Meiers Urlaub.

Von Freiherr von Schlicht
in: „Bielefelder General-Anzeiger” 4.Beilage vom 24.12.1910,
in: „Hagener Zeitung” vom 24.12.1910,
in: „Neue Hamburger Zeitung” vom 25.Dez. 1910,
in: „Weimarische Landeszeitung Deutschland” vom 25.Dez. 1910,
in: „Ein Adjutantenritt.”,
in: Meiers Hose,
in: Das lustige Salzer-Buch,
in: Meine Kabarettgeschichten und
in: Meyers Weihnachtsurlaub

Die Rekruten exerzierten auf dem Kasernenhof, und vor seiner Abteilung stand der Sergeant Haase und rang die Hände: „Meier,” wandte er sich jetzt an einen seiner Leute, „sagen Sie mir, was soll ich tun, um Ihnen die militärische Seligkeit beizubringen, die bekanntlich darin besteht, daß man nie auffällt, weder angenehm, noch unangenehm. Sie fallen nur unangenehm auf, meine Hände können das bezeugen. Nicht etwa, als ob ich mich mit diesen meinen beiden Händen an Ihnen vergangen hätte – – erstens tue ich so etwas nie, zweitens habe ich es früher einmal getan und ein Haar darin gefunden, und drittens hat es gar keinen Zweck. Aber meine Hände wissen doch, was ich an Ihnen habe: krumm und schief habe ich sie mir Ihretwegen gerungen, erst rang ich sie in die Länge, nun ringe ich sie in die Kürze, und wenn ich kein Glück habe und die beiden Hände nicht wieder gleich lang bekomme, dann wehe Ihnen, Meier, obgleich es mir weh tun würde, Ihnen weh tun zu müssen. Lassen Sie es sich gesagt sein, Sie sind krümmer als krumm, dümmer als dumm, aber böse sein kann man Ihnen nicht. Aber wissen möchte ich es doch – – was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, als Sie Soldat wurden?”

Das war eine rethorische Frage, auf die jede Antwort mehr als überflüssig war, trotzdem sagte Meier jetzt mit lauter Stimme: „Gar nichts, Herr Sergeant.”

Der Vorgesetzte sah sich um, ob auch kein Hörer in der Nähe sei, der diese vollkommen unvorschriftsmäßige Äußerung gehört hätte, dann sagte er: „Meier, merken Sie es sich: erstens spricht der Soldat überhaupt nicht, zweitens nur dann, wenn er gefragt ist, und drittens sagt er dann nur ,Zu Befehl!' verstanden?”

Aber anstatt nun „Zu Befehl!” zu antworten, war Meiers Schädel noch damit beschäftigt, den ersten Teil der Rede geistig zu verarbeiten, der da lautete: erstens spricht der Soldat überhaupt nicht.

Meier war von Hause aus etwas sehr beschränkt, er war töricht geboren und hatte nichts hinzugelernt, das lag aber weniger an seinem Fleiß als an seinem Temperament. Er arbeitete sich ab und schaffte doch nichts.

„Sehen Sie mal, Meier,” sagte Haase eines Tages zu ihm, „Sie sind vom Lande und ich auch, und da wissen Sie, daß es zweierlei Pferde gibt, je nachdem sie vom warmen oder kalten Schlag abstammen. Spannen Sie ein warmblütiges Pferd vor den Wagen, so rackert das sich schon ab, während es eingespannt wird, und wenn es nachher etwas leisten soll – – dann adieu, königliche Hoheit, dann kann es nichts mehr. Anders ein Gaul vom kalten Schlag, der wartet geduldig, bis er angeschirrt ist, und wenn sein Herr dann zu ihm sagt: ,Pferdchen, nun lauf mal ohne stehen zu bleiben bis Patagonien', dann denkt das Tier: wenn es weiter nichts ist, und trabt ruhig los, bis es in Patagonien ankommt, und wenn es da ist, hat es auch nicht ein nasses Haar. Sie aber, Meier, kämen in Ihrem ganzen Leben nicht bis Patagonien, denn wenn der Dienst nur losgeht, dann schwitzen Sie schon vor lauter Aufregung, und durch Ihre innere Unruhe machen Sie sich müde und leisten doch nichts.”

