Von Freiherr von Schlicht.
in: „Das kleine Journal”, Nr. 231 vom 24. Aug. 1895 und
in: „Türke und Stachelschwein”
Frühmorgens, wenn die Hähne kräh'n, |
Daß diese Verse, die wir eines Morgens auf dem Marsche dichteten, als wir um drei Uhr aufgestanden waren und dem anrückenden Feind und der Sonne entgegen marschirten, nicht schöner wurden, als sie es sind, lag einestheils an der Katerstimmung, in der wir uns befanden, andererseits aber an dem Gelände, durch das der Heerbann einherzog und das so nüchtern war wie — wie — na, sagen wir, wie wir es am Abend vorher nicht gewesen waren.
Unter „Gelände” versteht der Soldat, was der Civilist „Natur” nennt. Eine Ebene mit blühenden und grünenden Feldern, ein schattiger Buchenwald, ein mehr oder weniger großer See ist für jeden Wanderer — ausgenommen sind natürlich die Bergfexe — der Inbegriff aller Seligkeit und voller Freude greift er zur Labeflasche, um sich von den Anstrengungen zu erholen, die ihn die Erschaffung dieses schönen Stückchens Erde gekostet hat.
Der Soldat ist anderer Ansicht: für den ist eine endlose Heide, auf der sich die Schützenlinien entwickeln können, ein wundervolle Gelände, und je hügeliger dieselbe ist und je mehr Sandkuhlen sie in sich birgt, in denen man unbemerkt Reserven und Unterstützungstrupps aufstellen kann, desto wundervoller wird sie.
Wir zogen durch eine Heide, die größer war als die Lüneburger und in der es heißer war wie in der Sahara, denn der böse Feind, den wir erwarteten, kam nicht, wohl aber die Sonne, die früh aufstand, früher, als es uns lieb war, und uns nun Beweise ihres Daseins gab, daß uns die Augen übergingen. Schrecklich, wie verschieden die Ansichten sind. Der Städter geht, wenn die Sonne scheint, in seinen Garten hinab, setzt sich in seine Laube und singt voll Freude und Inbrunst mit mehr oder weniger Stimme: „Scheint die liebe Sonne so hold und schön”, und der Soldat, der mit sechzig Pfund Gepäck auf dem Rücken im Schweiße seines Angesichts einherzieht, verwünscht das Himmelslicht nach allen Weltgegenden, nur nicht nach der, in der er sich gerade auf Befehl seiner Vorgesetzten befindet.
„Auf Befehl seiner Vorgesetzten”, das ist es ja eben; ob es überhaupt Manöver gäbe, wenn die Vorgesetzten nicht existirten? Ich glaube, freiwillig ginge Keiner fort, und wenn eines Tages die Betheiligung an dem Manöver einem Jeden überlassen würde, so würde die Betheiligung, falls überhaupt eine stattfände, eine sehr, sehr geringe sein. Denn viel Arbeit, Angst und Schrecken faßt das eine Wort „Manöver” in sich.
Amüsiren — so weit das Wort gestattet ist — thut sich nur der Musketier. Der hängt sich morgens stillvergnügt oder laut fluchend — die Charaktere sind ja verschieden — seine Bundeslade auf den Buckel und marschirt instinktiv dahin, wohin er soll. Wenn er Morgens ausrückt, freut er sich schon auf den Moment, wo er in das Quartier zurückkehrt und in dem ihn seine Bertha oder Anna mit Sehnsucht erwartet. Er ist weit weg von seiner Garnison, die Guste merkt es ja nicht, warum soll er sich da nicht — natürlich nur in allen Ehren — für die Zwischenzeit eine kleine Braut anschaffen? Es wird ihm ja so leicht gemacht, er sieht sie an, sie sieht ihn an, er sagt nichts, sie sagt nichts, und Abends, wenn es dunkel ist, treffen sie sich hinter dem Kuhstall und herzen und küssen sich — natürlich in allen Ehren — und bilden sich Beide ein, daß sie sich treu und innig lieben. Innig mag sein, ob aber auch treu?
