Von Freiherrn von Schlicht.
in: „Neue Hamburger Zeitung” vom 26.10.1901 und
in: Der höfliche Meldereiter.
Exzellenz hatte sich in der Grnison, in der ein Infanterieregiment stand, angesagt; er hatte dort in seiner Eigenschaft als Gerichtsherr zu tun und wollte die Gelegenheit benutzen, um sich das Regiment einmal im Detailexerziren anzusehen. Der hohe Herr entschied sich zu dieser Art der Besichtigung, einmal, weil seine Zeit es ihm nicht erlaubte, mit der Truppe nach dem großen Exerzierplatz abzurücken, zweitens, weil der Kasernenhof zu großen Evolutionen keinen Platz bot, dann aber auch, weil er sich richtig sagte — auch Exzellenzen irren sich manchmal nicht — also weil er sich sagte: wer im kleinen nichts leistet, leistet auch im großen nichts.
Drei Tage hatte man noch bis zum Eintreffen Sr. Exzellenz, und während dieser Zeit ging ein Regen nieder auf dem Kasernenhof: ein Regen von Flüchen und Verwünschungen.
Alle fluchten; die einen laut, die anderen still, und alle verwünschten sich gegenseitig: die Vorgesetzten die Untergebenen, die Untergebenen die Vorgesetzten, und alle zusammen Se. Exzellenz.
Aber Verwünschungen haben beim Militär noch nie etwas geholfen. Und das ist für die kleinen Mädchen auch ganz gut, denn sonst gäbe es schon lange keine Armee und keine Leutnants mehr.
Alle fluchten, am meisten aber fluchte der Sergeant Haase, und nicht ohne Grund: der hatte in seinem Exerziergliede den Musketier Meier, und der war im ganzen Regiment wegen seiner Dummheit berühmt und gefürchtet. „Selbst Castan stellt Sie in seinem Panoptikum nicht aus,” sagte Herr Haase einmal zu seinem Zögling, „denn wenn die Leute kommen und Sie bewundern, dann würden sie plötzlich Kehrt machen, davonlaufen, ihr Entree zurückverlangen und mit lauter Stimme würden sie rufen: ,Das ist Schwindel, so etwas von Dummheit, wie sie hier in dem Meier verkörpert ist, gibt es ja gar nicht.'”
Und wenn Sergeant Haase seinem geplagten Herzen Luft machte, dann lächelte Meier — es war das Lächeln eines stumpfsinnigen Idioten, das dem Vorgesetzten das Blut aus der großen Zehe in den Kopf steigen und ihn seine Hände ganz tief in die Hosentaschen vergraben ließ. „Meier,” stöhnte Haase dann, „Meier, ich bin ein guter Mensch, ich habe ein Kindergemüt und lasse mir lieber durch zahllose Fliegen den Mittagsschlummer rauben, als daß ich es fertig brächte, auch nur eins dieser Tiere zu töten. Ich habe noch nie einem Menschen etwas Böses gewünscht, aber wenn Sie lachen, Meier, dann ist es mit mir aus, dann kenne ich mich selbst nicht mehr. Der selige Schiller hätte Sie kennen sollen, dann hätte sich bei ihm die Milch der frommen Denkungsart noch in etwas ganz anderes als in gärend Drachengift verwandelt. Meier, tun Sie mir die einzigste Liebe und lachen Sie nicht, der Soldat darf überhaupt nur dann lachen, wenn ein Vorgesetzter einen Witz gemacht hat — Sie dürfen aber auch dann nicht lachen, denn Ihr Lachen ist der geistige Tod.”
Auf diese letzte Redensart war Sergeant Haase sehr stolz, obgleich er selbst nicht wußte, was sie bedeutete. Im übrigen war er wegen seines Untergebenen oft ganz verzweifelt, und eines Abends schloß er sich in seine Stube ein, ließ sein ganzes bisheriges Leben an seinem Geiste vorüberziehen und fragte sich immer und immer wieder: „Habe ich eine Schuld auf mich geladen, die so groß ist, daß ich sie mit diesem Meier büßen muß?” Und immer wieder kam er zu der Erkenntnis und der Überzeugung: „Nein, ich habe diese Strafe nicht verdient.”
