Lorelotte.

Humoristisch-satirische Plauderei von Freiherr von Schlicht
in: „Wenn die kleinen Mädchen treu sind”


Fräulein Lorelotte, die schon seit zwei Jahren dem Stadttheater der großen Provinzialstadt als Naive angehörte und die, nach ihrem Geschmack schauderhafterweise, Fanny hieß, sich aber selbst auf den poetischen Bühnennamen Lorelotte umgetauft hatte, feierte ihren einundzwanzigsten Geburtstag, das heißt, eigentlich war es schon ihr fünfundzwanzigster, aber wen ging das außer dem polizeilichen Meldeamt und ihrem Direktor etwas an? Und selbst der letztere interessierte sich absolut nicht dafür, wie alt sie in Wirklichkeit war, sondern nur dafür, wie jung sie aussah. Und Lorelotte wußte, daß sie noch sehr jung aussah. Daß sie sich so hielt, daß sie eigentlich immer jünger wurde, war natürliche Veranlagung, denn sie half der Natur dabei in keiner Weise nach, das hatte sie glücklicherweise nicht nötig, und trotzdem sie bei der Bühe war, haßte sie die Schminke so, daß sie jeden Abend froh war, wenn sie sich abgeschminkt hatte, was man so jeden Abend nennt, denn jeden Abend hatte sie nicht zu tun, ihre Kolleginnen wollten ihr Können und ihren Wuchs auch einmal dem kunstverständigen Publikum der Stadt zeigen, in der stillen Hoffnung, daß ihre Kunst, oder ihr Wuchs, oder beides zusammen ihnen einen ebenso glühenden Freund und Verehrer einbrächte, wie sie den nun schon seit länger als einem Jahr in der Person ihres Egon hatte, der zwar über ziemlich große Mittel verfügte, aber nicht annähend so reich war, wie sie es stets ihren lieben Kolleginnen vorschwindelte, einmal, damit die sich immer aufs neue ärgerten und sie immer wieder beneideten, dann aber auch, weil die anderen es nicht zu wissen brauchten, daß sie ihren Egon in erster Linie eigentlich nur deshalb erhört hatte, weil sie sich in ihn verliebte. Was wußten die Kolleginnen von Liebe? Oder wenn doch, dann beanspruchten die die Liebe als Privileg für sich und lachten jede andere aus, die sich mit solchen nutzlosen Dingen abgab. Aber Lorelotte konnte nichts dafür, sie liebte ihren Egon tatsächlich, schon weil er Egon hieß, und sie liebte ihn, obgleich sie sich offen eingestand, daß es für eine junge hübsche Künstlerin mit nur zweihundertfünfundzwanzig Mark monatlicher Gage bedeutend praktischer sei, mehr darauf zu sehen, daß man geliebt werde, als daß man selbst liebe. Gewiß, ihr Egon war bis über seine beiden Ohren in sie verliebt, aber andere waren das auch. Und diese anderen hätten es ihr noch mehr gedankt, wenn sie die wiedergeliebt hätte, als ihr Egon es zu tun vermochte, weil der doch immerhin rechnen, manchmal sogar sehr rechnen mußte. Aber gerade weil er das mußte, war sie ihm so dankbar für jedes Geschenk, das er ihr machte, und gerade da sie wußte, wie schwer es ihm oft fiel, ihr ihre kleinen Wünsche zu erfüllen, hatte sie immer neue Wünsche, schon damit sie aus deren Erfüllung immer wieder ersah, wie lieb er sie hatte. Und wenn die anderen sie um ihre Geschenke beneideten, dann tat sie so harmlos und so naiv, als begriffe sie deren Neid gar nicht, und sie verstand es, sich über ihre Geschenke in so kindlicher Weise zu freuen, daß selbst die Kolleginnen zuweilen ihren Neid vergaßen und sich mit ihr freuten, denn sie war nach deren Ansicht noch ein Kind, wenigstens ein halbes Kind, nach dem Gesetz noch nicht einmal mündig.

Und dabei wurde sie heute nun schon fünfundzwanzig Jahre! Nur ein Glück, daß ihr Egon nichts davon ahnte. Lieb behalten hätte er sie natürlich trotzdem, aber sie wußte aus seinem eigenen Munde, wie lieb er an ihr gerade ihre Jugend hatte, wie es seiner Eitelkeit schmeichelte, eine so junge Freundin zu haben. Warum sollte sie ihm da den Kummer bereiten und ihm erklären: „Egon, mein geliebter Schafskopf, ich bin viel älter, als du glaubst.” Aber er würde ihr das gar nicht geglaubt haben, einmal weil er es nicht hätte glauben wollen, dann aber auch, weil sie tatsächlich mit ihren tiefschwarzen Haaren, ihren großen kugelrunden, tiefschwarzen Augen unter den dichten schwarzen Wimpern, noch wie ein ganz junges Mädchen aussah. Ihr zarter Teint glich der Farbe eines Pfirsiches, ihre Augen hatten einen kindlichen, oft sogar einen ängstlichen Ausdruck, als fürchte sie sich vor der Welt und ihren Schlechtigkeiten. Ihr Lachen klang hell und fröhlich, ihr Weinen aber ging im Theater selbst dem hartgesottensten Sünder durch Mark und Bein, weil jeder zu wissen glaubte, „die kleine Lorelotte da oben auf der Bühne weint nicht nur, weil das in der Rolle vorgeschrieben ist, sondern sie kann in diesem Augenblick ihre Tränen ganz einfach nicht zurückhalten.” Ja, ob ihres reinen, unverdorbenen Wesens nannte man sie oft „die kleine Lorelotte”, trotzdem sie eigentlich gar nicht klein war. Klein, winzig waren an ihr nur die Hände und die Füße. Auf jeden Fall fanden alle Theaterbesucher sie einfach süß, die jungen Mädchen schwärmten sie an, und die Herren waren samt und sonders in sie verliebt, und trotzdem sie ihren Egon hatte, taten die Herren, als sei sie ein Freiwild, das jeder, dem es beliebt, jagen könne, und jeder schien es als selbstverständlich anzunehmen, daß sie ihrem Egon nicht treu sei, oder ihm wenigstens nicht treu bleiben würde. Aber in der Annahme irrten sich die Herren der Schöpfung sehr, sie war ihrem Egon nicht nur treu, sondern auch fest entschlossen, dem ewig treu zu bleiben. Das hatte sie nicht nur ihm, sondern auch sich selbst so oft gesagt und geschworen, daß sie beide felsenfest daran glaubten.