So war es ihm auf der Schule auch schon gegangen, er hatte sich zu viel Mühe gegeben, er hatte aufgehorcht, bis ihm das Gehirn schmerzte, so daß er schließlich nur noch Worte hörte, ohne deren Sinn zu verstehen. So lernte er nichts, und dazu kam seine unglaubliche Ungeschicklichkeit, wenn es irgend eine Gelegenheit gab, zu stolpern, lag er sicher gleich darauf auf der Nase, und wenn auch nur eine entfernte Möglichkeit vorhanden war, sich zu stoßen, dann schlug er sich sicher blutig. Und so blieb es auch, als er Soldat geworden war, bei der Kniebeuge brach er sich fast das Kreuz, bei dem Armrollen drehte er sich fast die Arme aus den Kugelgelenken, und bei dem Kopfdrehen brach er sich fast das Genick.

Und als er zum erstenmal den schönen Griff „Das Gewehr über!” machte, riß er sich mit dem Korn des Visiers die rechte Backe auf.

„Meier, wie ist das nur möglich?” fragte Sergeant Haase, denn damals wußte er noch nicht, daß für Meier auf dem Gebiet der Ungeschicklichkeit alles möglich war.

Meier war der fleißigste aller Rekruten, er war zugleich auch der Krümmste und der Törichtste. Er rackerte sich ab, er schwitzte Blut, er wollte lernen, was die andern auch lernten und begriffen, er wollte nicht immer der Krümmste der Krummen bleiben, aber sein Mühen hatte keinen Erfolg.

Eine Woche verging nach der andern, und das Weihnachtsfest kam heran. In den Pausen, während des Exerzierens, beim Mittagessen, in der Putzstunde und abends nach dem Dienst wurde von den Rekruten nur die eine Frage erörtert: „Wer von uns bekommt Weihnachtsurlaub?” Ach, sie wünschten sich ihn ja alle. In den Spinden hing die neue Extrauniform, oder wer sich den Luxus nicht leisten konnte, der hatte sich wenigstens eine Extramütze und ein Extrakoppel angeschafft, ganz Vornehme besaßen sogar weiße Handschuhe, und nun ersehnten sie den Augenblick, wo sie im bunten Rock den Ihrigen daheim gegenübertreten konnten.

Und eines Tages hieß es bei Parole: „Die Rekruten, die Weihnachtsurlaub wünschen, haben dies bis heute abend sechs Uhr ihrem Korporalschaftsführer zu melden.”

Und sie meldeten sich alle, alle, alle. Ein jeder wollte wenigstens den Versuch gemacht haben, Weihnachten nach Haus zu kommen.

Auch Meier meldete sich, aber kaum hatte er seinen Namen, so schön er nur irgend konnte, auf die Gesuchsliste gesetzt, dann wurde er zu Sergeant Haase gerufen: „Meier,” sagte der Vorgesetzte, „wenn es einen Menschen gibt, dem ich im Interesse meiner Gesundheit einen Weihnachtsurlaub wünsche, der ewig und drei Jahre dauert, und von dem es keine Rückkehr gibt, dann sind Sie es. Und wenn es einen Menschen gibt, dem ich zur Belohnung für seinen Fleiß einen Urlaub gönne, dann sind Sie es ganz bestimmt. Trotzdem aber sage ich Ihnen: Sie können nicht auf Urlaub gehen. Verstehen Sie mich, ich habe nicht das Recht, Ihnen zu befehlen, daß Sie Ihr Gesuch zurückziehen sollen. Das darf ich nicht, aber als Mensch und als Christ warne ich Sie: gehen Sie nicht. Wir haben uns an Ihre unmilitärische Erscheinung gewöhnt, wir erschrecken nicht mehr, wenn Sie uns gegenübertreten, aber denken Sie an die Leute in Ihrem Heimatsdorf. Sie wissen nicht, was es für die jungen Mädchen dort bedeutet, wenn es heißt: die Weihnachtsurlauber kommen. Da träumt eine jede schon tagelang vorher von strammen, flotten, jungen Burschen, denen des Königs Rock so gut steht, daß allen das Herz im Leibe lacht. Und nun kommen Sie – – Meier, die Enttäuschung dürfen Sie den Leuten dort nicht bereiten, Sie verderben ihnen das ganze Weihnachtsfest. Und wie wird es Ihnen selbst gehen, man wird Sie auslachen, man wird sich über Sie lustig machen, und alle, die jemals in Ihrem Heimatsdorf gedient haben, werden den Kopf über Sie schütteln.”

So sprach Sergeant Haase wohl noch eine halbe Stunde auf ihn ein, und als er schließlich endete, duldete Meier, daß sein Name von der Liste gestrichen wurde, er verzichtete freiwillig auf den Urlaub, allerdings schweren Herzens, und seine Versuche, sich darüber hinwegzutrösten, schlugen fehl.