Der Unteroffizier betrachtet die Liebeleien seiner Untergebenen strengen Blickes; nach seiner Meinung haben die Kerls bei den Mädels viel zu viel Glück, ein preußischer Unteroffizier ist schließlich doch auch nicht zu verachten und er hätte, wenigstens nach seiner Meinung, nach des Tages Mühen und Lasten ein süßes Wort aus einem süßen Mund verdient. Denn der Unteroffizier hat es im Manöver nicht leicht, ist er gar „Korporalschaftsführer”, so trägt er sich jede Stunde wenigstens 3600 Mal mit Selbstmordgedanken. Auch bei den Uebungen selbst wird ihm scharf auf die Finger gesehen, daß er keinen Unsinn irgendwelcher Art macht; da soll er zeigen, was er in der Garnison gelernt hat, ach, das ist manchmal recht herzlich wenig, und er betet zu allen seinen weiblichen Heiligen, wenn er einen „selbständigen” Auftrag bekommt. „O heilige Elisabeth!” flüstern seine Lippen dann und er gedenkt mit schmerzlicher Sehnsucht der bei ihr verlebten frohen Abendstunden. Und nun muß er hier ganz allein auf weiter Heide selbständig handeln, hat Niemanden, der ihm hilft oder der seine ermüdeten Glieder stärkt — und doch muß er nach besten Kräften seinen Auftrag zu erfüllen suchen, wenn er sich nicht der Gefahr aussetzen will, daß sein Hauptmann Mittags bei der Kritik zu ihm sagt: „Mein Lieber, Sie haben mir heute Morgen wieder von Neuem bewiesen, daß Sie bei der Erfindung des Pulvers im Zimmer nebenan gesessen haben; solche Unteroffiziere kann ich bei meiner Kompagnie nicht gebrauchen, am ersten Oktober ist Ihre Kapitulation abgelaufen, Sie können sich dann nach einer anderen Beschäftigung umsehen, ich danke fortan für Ihre Dienste!”
Das ist hart und bitter, läßt sich aber nicht ändern, denn persönliche Rücksichtnahme muß der Rücksicht auf den königlichen Dienst weichen.
„Der Tadel gilt nie der Person, sondern stets nur der Sache,” lautet ein altes militärisches Sprichwort. Oft sind, wie das obige Beispiel zeigt, diese beiden Begriffe schwer oder gar nicht von einander zu trennen, dennoch aber ist dieses Wort der stetige Trost des Lieutenants, wenn er im Manöver „einen hineingewürgt bekommt”. Und das kommt öfter vor, als man glaubt! Ein Lieutenant wäre ja eben kein Lieutenant, wenn er keine Dummheiten machte. Aber wozu hat der Mensch zwei Ohren? Doch lediglich, damit aus dem anderen Ohr hinausgeht, was in das eine Ohr hineingeht. Ihm ist jeder Tadel „riesig schnuppe”, „ihm kann Keiner”, wegen Dummheit hat noch kein Mensch als Lieutenant den Abschied bekommen, und was später wird — na, da ist es immer noch Zeit genug, daran zu denken, wenn man so weit ist. Darum lebt er lustig und guter Dinge in den Tag hinein, Sorgen hat er auch, aber Gottlob keine, die ihm das Leben ernstlich zu verbittern vermöchten, und so ist er nächst dem Musketier der einzig Glückliche im Manöver. Auch er läuft dahin, wohin er befohlen wird, ohne sich weiter Gedanken darüber zu machen, ob seine Partei siegt oder die des Gegners, das rührt sein Herz wenig. Ihm kommt es nur darauf an, daß der „Rummel” möglichst bald ein Ende hat, denn zu Hause wird er von seiner Quartierwirthin mit dem Frühstück erwartet. Und nur sehr ungern läßt er auf sich warten, einmal weil dies der Anstand verbietet, dann aber auch, weil sein Magen nach Speise und Trank schreit. Deshalb wird er auch sehr oft zornig und ungerecht und giebt seinen Vorgesetzten, wenn sie das Gefecht nicht früh genug für ihn abbrechen, die zärtlichsten Namen und sein Schimpfen über den Leitenden endet stets mit den Worten: „Der Kerl hat ja keine blasse Ahnung.” Und das Schelten wird um so lauter und ungerechter, je mehr er sich nach Hummer und Sekt sehnt; aber wenn er endlich im Qaurtier angelangt ist und das erste Glas getrunken hat, wird er bald wieder milde und versöhnt. „Im Grunde seines Herzens ist der Leitende doch ein ganz guter Kerl!” murmelt er vor sich, während er zusieht, wie seine Wirthin ihm ein neues Glas einschenkt, und während er den perlenden Wein hinunterschlürft, denkt er: „Es ist doch schön, Soldat zu sein.”