Und den Schwur ewiger Liebe und ewiger Treue erneuerte sie ihm auch heute zur Feier ihres Geburtstages, trotzdem er nicht einmal bei ihr war. Ein nach ihrer ehrlichsten Überzeugung mehr als dummer Zufall fügte es, daß seine in Berlin wohnende Mutter an demselben Tage wie sie Geburtstag hatte, und nun mußte seine Mutter ausgerechnet an demselben Tage, an dem sie selbst offiziell einundzwanzig Jahre und dadurch mündig wurde, siebzig Jahre alt werden, und komisch und sonderbar, wie alte Leute es wohl mit der Zeit zu werden pflegen, hatte die alte Dame den Wunsch geäußert, an diesem ihrem Geburtstage ihre sämtlichen Kinder und Enkelkinder bei sich zu sehen. Das war eigentlich lächerlich, denn siebzig Jahre alt zu werden, war wirklich kein Verdienst, und eine besondere Veranlassung, gerade diesen Tag festlich zu begehen, lag doch auch nicht vor. Das und manches andere hatte sie ihrem Egon auseinandergesetzt, als er kürzlich des Nachmittags zum Kaffee bei ihr war, aber das nicht allein, um ihm zu beweisen, wie recht sie mit ihren Ausführungen habe, hatte sie sich für ihn den reizenden, verführerischen seidenen Hausanzug, aus Jacke und weiten Beinkleidern bestehend, angezogen, und als sie ihm in dem Anzug, den er ihr natürlich geschenkt hatte und der ihr ausgezeichnet stand, so verführerisch gegenüber saß, da wäre ihr ihre Beweisführung auch beinahe gelungen, aber im letzten Augenblick siegte in ihm doch die Liebe zu seiner Mutter, und wenn sie sich auch rasend darüber ärgerte, so tat sie dennoch so, als sähe sie es schließlich selbst ein, daß er wirklich der Mutter den Vorzug vor ihr geben müsse. Aber das tat sie natürlich nur, weil ihr zu tun nichts anderes übrig blieb und weil sie niemals offen eingestanden haben würde, daß sie, jung, hübsch und verführerisch, wie sie es ohnehin und nun noch dazu in dem Hausanzug war, eine Niederlage erlitt. Und verstimmt wie sie war, gab sie ihrem Egon plötzlich einen herzlichen Kuß zum Beweise dafür, daß sie ihm absolut nicht böse sei, daß sie es tatsächlich einsähe, daß er zu seiner Mutter fahren müsse, aber während sie ihn küßte, dachte sie darüber nach, mit wem sie nun wohl ihren Geburtstag feiern könne, denn daß sie den, gerade ihren einundzwanzigsten, nicht allein mit sich und mit einer Photographie ihres Egons verleben wolle, das stand bei ihr fest und beinahe hätte sie ihm das auch gesagt, aber sie sagte es doch nicht, weil man ja gerade die festesten Entschlüsse und Absichten oft leider wieder zu ändern pflegt, weil man sie aus irgend einem Grunde ändern muß.

Die Gründe aber, die Lorelotte ein paar Tage später zwangen, ihren Entschluß zu ändern, waren alleredelster Natur, die entsprangen der Liebe und der Dankbarkeit, denn um sie wenigstens einigermaßen dafür zu entschädigen, daß er nicht bei ihr sein könne, hatte ihr Egon ihr ihren sehnlichsten Wunsch erfüllt und ihr zum Geburtstag in ihre hübsche, außerordentlich gemütliche Wohnung, die er ihr bezahlte, ein Telephon legen lassen. Ihr eigenes Telephon! Wie lange hatte sie sich das nicht schon gewünscht, wie oft hatte sie ihn nicht darum gebeten, wie oft hatte sie nicht schon daran gedacht, aus ihren eigenen bescheidenen Mitteln — aber nein, dazu reichte die Gage denn doch nicht aus, und wenn sie das Telephon selbst bezahlen sollte, ging es wie bisher auch in Zukunft natürlich ohne dem. Aber wenn ihr Egon es ihr bezahlte, mußte sie ganz einfach eins haben, schon damit ihr Name in das Telephonbuch käme. Es war doch immerhin möglich, daß irgend jemand sie einmal sofort sprechen mußte, und wie oft war sie nicht schon verlegen geworden, wenn sie in den Geschäften auf Befragen hatte erklären müssen, daß sie kein Telephon habe, verlegen schon deshalb, weil sie den wahren Grund, weshalb sie bisher noch ohne Telephon war, nicht nennen durfte. Ihr Egon hatte ihr nämlich beständig erklärt, mit ihrer Liebe und mit ihrer Treue, die sie ihm bisher bewiesen und gehalten habe, würde es sehr bald vorbei sein, wenn sie erst ihr eigenes Telephon besäße. Aber gerade deshalb hatte sie fortwährend auf ihrem Wunsch bestanden, einmal, wie sie ihm erklärte, um ihm zu beweisen, daß er ihr mit seinem Verdacht bitter unrecht täte, dann aber auch, was sie ihm allerdings nicht erklärte, weil sie mehr als neugierig war, in Erfahrung zu bringen, ob und wie dieses Telephon etwas an ihrer Liebe und an ihrer Treue zu ihrem Egon zu ändern vermöge. Daß er so etwas annehmen könne, war ein Unsinn, denn nun hing das Telephon schon seit vielen Stunden in ihrem Zimmer und sie hatte ihren Egon noch genau so lieb wie bisher und untreu war sie ihm auch noch nicht gewesen. Allerdings war das Telephon auch noch nicht im Gebrauch, ihr Egon hatte es mit dem Amt verabredet, daß ihr Apparat erst an ihrem Geburtstag mittags um zwölf Uhr in Betrieb genommen würde. Um diese Stunde wollte er sie aus Berlin anklingeln, das Gespräch mit ihm sollte für sie das erste sein, schon damit sie in Zukunft, wenn sie von ihrer Wohnung aus mit jemandem spräche. dabei immer an ihn dächte. an ihn, an ihre Liebe zu ihm und an die Treue, die sie ihm gelobte. Das war nun eigentlich von ihrem Egon ein bißchen viel verlangt, denn wenn sie zum Beispiel mit ihrer Schneiderin, oder mit ihrer Putzmacherin telephonierte, hatte sie doch anderes zu denken als an ihn, obgleich er ihr schlielich die Rechnungen bei ihren Lieferanten bezahlte, aber versuchen wollte sie es trotzdem, dabei stets an ihn zu denken, schon um ihm dadurch eine Freude zu machen. Und ihre Liebe würde nun, da er ihren sehnlichsten Wunsch erfüllte, ebenso wenig jemals aufhören, wie ihre Treue. Niemals, niemals, unter gar keinen Umständen, und wenn das Schicksal, von dem man ja nie wußte, was es bringen könne, sie eines Tages vor die schwere Frage stellen sollte: da du deinem Egon nicht mehr die Liebe und die Treue halten kannst, was hältst du ihm da, die Liebe oder die Treue? Wenn diese schwere Frage einmal an sie herantreten wollte, würde sie ihm unbedingt wenigstens die Treue halten — oder nein, die Liebe. Wie hieß es doch in dem „Zigeunerbaron”: „Hab' ich nur deine Liebe, die Treue brauch' ich nicht!” Mit dem Wort konnte sie sich dann vor ihrem Egon entschuldigen. Die Liebe war die Hauptsache, auf die Treue kam es gar nicht an. Allerdings hieß es in dem Liede weiter: „Die Liebe ist die Knospe nur, aus der die Treu' entsprießt,” womit gesagt wurde, daß die Treue ohne weiteres eine Folge der Liebe sei. Aber vielleicht konnte man den Vers auch umdrehen: „Hab' ich nur deine Treue, die Liebe brauch' ich nicht. Die Treue ist die Knospe nur, aus der die Lieb' entsprießt.” Das hörte sich ebenso schön, fast noch schöner an, und vielleicht hatte der Textdichter das auch so gemeint und sich bei dem Dichten nur etwas ungenau ausgedrückt, das kam ja oft vor, weil die Dichter sich selbst zuweilen nicht darüber einig waren, was sie eigentlich sagen wollten. Also da würde sie ihrem Egon in erster Linie die Treue halten, das mußte sie auch tun, das war sie ihm schuldig, und ihm würde es auch sicher genügen, wenn sie ihm treu blieb. Da konnte sie ihre Liebe ruhig anderweitig verschenken, vorausgesetzt, daß der andere damit zufrieden war, denn selbstverständlich dürfte diese Liebe nicht dahin ausarten, daß sie ihrem Egon dadurch untreu wurde. Aber was dann, wenn der andere einen solchen Beweis der Liebe von ihr verlangte? Da war es doch vielleicht besser und anständiger für alle Teile, wenn sie ihrem Egon gleich von Anfang an erklärte: „Treu sein kann ich dir nicht mehr, ich selbst bin daran unschuldig, das ist eine Fügung, die das Schicksal mir auferlegt, und du weißt, was das Schicksal uns bringt, das müssen wir hinnehmen, ohne zu murren, ohne zu klagen und ohne erst viel zu fragen, warum gerade uns soviel Schweres auferlegt wird. Glaube mir, Egon, es wird mir schwer, wahnsinnig schwer, dir nicht mehr treu sein zu können, aber meine Liebe, meine ganze heiße Liebe gehört nur dir!” Gewiß, es wäre sehr anständig, gleich so offen und ehrlich mit ihrem Egon zu sprechen, aber würde es auch klug sein?