Als der Hauptmann am nächsten Morgen zum Dienst kam, um sich seine Rekruten, bevor dieselben in den nächsten Tagen auf Urlaub gingen, noch einmal genau anzusehen, stand Meier womöglich noch krümmer da als sonst, und aus seinen Zügen sprach eine geradezu trostlose Verzweiflung.

„Meier, was haben Sie? Irgend etwas bedrückt Sie – – ich will es wissen.”

Das klang streng, aber zugleich auch wohlwollend, und Meier erzählte, was der Sergeant ihm gesagt hatte.

Der Hauptmann hörte aufmerksam zu, dann ging er mit dem Sergeanten beiseite, und als er zurückkam, sagte er: „Ich habe mit Sergeant Haase über Sie gesprochen; wir wollen Ihnen in Anerkennung der Mühe, die Sie sich stets gegeben haben, doch Urlaub gewähren, wenn Sie mir übermorgen einen guten Griff vormachen – – nur einen, dann können sie gehen. Ich lasse Ihnen noch zwei Tage Zeit; übermorgen nachmittag um vier komme ich in die Kaserne, da werden wir weiter sehen.”

Nur einen guten Griff, das war alles, was Meier von den Worten seines Hauptmanns hörte und begriff; sein Hauptmann war immer freundlich und gütig mit ihm gewesen, aber für so milde und nachsichtig hätte selbst er ihn nicht gehalten. Nur einen guten Griff, wo die Kameraden täglich hundert gute Griffe machen mußten – – und was die hundertmal konnten, das würde er doch wohl ein einziges Mal können. Ganz bestimmt, das konnte er auch, und wenn er es auch heute noch nicht konnte, übermorgen konnte er es sicher; er hatte ja noch achtundvierzig Stunden Zeit, die wollte er benutzen, um den Griff zu üben.

Und er übte. Jede freie Minute, die er hatte, stand er auf dem Korridor vor dem großen Spiegel, der von der Decke bis zur Erde reichte, und übte „Gewehr über” und „Gewehr ab”. Es war schrecklich mit anzusehen, wie er sich abmühte, und für ein Soldatenherz war es schrecklich mit anzusehen, was er aus dem Griff machte. Er sah selbst im Spiegel, wie elendiglich er das Gewehr auf die Schulter brachte, aber sein Mut sank nicht dahin: das nächstemal würde es besser – – das sagte er sich hundertmal, aber es wurde nicht besser.

Und Meier übte mit solchem Fleiß, mit solchem heiligen Ernst, daß nicht ein einziger Kamerad sich über ihn lustig machte.

Einer nach dem andern kam, um zu helfen, ihm zu zeigen, wie er es machen müsse, und Sergeant Haase versäumte eine Verabredung in der Stadt, um ihm Privatunterricht zu geben. „Aber Meier, wie soll es denn nur etwas werden, wenn Sie vor Aufregung am ganzen Körper zittern? Nur die Hände dürfen arbeiten, sonst darf sich nichts an Ihnen bewegen, gar nichts. Trinken Sie erst mal ein Glas Wasser, so, jetzt noch eins, und nun machen Sie gefälligst zehn Minuten Pause.”

Aber schon nach fünf Minuten übte er weiter, er ging mit Erlaubnis des Feldwebels eine halbe Stunde später zu Bett als die übrigen, und als Sergeant Haase am nächsten Morgen als Unteroffizier vom Dienst über den Korridor ging, um zu wecken, stand Meier schon wieder vor dem großen Spiegel und übte bei dem kärglichen Licht der Flurlampen.

Es war halt nichts, und es wurde halt auch nichts.

In der Brust des Sergeanten regte sich aufrichtiges Mitleid, und, von dem Wunsch geleitet, seinem Untergebenen die Angst und Unruhe zu nehmen, sagte er schließlich zu ihm: „Jetzt können Sie den Griff; nun aber stellen Sie das Gewehr fort.”

Das war mehr als eine fromme Lüge, aber sie erreichte ihren Zweck; ein wahrhaft glückseliges Lächeln flog über Meiers Züge, und voller Ruhe sah er dem Nachmittag entgegen.

Und die Prüfung begann. Der Hauptmann hatte davon gehört, wie Meier sich abgequält hatte, und es schon bedauert, diese Forderung gestellt zu haben, auf der andern Seite aber hatte er im Interesse der Subordination und Disziplin den Sergeanten nicht bloßstellen können. Er hatte sich vorgenommen, ein mehr als milder Richter zu sein und hatte alle Zuschauer weggeschickt. Nun lehnte er am Fenster seinem Untergebenen gegenüber.