Meier war nicht zum Soldaten geschaffen, bei dem Exerzieren in größeren Verbänden fiel er entweder auf oder um, das letzere nicht deshalb, weil er etwa schlapp wurde, sondern weil er immer falschen Tritt hatte. Wenn sein Hintermann das linke Bein hob, hob er selbst das rechte, er bekam dann den Kommißstiefel seines Kameraden in die linke Kniekehle, und wenig später lag Meier seiner ganzen Länge nach auf der Nase. Und dann hieß es stets: „In welchem Gliede steht der Meier — wer ist sein Unteroffizier?” Und das war und blieb der arme Sergeant Haase, und der Oberst und der Major, und der Hauptmann und der Leutnant wurden dem Sergeanten dann immer von neuem grob und ermahnten ihn immer wieder, endlich aus dem Meier einen Soldaten zu machen.
„Verlangt von mir, was Ihr wollt, nur nichts Unmögliches,” stöhnte Haase — dann aber tat er doch seine Pflicht und nahm sich den Meier besonders vor.
Auch jetzt stand er mit seinem Zögling abseits von den anderen und brachte ihm die Chargierung, das Laden des Gewehrs bei, oder richtiger gesagt: er versuchte, sie ihm beizubringen — sie wurde immer wieder falsch. „Meier,” sagte Haase, „ich schwöre es Ihnen, ich will es keinem anderen Menschen verraten, aber vertrauen Sie es mir unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit einmal an, was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, als Sie geboren wurden? Haben Sie den überlegten Schritt wenigstens schon einmal ernstlich bereut? Rückgängig können Sie ja die Tatsache Ihrer Geburt leider nicht mehr machen, zurückkehren nach dem Ort, von dem Sie ausgegangen sind, können Sie ja nicht, aber wenn Sie mir sagen, daß es Ihnen leid tut, auf der Welt zu sein, dann will ich Nachsicht mit Ihnen haben und Ihnen noch einmal die Chargierung zeigen.”
Aber es half wieder nichts. „Meier,” klagte Haase, „Sie sollen mit der rechten Hand unterhalb des Gewehres nach der Patronentasche greifen, nicht oberhalb — unterhalb, mein Sohn, was unten und was oben ist, werden Sie doch noch wissen. Wo die Füße sitzen,ist unten, wo andere Leute ihren Kopf haben, ist oben, und nur, wenn einer auf dem Kopf steht, ist die Sache umgekehrt. Und dann sollen Sie den Patronenrahmen mit Daumen und Zeigefinger herausnehmen, nicht mit der ganzen Müllschippe, nicht mit der ganzen Hand. Meier, können Sie das denn nicht begreifen? Nehmen Sie es mir nicht übel, obgleich Sie als Untergebener gar nicht dazu berechtigt sind, mir, Ihrem Vorgesetzten, irgend etwas übel zu nehmen, aber nehmen Sie es mir trotzdem nicht übel, ich muß es Ihnen endlich einmal sagen: Sie sind zu dumm! Das ist zwar bitter, wie die Wahrheit es fast immer ist, aber das läßt sich nun einmal nicht ändern: der Wahrheit die Ehre.”
Und die beiden Worte „zu dumm” klangen in den Tagen, bis Exzellenz kam, stündlich zu ungezählten Malen an Meiers Ohren: zuerst sagte sie der Sergeant Haase, dann der Feldwebel, dann die Leutnants der königlich fünften Kompagnie, bei der Meier stand, dann der Hauptmann, und schließlich sagten es ihm seine Stubenkameraden und die anderen Leute der Kompagnie. Sie sagten es alle, und sie sagten es so lange, bis Meier es selbst glaubte, und das war der sicherste Beweis seiner Dummheit, denn nur ganz Dumme glauben, was ihnen beim Militär gesagt wird.
Der große Tag, der Exzellenz bringen sollte, kam und brachte dann auch den hohen Vorgesetzten, der, um den Glanz seiner Persönlichkeit zu erhöhen, seinen ganzen Stab mitbrachte. Wie er sich vorgenommen hatte, ließ er sich das en détail-Exerzieren zeigen, er lobte gar nichts, er tadelte alles, er wollte einmal zeigen, wie schwer es ist, die Anerkennung einer Exzellenz zu finden.
Schön war es bei allen Kompagnien nicht, am besten verhältnismäßig noch bei der fünften. „Ich müßte lügen,” sagte Exzellenz, „wenn ich behaupten wollte, daß mir das, was ich sah, gefallen hat, im Gegenteil, es muß noch ganz, ganz anders werden. Aber eins muß ich anerkennen: im Gegensatz zu den anderen Kompagnien ist bei der fünften nicht ein einziger Mann, der durch besondere Dummheit oder Ungeschicklichkeit auffällt, die Leute sind alle gleichmäßig gut oder alle gleichmäßig schlecht ausgebildet, je nachdem man es auffaßt.”