Soweit hatte Lorelotte, auf der Chaiselongue liegend und ihre Zigarette rauchend, ihren Gedanken nachgehangen, nun aber sprang sie plötzlich auf, schleuderte die erloschene Zigarette in einen Winkel, stampfte mehr als zornig und ungeduldig mit den wirklich sehr hübschen kleinen Füßen auf den Teppich und war dicht daran, zu weinen! Das nannte man nun seinen Geburtstag feiern, daß man hier mutterseelenallein in dem Zimmer saß und sich mit solchen blödsinnigen Gedanken beschäftigte, denn sie hatte ja ihren Egon, und wie hübsch war er mit seinem tiefschwarzen dichten Haar, mit seinen großen dunklen Augen, die fast noch größer und dunkler waren als die ihrigen. Deshalb hatte sie sich auch eigentlich sofort in ihn verliebt, weil er ebenso dunkel war wie sie. Blonde Männer existierten für sie nicht, höchstens noch dunkelblonde, aber schwarz blieb schwarz. Und ihr Egon war schwarz und gerade heute war er in Berlin. Das war trotz alledem, was vorlag, einfach gemein von ihm. Was sollte sie hier nur allein anfangen? Probe hatte sie glücklicher-, nein unglücklicherweise nicht, das wäre an diesem stumpfsinigen Tag wenigstens eine kleine Abwechslung und Zerstreuung gewesen. Na und der blödsinnige dumme Schmarren am Abend, den sie schon mehr als fünfzigmal gespielt hatten, der spielte sich ganz von selbst. Bei dem brauchte sie sich am Abend auch nicht weiter anzustrengen, die Hauptsache war, daß sie sich in jedem Akt umziehen mußte und ihre hübschen Kleider zeigen durfte, denn das Stück selbst war ein elender Schmarren. Aber gespielt sein wollte ihre Rolle natürlich trotzdem und zwar gut gespielt, denn sonst nahm das Publikum ihnen da oben auf der Bühne den Blödsinn gar nicht ab, sondern pfiff den einfach von Beginn an in Grund und Boden. Ja, gespielt sein wollte ihre Rolle natürlich trotzdem und zwar gut natürlich, sehr gut, und der Kritiker des hiesigen Tageblattes, der merkwürdiger­weise etwas von Kunst zu verstehen schien, hatte, als sie die Rolle zum erstenmal spielte, es in seinem weit verbreiteten Blatt ausdrücklich anerkannt, daß sie die Titelrolle zum mindesten ebenso gut, wenn nicht sogar noch besser gegeben hätte als ihre Berliner Kollegin bei der Uraufführung. Und gut mußte sie in der Rolle gewesen sein, das hatte sie selbst am besten gefühlt, und außerdem hatte sie noch nie soviel Liebesbriefe bekommen, wie am Morgen nach dieser Première. Allerdings hatte der Dichter, den sonst bei der Abfassung dieses elenden Machwerkes alle guten Geister verlassen zu haben schienen, ihr wenigstens in zwei, nach ihrem literarischen Empfinden allerdings viel zu kurzen Szenen Gelegenheit gegeben, in zwei reizenden Kostümen ihren reizenden Wuchs zu zeigen. Ja, es war an dem Abend wirklich ein großer Erfolg gewesen, der ihr auch bei jeder Wiederholung treu blieb. Das stimmte sie nun vorübergehend wieder fröhlich und söhnte sie etwas damit aus, daß ihr Egon verreist war. Schließlich hatte seine Mutter ja auch ein Anrecht auf ihn, aber furchtbar langweilig war es doch ohne ihn. Das nannte man seinen Geburtstag feiern! Nicht einmal einen Blumenstrauß hatte er ihr schicken lassen. Allerdings fiel ihr nun wieder ein, daß sie ihm einmal das feste Versprechen abnahm, ihr nie Blumen zu schicken. Sie hatte ihm selbst zugeredet, das Geld zu sparen, das für sich zu verwenden, ganz allein für sich, oder ihr dafür etwas anderes zu schenken, Handschuhe, Schleier, oder etwas Ähnliches. Aber trotzdem, an ihrem Geburtstag hätte er damit eine Ausnahme machen können, denn wenn er vielleicht annahm, sie würde ihm zürnen, wenn er das ihr gegebene Versprechen nicht hielt, war das einfach lächerlich. Viel eher hätte sie Ursache, ihm zu zürnen, weil er sein Versprechen hielt. Und wenn er ihr Blumen geschickt hätte, dann hätte sie sich sehr hübsch angezogen, wäre bei dem herrlichen Frühlingswetter mit einigen seiner Blumen an der Bluse oder im Gürtel spazieren gegangen und hätte sich bewundern lassen. Und anstatt mit oder ohne Blumen spazierengehen zu können, mußte sie hier in ihren vier Wänden sitzen und auf ihr erstes Telephongespräch an ihrem eigenen Telephon warten. Na und wenn er sie wirklich antelephonieren sollte, was würde er ihr da viel zu sagen haben? „Guten Morgen, kleine Lorelotte, hast du gut in dein neues Lebensjahr hineingeschlafen und hast du schön von mir geträumt? Hast du ebensolche Sehnsucht nach mir wie ich nach dir? Habt Ihr bei Euch ebenso schönes Wetter, wie wir hier in Berlin? Übrigens natürlich die Hauptsache, ehe ich die vergesse, ich wünsche dir nochmals zu deinem Geburtstag alles nur denkbar Gute. Bleib' gesund, behalt' mich lieb und bleib' mir treu. Also auf Wiedersehen, kleine Lorelotte, morgen abend bin ich zurück, da hole ich dich vom Theater ab, und hinterher feiern wir ein fröhliches Wiedersehen. Gruß, Kuß, Schluß!”

Das und nichts anderes würde ihr Egon ihr telephonieren, und wenn sie sich natürlich auch furchtbar freuen würde, seine Stimme zu hören, verlohnte sich dieses Gespräch eigentlich, deshalb den Morgenspaziergang bei diesem schönen Wetter zu versäumen, noch dazu, wo es so selten vorkam, daß sie wie zufälligerweise heute einmal des Morgens keine Probe hatte. Wenn sie es sich richtig überlegte, war es von ihrem Egon sehr egoistisch, daß sie nun seinetwegen zu Hause sitzen und auf seinen Anruf warten mußte. Aber egoistisch wie er war und wie alle Männer es sind, würde er ihr nicht einmal dafür danken, daß sie das Gespräch mit ihm abwartete, sondern er würde das als ganz selbstverständlich betrachten.