„Na, Meier, nun zeigen Sie mal, was Sie können.”

Aber Meier konnte gar nichts; er zitterte so, daß er das Gewehr gar nicht von der Erde bekam.

Der Hauptmann bemerkte das anscheinend gar nicht, er sah zum Fenster hinaus.

„Haben Sie schon ,Gewehr über' genommen, Meier?” fragte er endlich, ohne sich umzusehen.

„Nein, noch nicht, Herr Hauptmann.”

„Na, dann tun Sie es.”

Und Meier tat es. Er hatte schon viele schlechte Griffe gemacht in seinem Leben – – einen so schlechten wie jetzt noch nie; das Gewehr schien ihm hundert Pfund und mehr zu wiegen, er bückte sich mit dem ganzen Oberkörper, um es zu heben, und als er es endlich auf die Schulter schob, da stieß er sich den Helm hinunter, daß dieser laut polternd auf die Erde fiel.

Meier glaubte sterben zu müssen, sein Herz drohte ihm stillzustehen, jeder Blutstropfen wich aus seinem Gesicht – – nun war es aus, nun war doch alle Mühe umsonst gewesen. Er wagte nicht zu atmen, mit starren Augen blickte er den Vorgesetzten an.

Der stand immer noch am Fenster und sah auf den Kasernenhof; er hatte sich vorgenommen, den Griff zu loben, wenn er fertig war, die Gewehrlage als gut zu bezeichnen, sobald Meier das Gewehr auf der Schulter hatte. Da hörte er den Helm auf die Erde fallen. „Von dem Griff darfst du gar nichts gemerkt haben,” sagte er sich; „loben kannst du ihn nicht, und wenn du ihn nicht lobst, werden die andern Griffe noch schlechter, und dann kannst du Meier nicht auf Urlaub gehen lassen. Es gibt nur eins: du mußt Meier Gelegenheit geben, heimlich seinen Helm wieder aufzusetzen, und dann muß die Sache von vorne wieder anfangen.”

„Warten Sie einen Augenblick – – in zwei Minuten bin ich wieder da.” Und ohne Meier auch nur mit einem Blick zu streifen, ging er in das Zimmer des Feldwebels.

Aber als er bald darauf wieder auf den Korridor trat, stand Meier noch genau so da, wie vorhin, in strammer Haltung, das Gewehr auf der linken Schulter. Und der Helm lag noch auf der Erde.

Der Hauptmann war starr; das hatte er nicht erwartet, der Mann machte es ihm ja geradezu unmöglich, ihn auf Urlaub zu schicken, und so sagte er denn mit dem Brustton tiefinnerster άberzeugung: „Meier, nehmen Sie es mir nicht übel, Sie sind ein Schafskopf, warum haben Sie denn keinen Helm auf?”

Da sah Meier den Vorgesetzten fest an und sagte: „Ich habe den Herrn Hauptmann nicht belügen wollen; ich glaubte, der Herr Hauptmann hätten es nicht gesehen, daß ich mir den Helm vorhin vom Kopf gestoßen habe.”

„Sie können gehen, ich habe genug gesehen.”

Das war alles, was der Vorgesetzte sagte. Ganz bedrückt schlich Meier davon, und als er in die Stube kam, fragten die Kameraden gar nicht erst, wie die Prüfung ausgefallen sei, sie sahen es seinem Gesicht an.

Als vierundzwanzig Stunden später die Urlaubskarten ausgeteilt wurden, traute Meier seinen Augen nicht, als auch er einen Paß erhielt – – so war sein Griff also doch gut gewesen? Grenzenlose Freude erfüllte ihn, und mit schnellen Schritten eilte er am Nachmittag seinem nur zwei kurze Wegstunden entfernten Heimatsdorfe entgegen. Er ging, so schnell er konnte, und wenn er trotz der Sehnsucht, die ihn nach Haus trieb, von Zeit zu Zeit stehen blieb, dann geschah es nur, um über eine Sache nachzudenken, die ihm absolut nicht in den Sinn wollte. Bei dem Abschiedsappell war der Hauptmann an ihn herangetreten und hatte ihm, als einzigen von der ganzen Kompagnie, die Hand gegeben – – ihm, dem Krümmsten der Krummen!

Und er begriff absolut nicht, wie der Hauptmann dazu gekommen war.


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© Karlheinz Everts