Sein Hauptmann, der ihm beim Frühstück gegenübersitzt, vermag die Sorgen, die ihn bedrücken, nicht so schnell zu verscheuchen und zu verjagen. Heute Morgen ist seine Kompagnie abermals getadelt worden — schon zum zweiten Mal innerhalb dreier Tage — und er hat bei der Kritik manch böses Wort zu hören bekommen. „Warum soll denn das absolut falsch gewesen sein, was ich gemacht habe,” denkt er. „Der Vorgesetzte ist doch auch nur ein Mensch, nicht mal für unfehlbar erklärt wie der Papst, sollte er wirklich immer recht haben?” Da fällt ihm der alte Spruch ein: „Der Vorgesetzte hat immer recht, denn er hat stets das höchste Gehalt.” Dieser Logik muß er sich, wenn auch widerwillig, fügen — er ist rasend vor Wuth gewesen heute Morgen bei der Kritik, an Alles hat er gedacht, an Beschweren und Abschiednehmen: mag die Armee ohne mich groß werden, ich habe keine Lust, mir jeden Tag Grobheiten sagen zu lassen, als wenn ich ein Schulbube wäre — so denkt er in der ersten Erregung. Aber er hat Pflichten gegen die Seinen — was soll aus ihm, seiner Frau und seinen Kindern werden, wenn sie ihn jetzt schon „in die Wurst thun”? Vermögen hat er nicht mehr, was er besaß, ist aufgezehrt worden in der langen goldenen Lieutenantszeit, wo das Gehalt nur einmal um wenige Groschen steigt — nein, noch darf er nicht abgehen, Major muß er noch werden, dann hat er wenigstens eine Pension, von der er bei bescheidenen Ansprüchen leben kann. „Ob sie mich wohl noch so lange in Amt und Würden lassen?” denkt er und laut spricht er vor sich hin: „Ich wollte, dieses verwünschte Manöver wäre erst zu Ende.”
Und denselben Gedanken hat der Herr Major, der wenige Häuser von dem fluchenden Hauptmann einquartiert ist. Der Herr Major ist vorgestern mit seinem Bataillon auf Vorposten gewesen und hält nun in seinen Händen den Vorpostenbefehl, den er bei der Gelegenheit erlassen und der ihm nun korrigirt und mit einer niederschmetternden Kritik zurückgesandt worden ist. Als er am Abend die Vorpostenstellung abgeritten war, hatte ihn ein stolzes und glückliches Gesicht(1) der Zufriedenheit durchdrungen und unwillkürlich waren ihm die Worte der Schrift eingefallen: „Und als der Herr sein Werk besah, fand er, daß Alles vollkommen war.” Aber der nächtliche Angriff des Feindes hatte ihm bewiesen, daß doch nicht Alles ganz vollkommen gewesen war, der Gegner hatte die Postenkette durchbrochen und war mit „Marsch marsch — Hurrah” über die schnell alarmirten Truppen einhergefallen. Der Herr Major hatte kläglich Fiasko gemacht und ihm wollte das Bild aus den „Fliegenden Blättern” nicht aus dem Sinn, auf dem zwei Stabsoffiziere nach beendeter Kritik in strömendem Regen nach Hause reiten und der Eine zum Andern sagt: „Zum Abschiednehmen just das richt'ge Wetter!”
Ganz so schlimm sieht es für den Herrn Oberstlieutenant noch nicht aus, denn der große Tag kommt für ihn noch. Einmal muß er den Bestimmungen gemäß im Manöver das Regiment führen, da muß er zeigen, ob er befähigt ist, Regimentskommandeur zu werden, oder ob er fortan sein Leben als Bezirkskommandeur zubringen soll. Ginge es nach seinem Willen, so wählte er natürlich das Erstere, aber leider haben andere Herren da auch noch ein Wort, und zwar nicht das geringste, mitzusprechen. Bei dem Gedanken an das, was noch kommt, wird ihm doch etwas ängstlich zu Muthe, obgleich er sich im letzten Feldzug wegen Tapferkeit das eiserne Kreuz verdient hat, und auch er seufzt: „O wär' es erst vorüber, o wär' es erst vorbei!”