Lorelottes Stimmung wurde immer schlechter und schlechter, denn jetzt war es erst elf Uhr. Noch eine ganze Stunde mußte sie warten, bis ihr Egon sie anrief. Was solte sie nur bis dahin beginnen? Da öffnete sich plötzlich die Stubentür, und ihre Wirtin trat herein und brachte in Seidenpapier gehüllt einen großen Blumenstrauß. Und nachdem sie den, als die Wirtin sie wieder verlassen, ausgewickelt hatte, da leuchteten ihr mehr als ein Dutzend der wundervollsten Rosen entgegen. Ach, sie war ja so glücklich und sie freute sich so schrecklich, gerade weil ihr Egon das Versprechen, das er ihr gab, heute nicht hielt. Diese schönen, schönen Rosen! Wie sinnberückend die dufteten, wie herrlich diese Farbenzusammenstellung war. Sie ließ den Strauß nicht aus der Hand und da bemerkte sie erst, daß in der großen Schleife, die die langen Stengel zusammenhielt, ein Billett verborgen war. Und als sie das nun herauszog, um zu lesen, was ihr Egon, ihr geliebter Egon ihr schrieb, da war das gar nicht seine Handschrift, die auf dem Kuvert stand. Also da waren auch gar nicht die Rosen von ihm. Diese Erkenntnis wirkte für einen Augenblick direkt niederschmetternd auf sie, dann aber freute sie sich doppelt, denn diese Blumen bewiesen ihr, daß es auf der Welt wenigstens einen Menschen gab, der da wußte, wie sehr sie die Rosen liebte, und der den Versuch machte, sie dadurch zu erfreuen. An diesem einen hätte ihr Egon sich ein Beispiel nehmen sollen, aber wer dieser eine nur sein mochte? Und als sie endlich das Kuvert geöffnet hatte, da sah sie es, es war der Doktor Friedrich, genannt „Friedel”, Altmann, der zu den Freunden ihres Egons gehörte, und daß gerade der es war, der sich heute ihrer in so reizender Weise erinnerte, das freute sie ganz besonders, denn der Friedel hatte ihr von den vielen Herren, die sie nach und nach durch ihren Egon persönlich kennen lernte, immer am besten gefallen, das auch schon, weil sie wußte, daß sie ihrerseits dem noch viel besser gefiel als allen den anderen Herren, die ihr den Hof machten. Und der Friedel tat das eigentlich gar nicht, obgleich er es noch mehr tat als alle übrigen, aber er tat es in anderer Art. Er machte aus seinem Gewissen keine Mördergrube, sondern sagte ihr selbst dann, wenn ihr Egon dabei, wie hübsch und wie begehrenswert er sie fände und daß er gar keinen anderen Gedanken mehr habe als den, sich ihre Gunst zu erringen. Das kam aber so lustig und übermütig heraus, daß sie seine Worte nicht allzu ernsthaft nahm und daß die sie nur belustigten, aber ihr Egon nahm sie dafür desto tragischer und hatte seinem Freund Friedel derartige Redensarten schon ein paarmal sehr energisch verbeten. Ja, es war zwischen den beiden einmal sogar zu einer wenn auch nur vorübergehenden heftigen Auseinandersetzung gekommen, bis sie sich schließlich wieder versöhnten. Sie selbst hatte bei der Debatte, wie sich das gehörte, auf seiten ihres Egon gestanden, aber auch der Friedel hatte recht mit dem, was er sagte, namentlich, als er eines Abends behauptete, daß es immer die Schuld des Mannes sei, wenn seine Frau oder seine Freundin ihm eines Tages untreu würde. Daß sie nicht daran dachte, ihren Egon zu betrügen, war selbstverständlich, aber jetzt, angesichts der schönen Rosen, die sie immer noch in ihren Händen hielt, wurde ihr plötzlich klar: wenn sie jemals daran denken sollte, ihren Egon zu betrügen, würde sie das nur mit dem Friedel tun. Der war durch und durch ein Ehrenmann, das bewies er schon dadurch, daß er sich ganz offen in Gegenwart des Freundes um sie bewarb. Ja, der war wirklich ein Ehrenmann und außerdem war er bildhübsch. Nicht so schwarz und so dunkel wie ihr Egon, sondern mehr blond. Und eigentlich paßte sein Blond viel besser zu ihr als Egons dunkles Haar. Blond, wenigstens dunkelblond, stand einem Mann viel, viel besser, und dann hatte der Friedel so wundervolle dunkelblaue Augen und auch keinen Schnurrbart, sondern er ging ganz glatt rasiert. Er war äußerlich ganz das Gegenteil von ihrem Egon, aber auch das hatte seinen Reiz, und Geld besaß er auch nicht. Dafür besaß er allerdings einen sehr ausgedehnten Kredit, da er einmal eine schwerreiche Tante beerben würde, die langsam ihrem neunzigsten Geburtstag entgegenging. Da mußte der Herr die ja bald zu sich nehmen. Und der Friedel war immer lustig und guter Dinge und behauptete, ein guter Kredit sei viel mehr wert als bares Geld. Das letztere hatte er eigentlich nie und sicher hatte er auch diese schönen Rosen wieder aufschreiben lassen. Das war wirklich rührend von ihm, und schon deshalb mußte sie sich doppelt und dreifach bei ihm bedanken, sobald sie ihn nur sah. Aber nein, so lange durfte sie ihn nicht auf ihren Dank warten lassen, sie wollte ihm gleich ein paar Worte schreiben. Aber nein, auch das nicht, sie wollte sich sofort mündlich bei ihm bedanken, sie hatte nun doch ihr eigenes Telephon. Was der Friedel wohl für Augen und für Ohren machen würde, wenn er plötzlich am Telephon ihre Stimme vernahm? Sie wollte ihn jetzt gleich anrufen, er sollte der Erste sein, mit dem sie sich verbinden ließ, und bei dem Gespräch mit ihm würde ihr auch schneller die Zeit vergehen, bis es zwölf war und bis ihr Egon sie endlich antelephonierte. So ging sie denn jetzt an den Apparat und suchte die gewünschte Nummer in dem Telephonbuch. Aber als sie die gefunden hatte und gleich darauf das Amt anklingelte, da meldete sich dort niemand und mit einemmal wußte sie auch, warum nicht. Weil es noch nicht zwölf war und weil ihr Egon das Amt angewiesen hatte, ihr Telephon nicht vor dieser Stunde in Betrieb zu nehmen. Und jetzt sah Lorelotte es ein, das war von ihrem Egon einfach infam. Sie war doch schließlich kein kleines Kind mehr, das derartig unter Aufsicht gestellt werden mußte, und wozu hatte sie ein Telephon, wenn sie es noch nicht gebrauchen durfte? Diese Beschränkung ihrer freien Handlungsweise war beinahe beleidigend, aber das nicht allein, die war roh, brutal und rücksichtslos. Was dann, wenn sie nun plötzlich erkrankt wäre und dringend einen Arzt gebraucht hätte? Nicht einmal dann wäre es ihr möglich gewesen, telephonisch Hilfe herbeizurufen. Ja ja, so waren die Männer! Oder wenn sie nun plötzlich irgend eine wichtige Mitteilung an ihren Direktor gehabt hätte, oder eine dringende Bestellung an ihre Schneiderin? In diesen und ähnlichen Fällen wäre sie einfach aufgeschmissen gewesen. Ja, so brutal waren die Männer, und wer konnte wissen, ob sie nachher den Friedel, den Doktor Altmann, noch telephonisch erreichte. Bis ein Uhr pflegte er allerdings, wie sie zufällig wußte, meistens zu Hause zu sein, aber es war doch immerhin möglich, daß er gerade heute bei dem schönen Wetter eher fortging.

