Lübecker Eisenbahn-Zeitung

Nr. 28 2. Februar 1893 Seite 2

Die Maibowle.

Von Graf Günther Rosenhagen


Über dem Kasernenhof lagerte ein Gewitter. Der Herr Major, sonst ein ruhiger, freundlicher und wegen seines Humors überall beliebter Herr, hatte heute an jedem Einzelnen etwas zu tadeln und auszusetzen und als unglücklicherweise der Bataillonsschreiber sich auf dem Platze zeigte, fuhr der Herr Major den Armen an, daß Jeder sich verwundert fragte: "Um Gottes Willen, was hat denn der nur heute?"

"Sie, ich wünsche den Herrn Lieutenant von Blasewitz sofort zu sprechen," hörten wir den Major dem Schreiber zurufen - damit war das Räthsel gelöst.

Blasewitz war der Adjutant des Bataillons, ein ungemein heiterer, leichtsinniger, aber wegen seines nie versagenden Witzes an allen Orten gern gesehener Mensch. Mit seinen dienstlichen Geschäften nahm er es nicht so genau, jeder Vorgesetzte wußte dies; aber Blasewitz hatte, wie man so zu sagen pflegt, mehr Glück als Verstand. Mit seinen tollen Streichen, die manchem Andern den Hals gekostet hätten, kam er stets durch und wenn eine abenteuerliche Geschichte von ihm in der Stadt kursirte, so hieß es als Entschuldigung: "Ach, der Blasewitz, das ist Einer, dem man nichts übel nehmen darf; der ist nun einmal anders als die Übrigen!"

Mit seinem Brodherrn, dem Herrn Major, hatte er sich bisher recht gut gestanden; noch im letzten Augenblick zog er sich aus der Schlinge oder verjagte durch eine witzige Bemerkung den Zorn des Vorgesetzten.

"Hat denn niemand den Herrn von Blasewitz gesehen?" wandte sich der Major an uns. "Ich muß ihn nothwendig sprechen, ganz nothwendig" - und seine Augen funkelten und die Spitzen seines langen Schnurrbartes zitterten in solcher Erregung, daß wir alles thaten, um den guten Blasewitz möglichst fern zu halten.

"Der Adjutant ist vor etwa einer halben Stunde nach dem Scheibenstande hinausgeritten; vor einer bis anderthalb Stunden kann er nicht wieder hier sein," log einer von uns auf gut Glück.

Der Major ging von dannen.

"Sollte der Herr Lieutenant zurückkommen, so schicken Sie mir ihn bitte sofort aufs Bureau, sofort!"

Wir standen noch in einer Gruppe zusammen, besprachen den Fall, bedauerten den armen Kameraden und zerbrachen uns den Kopf darüber, was er wohl wieder angestiftet haben möge - da unterbrach uns plötzlich eine Stimme:

"Na, Kinder, bildet Ihr schon wieder Kasino, statt Euch um Eure Rekruten zu bekümmern?" Und in dem Ton des Majors fuhr er fort: "Herr Lieutenant von Heydorn, sehen Sie sich einmal den Marsch an, den Marsch, der muß nothwendig besser werden, ganz nothwendig, verstehen Sie mich?"

Ehe wir uns von unserm Erstaunen erholt hatten und bevor wir noch Zeit fanden, Blasewitz von dem Befehl des Kommandeurs in Kenntniß zu setzen, wurde auf dem oberen Korridor ein Fenster aufgestoßen und der Major wurde sichtbar.

"Blasewitz! Blasewitz! Ich muß Sie nothwendig sprechen, ganz nothwendig!"

"Herrjeh, was hat denn der?" fragte uns der also Gerufene.

"Nehmen Sie sich in Acht," flüsterten wir ihm zu, "er sucht Sie schon den ganzen Morgen, er ist entsetzlich wüthend!"

"Weiß schon weshalb," antwortete er uns; "aber laßt mich nur machen."

Der Major kam schon auf den Kasernenhof hinunter. Blasewitz blieb bei uns stehen, ohne sich zu rühren.

"Nun heißt es frech sein," raunte er uns zu, "frech wie Oskar."

Der Gestrenge kam auf uns zu, unbefangen und heiter lächelnd stand Blasewitz neben uns.

"Herr Lieutenant von Blasewitz, darf ich Sie fragen, ob Sie vielleicht meinen Anruf nicht gehört haben?"

"Ich bitte sehr um Verzeihung, Herr Major, aber ich erlaubte mir soeben, die Kameraden zu einer Maibowle zu heute Mittag einzuladen und wollte mir gehorsamst die Anfrage erlauben, ob der Herr Major sich vielleicht auch an der Bowle betheiligen würden?"

Maibowle - das Wort wirkte! In der Angst, die der arme Blasewitz innerlich ausstand, hatte er das Richtige gefunden. Maibowle! Das war ja das Lieblingsgetränk des Kommandeurs, da war er von den Seßhaften der Seßhafteste; hatte er doch einmal bei einem Liebesmahl im Scherz geäußert:

"Kinder, für eine rechte schöne Maibowle könnte ich ein Verbrechen begehen."