Verwundert sahen die anderen Häuptlinge bei diesen Worten Sr. Exzellenz den Chef der königlich Fünften an; wie hatte der denn das Kunststück fertig gebracht, seinen berühmten Meier so weit zu bringen, daß er nicht unangenehm auffiel?
Ja, was war mit Meier? Als der am Morgen frisch und gesund wie immer aufstand, war Sergeant Haase auf ihn zugetreten. „Aber Meier, wie sehen Sie denn aus? Was fehlt Ihnen nur? Sie sind krank, Sie müssen sofort zum Arzt.”
Und ehe Meier wußte, wie ihm geschah, faßte der Unteroffizier vom Dienst ihn plötzlich am Arm und führte ihn in die Revierstube, wo der Assistenzarzt seines Amtes waltete.
„Aha, das ist also der Meier,” sagte er, als der Unteroffizier den Kranken vorstellte — dann wurde Meier beklopft und behämmert, dann mußte er einen großen Löffel Rizinusöl einnehmen, und als sich nach einer Viertelstunde dessen Folgen bemerkbar machten, konstatierte der Arzt einen total verdorbenen Magen, und Meier wurde zu Bett gebracht.
Da lag er nun mit seinen Kenntnissen, die Sergeant Haase ihm vergebens beizubringen versucht hatte, und während das Rizinusöl in seinem Magen rumorte, gab er sich die größte Mühe, den Namen seiner Krankheit auswendig zu lernen: der stand mit Kreide geschrieben auf der kleinen schwarzen Tafel, die an seinem Bett befestigt war, denn jeder, der beim Militär krank ist, muß auch wissen, was ihm fehlt, damit er auf Befragen Rede und Antwort stehen kann.
Da öffnete sich plötzlich die Tür, und Exzellenz, der auch die Kasernenräume besichtigte, trat, gefolgt von seiner Suite und den Stabsoffizieren und Hauptleuten des Regiments in die Revierstube. Diensteifrig eilte der wachhabende Sanitätsoffizier herbei und meldete: „Die Revierstube ist belegt mit 10 Mann.”
Exzellenz winkte ab und trat dann an die einzelnen Betten, um die üblichen teilnehmenden Fragen zu stellen: „Was fehlt Ihnen? Wie lange sind Sie schon krank? Wann werden Sie wieder gesund werden?”
Der Teufel mußte den Assistenzarzt geritten haben, daß er den Meier gerade in jenes Bett packte, das der Tür am nächsten stand, und so trat Exzellenz zuerst an dieses heran. Der Hauptmann der königlichen Fünften sah es mit Schrecken, denn nun hatte er keine Zeit mehr, den Untergebenen zu instruieren, wie er sich zu benehmen hatte.
„Seit wann sind Sie krank?” fragte der hohe Herr möglichst teilnehmend.
„Seit heute morgen,” lautete die prompte Antwort.
Exzellenz machte ein ungnädiges Gesicht. Daß der Mann sich gerade heute krank gemeldet hatte, gefiel ihm absolut nicht, denn Besichtigungstage sind Festtage, sollten es wenigstens sein, und diesen geht kein pflichtgetreuer und braver Soldat aus dem Wege.
„Was fehlt Ihnen denn?” fragte Exzellenz weiter.
Meier war zwar dumm, aber doch nicht so dumm, um nicht inzwischen begriffen zu haben, daß er nur auf höheren Befehl krank war. So richtete er sich denn in seinem Bett auf, legte unter der Decke die Hände vorschriftsmäßig an jene Stelle der nackten Beine, an der, wenn sie bekleidet sind, die rote Biese sitzt und gab auf die Frage nach seiner Krankheit einfach zu Antwort: „Ich bin zu dumm!”
Tiefstes Schweigen folgte diesen Worten. Mit großen, starren Augen sahen alle verwundert den Musketier Meier an, und nicht ohne Grund: sie lernten in ihm den ersten Menschen kennen, der beim Militär offen und ehrlich seine Dummheit eingesteht.
Selbst Exzellenz bewunderte ihn, und sie alle, die um sein Bett herumstanden, nahmen sich fest vor, seinem Beispiel nicht zu folgen.