Lorelotte zitterte beinahe vor Ungeduld. Ach, wollte es denn heute gar nicht zwölf werden? Wie langsam die Zeiger nur vorwärts rückten, und wie konnte ihr Egon nur so grausam sein, ihr die Freude an dem ersten Telephongespräch aus der eigenen Wohnung derartig zu verderben? Natürlich freute sie sich auch auf das Gespräch mit ihm, aber da rief er doch sie an und sie nicht ihn und das Schlimmste von allem war, er rief immer noch nicht, aber er mußte rufen, schon damit sie den Friedel anrufen könne. Und endlich, endlich klingelte das Telephon. Lorelotte warf noch einen schnellen Blick auf die Uhr, es war gerade zwölf, wenigstens ließ ihr Egon sie nicht noch über diese Zeit hinaus warten, dann aber eilte sie an den Apparat, nahm den Hörer an das Ohr und meldete sich: „Ja bitte, wer ist dort?” Das Fräulein vom Amt gab den Bescheid: „Sie werden aus Berlin verlangt” und nach einer weiteren Minute hörte sie ganz deutlich die Stimme ihres Egons: „Guten Morgen, kleine Lorelotte! Hast du gut in dein neues Lebensjahr hineingeschlafen und hast du was Schönes von mir geträumt? Hoffentlich hast du ebensolche Sehnsucht nach mir wie ich nach dir? Habt Ihr zur Feier des Tages bei Euch ebenso schönes Wetter, wie wir hier in Berlin? Und nun natürlich die Hauptsache, ehe ich die vergesse, ich wünsche dir zu deinem Geburtstage alles nur denkbar Schöne, bleibe gesund, behalt' mich lieb und bleib' mir treu. Na, morgen abend bin ich wieder zurück, da hole ich dich vom Theater ab, und hinterher feiern wir ein fröhliches Wiedersehen. Nun aber erzähle mal von dir, kleine Lorelotte, wie geht es dir denn? Nun lasse auch mal deine Stimme an deinem Telephon hören.”

Zeit wird es nachgerade auch, daß du auch mich mal zu Worte kommen läßt, dachte Lorelotte, dann sprach sie, wie er bisher gesprochen hatte. Er hatte ihr beinahe wörtlich das erzählt, was sie aus seinem Munde erwartete, nun erzählte sie ihm das, was er erwartete: „Ach Egon, ich bin ja so glücklich, deine Stimme zu hören. Den ganzen Vormittag habe ich darauf gewartet, daß es endlich, endlich zwölf Uhr werden möchte, und ich bin den dummen Gedanken nicht losgeworden, du hättest in Berlin soviel anderes zu tun, daß du mich darüber vergessen würdest. Ich danke dir noch tausendmal für deine freundlichen Glückwünsche und namentlich für das Telephon, das nun offiziell eingeweiht ist. Ich bin mehr als neugierig, mit wem ich das nächste Gespräch führen werde, sicherlich mit einem mir ganz gleichgültigen Menschen. Und denk' dir mal, meine Wirtin hat mir einen herrlichen Strauß dunkelroter Rosen geschenkt. Ich wollte sie erst wegen der Verschwen­dung ausschelten, denn du weißt, ich liebe es nicht, wenn man meinetwegen Geld für Blumen ausgibt, deshalb habe ich mich so schrecklich gefreut, daß du selbst heute deinem Versprechen treu geblieben bist, obgleich ich im ersten Augenblick natürlich dachte, die Rosen wären von dir. Aber meine Wirtin ist mit irgend einem Gärtner befreundet, der in seinen Treibhäusern viele, viele Rosen hat. Da hat sie für mich pflücken dürfen, soviel sie nur wollte, ohne dafür etwas bezahlen zu müssen. Ja, die Leute haben sogar gesagt, sie könne jederzeit für mich so viele Rosen bekommen, wie sie nur wünsche, denn sie hätten mich erst letzthin im Theater bewundert, und da hätte ich einfach entzückend ausgesehen und fast ebenso entzückend gespielt. Natürlich habe ich mich furchtbar gefreut, als meine Wirtin mir das erzählte, denn schließlich lebe ich doch nur für meine Kunst. Und denke dir nur, wir haben hier das reine Kaiser-Geburtstag-Wetter, aber ausgehen möchte ich doch nicht. Bis ich heute abend ins Theater muß, bleibe ich zu Hause und denke an dich. Ich habe ja solche furchtbare Sehnsucht nach dir und ich will ja so froh sein, wenn ich dich morgen abend endlich, endlich wiederhabe. Wie meintest du eben, mein Egon?”

Aber es war nicht ihr Egon, der dazwischen sprach, sondern das Fräulein vom Amt, das sich erkundigte: „Sprechen Sie noch? Die drei Minuten sind um.” Und ehe Lorelotte recht wußte, wie ihr geschah, war sie entbunden, statt weiter mit ihrem Egon verbunden. Aber sie war darüber nicht weiter traurig, sie hatte ohnehin mit ihm genug gesprochen, aber mit dem, was sie gesagt hatte, war sie sehr zufrieden und das mit dem Rosenstrauß hatte sie sehr fein gemacht, da wußte ihr Egon gleich, wenn er übermorgen die Blumen bei ihr sah, von wem sie die hatte. Da würde er, neugierig wie alle Männer nun einmal sind, gar nicht erst fragen. Nur die schöne Schleife mußte sie vorher noch abmachen, denn daß ihre Wirtin ihr auch die geschenkt hätte, würde er nicht glauben, aber mit der Schleife konnte sie die Rosen ohnehin nicht in das Wasser stellen. Aber hübsch war die Schleife, und wie hübsch war erst das Billett von dem Friedel. Und doch schrieb er ihr eigentlich gar nichts Besonderes, sondern sandte ihr nur seine allerherzlichsten Glückwünsche. Mehr durfte er ihr ja auch nicht schreiben, aber selbst diese wenigen Worte hatten sie aufrichtig gefreut. Nun wollte sie sich endlich bei ihm dafür bedanken und eigentlich hätte sie es schon längst tun können, denn wegen dieses sehr albernen Gespräches mit ihrem Egon, das sie Wort für Wort vorausahnte, hatte er doch wirklich keine Telephonsperre über sie zu verhängen brauchen, und eigentlich war es doch furchtbar langweilig, einen Mann so genau zu kennen, wie sie ihren Egon, daß man schon stundenlang vorher wußte, was er sagen würde. Ja, man mußte einen Mann schon so lieb haben, wie sie ihren Egon, um das nicht zum Sterben langweilig zu finden. Na, hoffentlich wurde dafür ihr zweites Telephongespräch desto amüsanter. So klingelte sie denn die längst gesuchte Nummer an und sie hatte Glück. Sie traf den Friedel noch zu Hause, denn er meldete sich sofort selbst am Apparat: „Hier Doktor Altmann, bitte, wer dort?”

„Das möchten Sie wohl gern wissen, Herr Doktor?” gab Lorelotte übermütig zurück. „Vorläufig sage ich nur: hier bin ich!”

„Ach herrjeses, die Lorelotte,” gab der Doktor überrascht zur Antwort, „Fräulein Lorelotte, unsere schöne und sehr verehrte Naive in höchsteigener Person, oder glauben Sie etwa, ich hätte Sie nicht sofort an Ihrer Stimme erkannt? Außerdem habe ich es befürchtet, daß Sie mich heute von irgendwoher anklingeln würden, um sich bei mir für die paar Blumen zu bedanken, aber danken Sie lieber nicht, Fräulein Lorelotte, denn nichts macht mich auf der Welt so wütend, als wenn man mir danke sagt. Verraten Sie mir lieber, von wo aus Sie mich anklingeln, ich bin im Begriff, zur Stadt zu gehen, und wenn ich etwas nachhelfe, könnte der Zufall es vielleicht fügen, daß ich Ihnen begegne. Da hätte ich zur Feier Ihres Geburtstages doch auch eine Freude, und vielleicht verabreden wir da gleich etwas für heute abend, denn daß Sie gerade heute nach der Vorstellung allein sein sollen, will mir absolut nicht in den Sinn. Das hatte ich mir schon vorhin klargemacht und bereits beschlossen, Ihnen ein paar Worte in die Garderobe zu schicken. Aber erst verraten Sie nun mal, wo sind Sie?”