Der Herr Regimenstkommandeur bemerkt es, wie seinem „etatsmäßigen” zu Muthe ist. Mit einem leichten Scherzwort flößt er dem Zaghaften neuen Muth ein, und doch ist er zu allem Anderen eher als zum Scherzen aufgelegt. Ihm winken die Generalsstreifen, aber sie winken auch nur, vorläufig hat er sie nur beim Schneider gleichzeitig mit einem neuen Civilanzug bestellt — man kann nie wissen, wie solch ein Manöver abläuft, der weise Mann baut vor. Er ist etwas abergläubisch, und seitdem ihm vor einigen Tagen geträumt hat, daß er kürzlich einen Lieutenant auf der Straße wegen unerlaubten Civiltragens zur Rede stellte und dieser ihm antwortete: „Ich lasse mich von keinem Civilisten zur Rede stellen, höchstens von einem Vorgesetzten und auch das nur widerwillig!” ist das Vertrauen zu sich und seinem Können etwas gesunken. Zwar ist der Brigadekommandeur ein sehr wohlwollender Herr, aber es geht das Gerücht, er wolle „aus Gesundheitsrücksichten” demnächst gehen; was das „aus Gesundheitsrücksichten” heißt, weiß Jeder, der einmal den bunten Rock anhatte.
Im Gegensatz zu dem Brigadier erfreut sich der Herr Divisionskommandeur einer eisernen Gesundheit. Fünf Jahre hat er nun schon die hohe verantwortliche Stelle inne und immer noch ist er gesund. Es fehlt ihm nicht an Feinden und Neidern.
„Die alte Exzellenz könnte nun nachgerade auch einmal daran denken, zu verschwinden,” brummt da ein Brigadekommandeur, der nun schon seit Jahr und Tag auf eine Division wartet, „ich weiß gar nicht, was der Alte noch will, mit der Pension, die er bekommt, kann er doch zufrieden sein, was will er noch?”
Die alte Exzellenz läßt ihre Neider ruhig reden, sie weiß ganz genau, was sie will und worauf sie wartet: kommandirender General zu werden, ist ihr sehnlichster Wunsch. Aber nicht jede Exzellenz kann ein Armeekorps bekommen, auch da gilt das Wort: „Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt!” Gar manche Exzellenz küßt, wenn sie in das Manöver geht, der Gattin zärtlich die Stirn und spricht zu ihr: „Leonore, wenn ich heimkehre, bin ich kommandirender General!” Stolzen Hauptes schreitet er von dannen, aber wenn er wiederkommt, ist er klein, ganz klein, und wenn die Theure ihn besorgt fragt: „Dir ist doch wohl, mein Gatte, Du siehst so blaß?” dann lächelt er schmerzlich und spricht: „Es wär' zu schön gewesen — gebt mir 'nen Becher Wein.”
Sicher, ganz sicher ist nur Se. Exzellenz der kommandirende Herr General: er hat Niemanden über sich, der ihn zum Abschiedeinreichen veranlassen könnte, und wenn Se. Majestät ihn dennoch eines Tages entläßt, so sprechen dafür vielleicht tausend Gründe, aber schwerlich Mangel an militärischem Wissen.
So ist das Manöver für Jeden eine Prüfung, die nicht nur auferlegt wird, sondern die man auch bestehen soll — aus der Schulzeit weiß ein Jeder, wie Einem da zu Muthe war, ich wenigstens schlief acht Tage vorher nicht. Hatte man aber wider erwarten die Prüfung bestanden, ha, wie freute man sich, und das Erste war, daß man sich „eine kalt stellte”, ach, wie war das schön — scheußlich aber ist es, wenn eine Prüfung so ausfällt, daß man selbst kaltgestellt wird.
Freiherr von Schlicht.
(1) In der Buchfassung: „Gefühl”. (zurück)