergrößte Mühe zu geben, und wenn sie sich nun doch das Genick brechen, dann haben sie sich das selbst zuzuschreiben.

Ihn läßt die Sache vollständig kalt, und um das seinem Adjutanten zu beweisen, trällert er ein Lied vor sich hin. Auf Grund seiner unmusikalischen Veranlagung trällert er nicht schön, aber er trällert wenigstens, und das ist die Hauptsache.

Aber plötzlich hört er mit dem Trällern auf, und das liegt nicht nur daran, daß in der Trällerarie jetzt ein Triller kommt. Sein Adjutant kennt ihn ganz genau, der würde auf den Träller mit oder ohne Triller doch nicht hineinfallen. Der weiß nur zu gut, daß den Herrn Oberst der bevorstehende Besuch der hohen Vorgesetzten nicht kalt lassen kann.

Und das kann er auch nicht. Ja, wenn er selbst hätte besichtigt werden sollen, dann würde ihn die Sache wirklich kühl bis ans Herz lassen. Er weiß ganz genau, was er kann, er wird schon keine Dummheiten machen; aber wer bürgt ihm dafür, daß seine Hauptleute nicht welche machen? Er steckt doch nicht drin in ihren Köpfen, und wenn die Besichtigung nachher nicht klappt, wenn der General und die hohen Exzellenzen an jeder Kompagnie etwas auszusetzen haben, wer ist dann schuld, wer trägt die Verantwortung dafür, daß die Leute nicht gleichmäßig ausgebildet sind, wer hätte eine strengere Kontrolle ausüben müssen? — Er nur, er allein. Im Geiste hört er schon diese Rede. Es ist einfach zum Verrücktwerden, und er nimmt sich vor, seine Hauptleute nochmals um sich zu versammeln, um sie in donnernden, zu Herzen gehenden Worten zu ermahnen, am Besichtigungstage ihre Pflicht und Schuldigkeit zu tun. Und er schwört sich, den Kerls und den Herren Kerls jetzt nicht mehr eine ruhige Minute zu lassen, sondern ihnen beständig auf der Pelle zu sitzen, damit alles so gut wie nur irgend möglich geht.

Und sein Trällern verwandelt sich plötzlich in einen gotteslästerlichen Fluch, mit dem er den Regiments­schreiber anfährt, der in diesem Augenblick das Zimmer betritt.

Und auch die Herren Bataillons­kommandeure läßt die bevorstehende Besichtigung vollständig kalt. Was geht es sie an, ob die hohen Vorgesetzten kommen oder nicht? Sie werden ja nicht besichtigt, sondern ihre Hauptleute, na, und wenn die allen Ermahnungen zum Trotz ihre Kompagnien nicht gut ausgebildet haben, dann müssen sie allein die Folgen tragen. Der Pensionsfond ist doch schon derartig überlastet, daß es auf einen Hauptmann mehr oder weniger wirklich ncht ankommt.

Die Herren Bataillonskommandeure zünden sich eine Zigarre an und blasen den Rauch in künstlichen Ringen in die Luft, um ihren Adjutanten dadurch zu beweisen, wie vollständig gleichgültig sie den kommenden Ereugnissen entgegensehen. Aber plötzlich legen sie die Zigarren fort, nicht nur, weil es mit dem Ringeblasen doch nicht viel wird, sondern weil ihre Adjutanten sie doch durchschauen. Die wissen ja ganz genau, wieviel für sie auf dem Spiel steht.

Und das tut es auch. Ja, wenn sie selbst besichtigt werden sollten, — sie wissen ganz genau, was sie leisten. Aber wie können sie für das einstehen, was ihre Hauptleute zeigen werden. Sie stecken doch nicht drin in deren Schädeln; und wenn dann die hohen Herren an den Kompagnien ihres Bataillons etwas auszusetzen haben, wer ist daran schuld? Wer hat sich die gleichmäßige Ausbildung der vier Kompagnien nicht genug am Herzen liegen lassen, wer hat keine genügende Kontrolle geübt, wer ist schließlich in erster Linie für die kriegsgemäße Ausbildung des Bataillons verantwortlich? Sie, sie, sie ganz allein.

Im Geiste hören sie schon diese Rede. Es ist einfach zum Kotzen, und so nehmen sie sich vor, ihre Hauptleute nochmals zusammenzurufen und ihnen in nicht mißzuverstehender, in zu Herzen gehender Weise klar zu machen, daß sie von jedem einzelnen auf das Bestimmteste erwarten, er würde bei der Besichtigung gut abschneiden. Und sie geloben sich, den Kerls und den Herren Kerls keine ruhige Minute mehr zu lassen, damit die Sache so gut wie nur irgend möglich geht.