Lorelotte lacht stolz und glücklich auf: „Aber Herr Doktor, wo soll eine junge Dame, die etwas auf sich hält, wohl anders sein als in ihrer eigenen Wohnung, wenn sie sich telephonisch mit einem Herrn unterhält?”

„Ja, haben Sie denn nun Ihr eigenes Telephon?” fragte der Doktor ganz verwundert, um gleich darauf hinzuzusetzen: „Ach so, ja richtig, nun fällt es mir wieder ein, Ihr beide, oder soll ich sagen Sie beide? Mir ist es einerlei, das eine ist mir so geläufig wie das andere, aber das „Ihr” hört sich netter an, finden Sie nicht auch? Also wie gesagt, nun fällt es mir wieder ein, Ihr beide habt ja mal in meiner Gegenwart von diesem Geburtstags­geschenk gesprochen, ich hatte es nur wieder vergessen. Das kommt davon, wenn ein Mensch soviel nicht zu tun hat wie ich. Da muß man sich fortwährend einen Knoten nach dem anderen in das Gedächtnis machen, um die bedeutendsten Ereignisse in der Erinnerung zu behalten.”

„Aber meinen Geburtstag haben Sie trotzdem nicht vergessen,” belobte Lorelotte ihn.

„Selbstverständlich nicht,” verteidigte er sich, „ich werde doch nicht den wichtigsten Tag meines Lebens der Vergessenheit anheimfallen lassen, denn nun passen Sie mal auf, Fräulein Lorelotte: daß ich geboren wurde, war nach meiner Ansicht ganz überflüssig. Da ich aber nun einmal geboren bin, mußten auch Sie geboren werden, damit Sie durch Ihre Person, durch Ihr hübsches Äußere und durch Ihre Kunst meinem Dasein einen höheren Wert verleihen. Nur dadurch, daß auch Sie auf der Welt sind, hat das Leben für mich einen Reiz. Wie Sie sich heute hoffentlich über meine Blumen freuten, wie Ihre Augen sich an denen ergötzten, so erfreuen meine Augen sich an Ihnen, so oft ich Ihnen begegne, Fräulein Lorelotte. Und nach dieser poetischen Einleitung sagen Sie mir bitte, wo kann ich mir mit Ihnen in den nächsten zehn Minuten ein Stelldichein geben?”

„In zehn Minuten nirgends, denn ich bin ja noch nicht einmal angezogen, Herr Doktor,” widersprach Lorelotte. „Das heißt, angezogen bin ich natürlich schon, aber zum Ausgehen müßte ich mich doch erst umziehen. Lust hätte ich schon, mich mit Ihnen in der Stadt zu treffen, denn ich langweile mich zu Hause fürchterlich, aber Sie kennen die Menschen ja auch, Sie wissen, wie die gleich reden würden, wenn die uns zusammen sehen sollten. Deshalb können wir auch heute abend unmöglich zusammen sein, oder wüßten Sie vielleicht, wo wir zusammen sein könnten?”

„Natürlich weiß ich das,” pflichtete er ihr schnell bei, „denn für den Fall, daß Sie eines Tages meine Einladung annehmen sollten, habe ich im Geiste schon längst alle Vorbereitungen getroffen. Ich weiß sogar schon die Speisenfolge, lauter Lieblingsgerichte von Ihnen, denn was Sie gern essen, habe ich mir immer gemerkt, wenn wir zu dritt oder in einem größeren Kreise zusammen waren. Ich werde Sie schon festlich bewirten, Fräulein Lorelotte, das überlassen Sie nur mir und so nett werde ich mit Ihnen sein, daß Sie sich oft im stillen wünschen werden, ich möchte mit Vornamen Egon heißen, damit Sie mir endlich den Kuß geben könnten, den ich mir schon so lange zu Ihrem Geburtstag wünsche.”

Lorelotte lachte fröhlich auf, dann aber schalt sie: „Wollen Sie wohl still sein, Herr Doktor, was soll das Fräulein vom Amt denken, wenn das unser Gespräch mit anhört?”

Aber diesmal lachte er: „Ach, Fräulein Lorelotte, wenn die Telephondamen sich bei jedem Kuß, der telephonisch an ihrem Ohr vorübergeht, immer noch etwas denken sollten, dann kämen die aus dem Denken gar nicht heraus und würden noch mehr falsche Verbindungen herstellen, als die es ohnehin schon tun. Im übrigen liegt in Ihren Worten ein Körnchen Wahrheit. Man kann bei dem, was man sagt, nicht vorsichtig genug sein und deshalb weiß ich plötzlich auch, wo wir unser Gespräch am besten fortsetzen, in Ihrer Wohnung, Fräulein Lorelotte. Es hat mir schon lange auf meinem gesellschaftlich sehr wohlerzogenen Gewissen gebrannt, daß ich Ihnen trotz unserer langen Bekanntschaft noch nie einen offiziellen Besuch machte. Den werde ich nun mit meinem Zylinder, den ich bereits vor mir auf dem Schreibtisch stehen habe, sofort nachholen und bei der Gelegenheit bewundere ich auch gleich Ihr Geburtstags­geschenk, denn sicher hat unser Freund Ihnen ein sehr hübsches Telephon geschenkt. Ich hätte das letztere wenigstens getan, wenn meine alte Tante bereits in die Mörtelgrube gefahren wäre und wenn ich ein Recht hätte, Sie beschenken zu dürfen. Für den Augenblick aber handelt es sich nur darum, ob Ihnen mein Besuch willkommen ist, wie ich es bestimmt hoffe, das auch schon deshalb, weil mir eben eingefallen ist, daß ich Sie etwas sehr Wichtiges fragen muß. Also da von Ihrer Seite kein Widerspruch erfolgt, bin ich mit einem Auto in zehn Minuten bei Ihnen. Also auf Wiedersehen, schönstes Geburtstagskind! Und damit Schluß.”