Der Major war sprachlos. Er war auf den Kameraden zugegangen, in der Absicht, denselben wegen eines sehr leichtsinnigen Streiches im Kreise der andern Offiziere ernsthaft zur Rede zu stellen, ihn zu verwarnen und auf die Folgen seines Leichtsinns aufmerksam zu machen. Im Begriff, den Mund zu öffnen, kam ihm der Adjutant zuvor und lud ihn zu einer Maibowle ein, stellte ihm das Schönste in Aussicht, was es für ihn auf der Welt gab. Was sollte er thun? Aus Dank für die freundliche Aufforderung den armen Menschen ausschelten und dadurch der Bowle verlustig gehen? Denn er konnte doch unmöglich schon einige Stunden später - auf Kosten des Getadelten trinken? - Und wenn er sich den Streich des Lieutenants in aller Ruhe überlegte, so war er auch nicht schlimmer als die andern, die unbestraft durchgegangen waren; schließlich: jung ist man doch nur einmal und die leichtsinnigsten Lieutenants werden häufig die ernsthaftesten Hauptleute. Also -

"Darf ich darauf rechnen, daß der Herr Major mir die Ehre erweisen werden" - unterbrach der Adjutant das Nachdenken seines Herrn.

"Gut, Blasewitz, ich werde sehen, daß ich mich frei machen kann. Aber lassen Sie die Bowle ordentlich ziehen, Sie wissen ja, wie ich sie gerne trinke."

Also noch einmal war der Sturm glücklich vorüber gezogen. Wir alle athmeten erleichtert auf und gingen nach Beendigung des Dienstes gemeinsam ins Kasino, wo wir durch eine Flasche Sekt den armen Kameraden für die ausgestandene Angst zu entschädigen suchten.

Die Mittagsstunde kam, wir waren vollzählig versammelt, selbst der Herr Major hatte sich freigemacht, d.h. er hatte von seiner gestrengen Hausfrau Erlaubniß erhalten, auszugehen. Alles war zur Stelle, das Essen war fertig - nur Blasewitz fehlte!

"Aber wo mag denn der nur sein?" fragte der Major; "es ist schon spät."

"Blasewitz ist eben noch in den Weinkeller gegangen, um nach der Bowle zu sehen," log der Tischdirektor. "Wenn der Herr Major vielleicht Platz nehmen wollen?"

Wir setzten uns zu Tisch. Die Suppe kam, auch das Zwischengericht war schon servirt, aber Blasewitz kam und kam nicht. Der Major besah sich von Zeit zu Zeit nachdenklich sein Glas, schielte nach dem leeren Platz hinüber, sagte aber nichts. Endlich, grade wurde der Braten aufgetragen, hörten wir auf dem Korridor Säbelgerassel und ein lustiges Pfeifen. Unter einem Vorwand erhob sich der Tischdirektor, ging zum Saal hinaus, stieß in der Thür mit Blasewitz zusammen und zog ihn auf den Korridor zurück:

"Menschenskind, was haben Sie nun wieder angerichtet? Erst laden Sie uns alle zur Bowle ein, der Major sitzt schon seit einer halben Stunde und wartet - und Sie kommen und kommen nicht!"

"Donnerwetter, das hab ich ja total vergessen und verschlafen," antwortete der äußerst Erschrockene. "Sie müssen mir helfen, die Bowle muß noch fertig werden - Reden und Verzagen hilft nichts!"

Gesagt, gethan. In aller Eile stiegen beide hinab in den Keller, der große Bowlentopf wurde herbeigeholt. Der Eine zog die Flaschen auf, der Andere entkorkte den Sekt. Eine Ordonnanz wurde fortgeschickt, um von dem gegenüber wohnenden Krämer soviel Bowlenessenz zu holen. als er irgend hatte, eine andere stürzte in den Garten, um mit Windeseile einige grüne Kräuter zu pflücken; dann wurde alles zusammen in den Topf gethan - und in fünf Minuten war die Bowle fertig!

Vollständig unbefangen betrat der Sünder den Saal.

"Ich muß sehr um Verzeihung bitten, Herr Major, aber das Ansetzen und Mischen der Bowle hat mich bis zu dieser Minute festgehalten. Ich glaube aber behaupten zu dürfen, daß sie jetzt selbst dem verwöhntesten Gaumen genügen wird."

"Na, mein lieber Blasewitz, dann lassen Sie das Getränk nur kommen, ich habe gerade den richtigen Durst."

Die Bowle erschien. Die Gläser wurden vollgeschenkt und die erste Schale dem Major überreicht.

Mit Kennerblicken führte er dieselbe an die Lippen, trank einen Schluck, setzte ab und trank wieder.

Keine von uns wagte aufzusehen, dem armen Blasewitz stand der Angstschweiß auf der Stirn und eine Todtenblässe bedeckte sein sonst so rothwangiges Gesicht.

Der Major setzte sein Glas auf den Tisch, schwieg eine ganze Zeit und endlich, für uns nach einer Ewigkeit, sagte er:

"Nicht übel, Blasewitz, wirklich nicht übel! Aber wissen Sie was, Blasewitz, nehmen Sie die Kräuter 'raus - die Bowle hat genug gezogen!"


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