Und die friedlichen Rauchwolken von vorhin verwandeln sich plötzlich in einen dröhnenden Faustschlag auf den Tisch, mit dem sie den eintretenden Bataillons­schreiber begrüßen.

Und auch die Herren Hauptleute läßt die bevorstehende Ankunft der hohen Vorgesetzten vollständig kalt. Ihnen kann nichts passieren, sie sind sich bewußt, ihre Pflicht getan und sich die denkbar größte Mühe gegeben zu haben. So sprechen sie denn jetzt auch mit ihren Feldwebeln nicht über die Besichtigung, sondern über alle möglichen gleichgültigen Dinge: Wie lange der Petersen wohl noch im Lazarett bleiben wird, warum der Nissen gestern auf dem Scheibenstand allen Ermahnungen zum Trotz nicht ein einziges Mal in die Scheibe getroffen hat, und ob man den Schulze, den Lümmel, der gestern über Urlaub geblieben sei, einsperren solle, oder ob es genüge, ihn mit Urlaubsentziehung zu bestrafen.

Aber dann brechen sie plötzlich das Gespräch ab, sie täuschen ihren Feldwebel doch nicht, der weiß ganz genau, was für sie auf dem Spiel steht.

Und das tut es auch. Ja, wenn sie für ihre Person allein hätten besichtigt werden sollen, dann kann ihnen wirklich nichts passieren, sie sind sich ihrer Fähigkeiten wohl bewußt und werden schon keine Dummheiten machen. Aber darauf kommt es ja gar nicht an, sondern einzig auf das, was die Leute machen. Sie sind für die Ausbildung ganz allein verantwortlich, und wenn der eine Mann sein Gewehr schlecht auf die Schulter schiebt, wenn Müller eine schlappe Wendung macht, wenn Meier VII, der unmusikalische Hund, bei dem Parademarsch keinen Tritt hat, wenn die Kerls bei der Vorinstruktion jede Antwort schuldig bleiben, und wenn der Petersen, das Hornvieh, der bei den Salven nie das Kommando „Feuer” abwarten kann, auch bei der Besichtigung zu früh losknallt — wer hat dann schuld? Wer ist für alles verantwortlich, wer hat sich bei der Ausbildung nicht die nötige Mühe gegeben, obgleich sie es weiß Gott daran nicht haben fehlen lassen? Sie, sie ganz allein.

Im Geiste hören sie schon diese Rede. Es ist einfach, um sich was in die Hosen zu machen. Und das Gespräch über die gleichgültigsten Sachen endet plötzlich damit, daß der Herr Hauptmann höchst eigenhändig den Kompagnieschreiber zur Tür hinauswirft, als der jetzt ins Zimmer tritt.

Und die Hauptleute geloben sich, ihre Kerls nachher nochmals zusammen zu nehmen, sie und die Leutnants darauf aufmerksam zu machen, daß ihnen ein heiliges und unheiliges Donnerwetter in die Knochen fahren wird, wenn bei der Besichtigung nicht alles klappt. Und sie schwören sich, ihnen keine ruhige Minute mehr zu lassen, damit sie nicht ihretwegen etwas auf den Hut bekommen.

Denn jedem ist sein Hut der nächste.

Die Herren Leutnants, die Unteroffiziere und die Mannschaften läßt die bevorstehende Ankunft der hohen Vorgesetzten ebenfalls vollständig kalt, denn sie haben die felsenfeste Überzeugung, daß sie ihre Sache doch nicht gut machen werden, und das läßt sie allem Kommenden ruhig entgegensehen.

Nur eins quält sie, das ist die Gewißheit, daß die Tage, die ihnen nun bevorstehen, für sie alles andere, nur kein Vergnügen sein werden. Sie sehen es voraus, daß man sie gewaltig hochnehmen wird. So salben sie sich denn im Geiste ihre Knochen mit Öl und empfehlen sich einem gnädigen Geschick.

Und dann fügen sie sich mit Würde in das Unvermeidliche. Es ist ja schließlich nicht die erste Besichtigung, die sie mitmachen und nicht die letzte.

Ach nein, gewiß nicht die letzte, denn die hohen Vorgesetzten, die zur Besichtigung kommen, lösen sich ab, wie die Posten vor dem Schilderhause.


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