Wirklich klingelte der Doktor darauf ab und Lorelotte stand ganz ratlos da. Sollte und durfte sie den Besuch annehmen? Als ihr Egon ihr damals diese hübschen beiden Zimmer mietete, hatte sie ihm fest versprochen, in ihnen nie einen anderen Herrenbesuch zu empfangen als den seinen. Das hatte sie bisher auch gehalten, schon weil sie es versprach und weil ihr Egon auch stets das hielt, was er versprach. Deshalb hatte sie dem Doktor auch gleich erklären wollen, daß er unter gar keinen Umständen zu ihr kommen dürfe, aber er machte im Sprechen keine Pause, so daß sie ihm nicht hatte widersprechen können, und daß sie ihm in das Wort fiel, das ging doch erst recht nicht, das wäre mehr als ungezogen gewesen und schließlich kam er auch nur offiziell mit dem Zylinder auf dem Kopfe, nein in der Hand, und davon, daß er den Kuß bekam, den er sich von ihr zu ihrem Geburtstag wünschte, war selbstverständlich keine Rede, das hatte er sicher auch nur so gesagt, wie man eben so etwas sagt. Aber nett von ihm war es doch, daß er sich so etwas wünschte. In der Hauptsache kam er natürlich nur, weil ihm plötzlich eingefallen war, daß er etwas sehr Wichtiges mit ihr zu besprechen hatte. Da mußte sie ihn schon annehmen, weil sie mehr als neugierig war, zu erfahren, was denn das Wichtiges sein könne, und ohne jeden Zusammenhang damit überlegte sie plötzlich, was sie für seinen Besuch nur anziehen sollte, denn möglichst hübsch und verführerisch wollte sie ihm selbstverständlich gegenübertreten. Erstens war sie sich das selbst schuldig, zweitens wollte sie ihm dadurch eine Freude machen, drittens wollte sie dadurch seinen Wunsch nach einem Kuß von ihr, gerade weil dieser Wunsch für ihn aussichtslos war, noch erhöhen und schließlich war sie es auch ihrem Egon schuldig, daß sie, wenn sie nun schon einmal sein Verbot überschritt, dies wenigstens nach außen hin in einer Form tat, die ihm, der soviel Wert darauf legte, daß sie immer gut angezogen ging, in der Hinsicht keinen Anlaß zum Tadel gab. Sollte sie so bleiben, wie sie war, in dem einfachen, aber tadellos sitzenden dunklen Rock mit der hübschen weißen Bluse, oder was sollte sie sonst anziehen? Ein Kleid für kleine Gesellschaften? Unmöglich! Oder — bis sie plötzlich der Gedanke durchzuckte: was würde der Doktor wohl sagen, wenn er dich in deinem Hausanzug sähe, in den weiten seidenen Beinkleidern und in der seidenen verschnürten Jacke? Eigentlich war sie es sich schuldig, daß sie sich den rasch anzog, denn der Anzug stand ihr so gut wie kaum eins ihrer Kleider und sie hatte dem Doktor doch auch am Telephon erklärt, sie müsse sich, bevor sie ihn in der Stadt treffen könne, erst ganz umziehen. Und das würde er ihr, wenn er sie so sah, wie sie jetzt war, einfach nicht glauben. Er würde ihr sagen: „Schönste aller Schönen, warum haben Sie sich nicht einfach einen Hut aufgesetzt und die Jacke angezogen, da wären Sie fix und fertig gewesen?” Und schlecht, wie die Männer nun einmal alle waren, würde er vielleicht, nein sicher glauben, sie habe, obgleich sie angezogen war, nur deshalb nicht ausgehen wollen, um ihn dadurch auf den Gedanken zu bringen, zu ihr zu kommen. Und so etwas durfte er nicht denken, das war sie nicht nur sich selbst, sondern auch ihrem Egon schuldig und deshalb gab es, wenn sie diesen seinen schmählichen Verdacht von sich ablenken und ihm mit einem völlig reinen und guten Gewissen gegenübertreten wollte, nur eins, sie mußte sich ganz einfach den Hausanzug anziehen, sie mußte, sie mußte. Und außerdem konnte man nicht wissen, in welcher Stimmung ihr Egon zurückkam. Sie hatte durch die vielen Stücke, in denen sie bereits die Naive spielte, auch ihre Lebenserfahrungen und da wußte sie, daß alte Mütter es häufig so an sich hatten, ihre Kinder, namentlich ihre Söhne, in das Gebet zu nehmen und sie zu ermahnen, sich und ihr Herz nicht an irgend ein junges Mädchen zu hängen, das sie aus irgend einem Grunde doch nicht heiraten können, weil sie es nicht wollen. Die Söhne aber bekamen bei der Gelegenheit zuweilen eine moralische Anwandlung und gelobten der Mutter, damit die in fünfundzwanzig Jahren, oder wann der Herr sie sonst zu sich rief, ruhig und unbesorgt sterben könne, deren Wunsch zu erfüllen und die Bande, die sie bisher mit der Geliebten verbanden, sofort zu lösen. Aber das nicht allein, manchmal waren die Söhne im Grunde ihres Herzens sogar sehr froh darüber, daß die Mütter ihnen ein solches ehrenwörtliches Versprechen abnahmen. Das entlastete deren eigenes Gewissen, da konnten sie mit noch besser gespielter Heuchelei als sonst erklären: „Ich gab mein Wort, das muß ich halten, selbst dann, wenn mein Herz darüber brechen sollte.” Als wenn Männerherzen überhaupt jemals brächen! Natürlich, ihr Egon bildete in der Hinsicht vielleicht, aber auch nur vielleicht, eine rühmliche Ausnahme, das wollte sie ihm gern zugestehen, wenn auch nicht gleich, so doch später. Jetzt hatte sie dazu keine Zeit, denn sie mußte sich rasch umkleiden.

So eilte sie denn nun in das Schlafzimmer, legte dort Rock, Bluse und das Korsett ab und schlüpfte schnell in den Hausanzug, bis sie nun überlegte, ob sie nicht auch lieber die Strümpfe ausziehen solle. Erstens sah das natürlicher und ungezwungener aus, zweitens gehörten eigentlich nackte Füße zu diesem Anzug, drittens wußte sie, daß sie außerordentlich hübsche, kleine Füße hatte, viertens liebte ihr Egon es so, wenn sie die kleinen Lackpantoffeln auf den nackten Zehen auf und ab wippte, fünftens würde auch der Doktor Friedel das sehr an ihr lieben, aber das durfte er nicht, denn er machte doch ihr, nicht ihren Füßen seinen offiziellen Besuch. Deshalb mußte sie unbedingt ein Paar Strümpfe anziehen, und als sie das gleich darauf getan hatte, war sie fertig. So, jetzt konnte der Doktor kommen, aber sie mußte ihm und auch ihrer Wirtin beweisen, daß sie gar keinen Besuch erwartete, und ihm mußte sie auch zu verstehen geben, daß sie seine Worte am Telephon deshalb gar nicht ernst nahm, weil er ihr keine Gelegenheit bot, ihm zu widersprechen, als er sich bei ihr anmeldete. Was sollte die Wirtin wohl auch von ihr denken, wenn die den Besucher bei ihr einließ und sie plötzlich in diesem Hausanzug sah, nachdem die sie vorhin noch in Rock und Bluse begrüßte. Dafür mußte sie der Frau eine Erklärung geben und zwar die allereinfachste. Sie hatte ganz plötzlich rasende Kopfschmerzen bekommen und das war ja auch weiter kein Wunder, wenn man seinen Geburtstag so einsam und allein verbringen mußte, wie sie es tat. Ja, sie hatte so rasende Kopfschmerzen, daß sie am liebsten den Theaterarzt kommen lassen und sich krank melden würde. Aber das ging nicht, sie durfte den Direktor nicht im Stich lassen, die Pflicht ging allem voran, und ehe sie es zugab, daß heute abend statt ihrer dieses Fräulein Käte ihre Rolle spielte, nach der die schon so lange gieperte, um die Rolle, wenn sie die erst einmal hatte, womöglich nicht wieder abzugeben, nein, ehe sie es zuließ, daß das Publikum sich mit einer so schlechten Darstellerin, wie es dieses Fräulein Käte war, zufrieden erklären mußte, da spielte sie trotz ihrer rasenden Kopfschmerzen doch lieber selbst. Das wollte sie der Wirtin auch erklären, wenn die, die es sehr gut mit ihr meinte und nach besten Kräften für sie sorgte, ihr zureden sollte, sich krank zu melden. Auf jeden Fall würde es die Frau Krause sehr verständig von ihr finden, daß sie es sich mit ihrem Anzug bequem gemacht hatte. Aber jetzt gleich mit der Wirtin darüber zu reden, wäre eine nicht wieder gutzumachende Dummheit gewesen, sie mußte damit warten, bis der Doktor nicht nur mit dem Auto vorgefahren war, sondern bis der draußen auf dem Korridor ihre Wirtin bat, ihn anzumelden. Dann mußte sie wie zufällig hinaustreten, so tun, als ob sie den Doktor auf dem glücklicherweise immer etwas halbdunklen Vorflur gar nicht sähe. Und dann würde sie der Frau Krause kurz ihre Leidensgeschichte erzählen. Das weitere würde sich dann finden.

Und das fand sich denn auch, als sie am Fenster stehend und zwischen den Gardinen hindurch auf die Straße hinabblickend die Ankunft des Autos bald darauf absichtlich übersah, um dann für ein paar Minuten in ihr Schlafzimmer zu gehen und dort die Tür fest hinter sich zuzumachen, um es vor Gott und vor ihrem Egon jederzeit mit gutem Gewissen beschwören zu können, sie habe es weder gehört, wie die Wirtin dem Doktor die Etagentür öffnete, noch wie die sich draußen mit ihm unterhielt. Na, ihr Egon würde es ihr schon glauben, daß sie durch diesen Besuch vollständig überrascht worden sei, selbst wenn sie den angenommen hätte. Aber sie wollte den Doktor gar nicht annehmen, deshalb ging sie nun aus dem Schlafzimmer in das Wohnzimmer und von da auf den Korridor, das heißt, sie wollte auf den hinaustreten, aber sie kam nicht dazu, denn ohne sich von der Wirtin erst anmelden zu lassen, trat plötzlich der Doktor bei ihr ein und das überraschte sie schon deshalb derartig, weil das nicht in ihrer Rolle stand, daß sie aus ehrlichstem Empfinden heraus nun einen ihr allerliebst stehenden kleinen Schrei der Überraschung ausstieß, um ihrem Besucher dann mit glänzend gespieltem Entsetzen zuzurufen: „Aber Herr Doktor, was fällt Ihnen denn nur ein? Sie sehen doch, daß ich keinen Besuch annehmen kann, ich bin ja im Hausanzug. Ich war im Begriff, mich etwas hinzulegen, ich habe mich umziehen müssen, ich bekam ganz plötzlich einen dummen Migräneanfall und ich muß doch heute abend spielen. Ich hätte meine Rolle brennend gern an Fräulein Käte abgegeben, aber ich weiß zufällig, daß die für heute beurlaubt ist, da kann ich den Direktor unmöglich im Stich lassen, deshalb müssen Sie unbedingt gleich wieder gehen, damit ich meine Ruhe habe. Ich wollte es Ihnen vorhin schon am Telephon sagen, daß mir da schon so wäre, als ob ich meine Migräne bekommen würde, aber Sie hatten ja plötzlich abgeklingelt — ja, aber warum sehen Sie mich denn nur so an, Herr Doktor?”

„Weil Sie mir entsetzlich leid tun, liebes Fräulein Lorelotte,” gab er anscheinend voll ehrlichster Anteilnahme zur Antwort, bis er nun hinzusetzte: „Wie kann man nur so jung, so hübsch, so naiv sein und doch schon zuweilen an Migräne leiden? Und dabei liegt zu der letzteren, soweit ich dabei in Betracht komme, gar keine Veranlassung vor. Ich habe vorhin da draußen mit Ihrer anscheinend sehr verständigen Wirtin geredet. Wenn Sie es ihm nicht selbst erzählen, wird unser gemeinsamer Freund nie etwas davon erfahren, daß ich es für meine gesellschaftliche Pflicht hielt, Ihnen endlich meinen offiziellen Besuch zu machen, nachdem unser Freund es bisher, Gott weiß aus welchem Grunde, versäumt hat, mich bei Ihnen einzuführen. Wie gesagt, ich habe mit Ihrer Wirtin geredet und die bestochen. Natürlich nicht sofort in bar, sondern erst mal gewissermaßen in unbaren Wechseln auf die Zukunft. Ich habe Ihrer Wirtin erklärt, ich wäre ein auswärtiger Direktor, der Sie engagieren wollte. Von diesen meinen Plänen und von meinem Besuch dürfe selbst dann kein Mensch jemals etwas erfahren, wenn sich unsere Verhandlungen zerschlagen sollten, und ich würde ihr, der Wirtin, deshalb in bar hundert Mark an dem Tage zahlen, an dem ich die absolute Gewißheit hätte, daß sie gegen keinen Menschen etwas davon erwähnte, daß ich mit meinem Kontrakt in der Tasche bei Ihnen war. Und nun sagen Sie selbst, Fräulein Lorelotte, habe ich das nicht nur sehr billig, sondern auch sehr schlau gemacht? Denn wann habe ich die Gewißheit, daß die Frau tatsächlich den Mund halten wird? Erst wenn sie tot ist, denn um die hundert Mark zu bekommen, muß die Frau sich von Tag zu Tag bis zu ihrer Sterbestunde im Schweigen üben. Und nun hoffe ich, daß es mit Ihrer kleinen Migräne schon etwas besser sein wird.”

„Ein klein wenig allerdings, aber nicht etwa, als ob meine Migräne den Grund hätte, den Sie vermuten, Herr Doktor,” gab Lorelotte zur Antwort. „Ich bin doch schließlich mein freier Mann, oder meine freie Frau, und kann in meiner Wohnung empfangen, wen ich will, aber wenn ich mir auch in der Hinsicht gar keine Gedanken machte, mit den Kopfschmerzen geht es tatsächlich ein klein wenig besser. Sie verstehen so nett und so lustig zu plaudern und ich war vorhin so allein, so schrecklich allein, noch dazu heute, wo ich mündig werde. das ist doch immerhin ein gewisser Lebensabschnitt und daß Egon mich gerade da allein läßt —”

„Das sieht dem vollständig ähnlich,” fiel der Doktor ihr rasch in das Wort, „denn mit Ausnahme der Männer, die eine Ausnahme bilden und zu denen Sie mich hoffentlich zählen, taugen die Männer alle nichts.” Bis er sie nun scharf ansehend, ganz plötzlich und unvermittelt fragte: „Nicht wahr, Fräulein Lorelotte, daß Sie heute einundzwanzig Jahre alt werden, das haben Sie dem guten Egon doch nur vorgeschwefelt?”

Es hätte nicht viel gefehlt und Lorelotte hätte bei diesen nach ihrer Ansicht mehr als indiskreten Worten des Doktors wirklich beinahe eine heftige Migräne bekommen. Wie kam der Mann dazu, in ihre Worte auch nur den leisesten Zweifel zu setzen? Sie mußte es doch am besten wissen, wie alt sie wurde, und vor allen Dingen, sah sie denn heute schon noch älter als einundzwanzig aus? Wie würde es ihr da erst ergehen, wenn sie eines Tages offiziell fünfundzwanzig wurde? Angst und Entsetzen packten sie, denn das Jungaussehen war für eine Naive alles, und so war sie nun dem Weinen nahe. Aber weinen durfte sie nicht, dadurch hätte sie sich leicht verraten und deshalb meinte sie nur: „Warum sollte ich dem Egon wohl etwas vorgeschwefelt haben? Wenn Sie mich besser kennten, Herr Doktor, würden Sie wissen, daß ich niemals schwefle, niemals.”

„Aber in diesem besonderen Falle haben Sie es doch getan, Fräulein Lorelotte,” gab der Doktor unbeirrt zur Antwort, „und ich will Ihnen auch sagen, weshalb. Einzig und allein, um endlich Ihr eigenes Telephon zu bekommen. Lediglich um das zu erhalten, haben sie sich älter gemacht, als Sie sind, denn daß Sie heute schon einundzwanzig werden, das glaubt Ihnen mit Ausnahme unseres Freundes, vorausgesetzt, daß er es glaubt —”

„Der glaubt es aber wirklich,” warf Lorelotte ein.

„Dann ist er mit Respekt zu sagen ein Hammel, oder sonst etwas, Fräulein Lorelotte, denn in Wirklichkeit sind Sie heute höchstens, aber auch allerhöchstens — warten Sie bitte mal einen Augenblick und lassen Sie sich eine Sekunde in aller Ruhe aus nächster Nähe betrachten. Dieser Hausanzug, auf den ich nachher noch zurückkomme, steht Ihnen ausgezeichnet und ich will gern zugeben, daß der Sie noch etwas jünger erscheinen läßt , als Sie es ohnehin sind, aber trotzdem, Fräulein Lorelotte, selbst auf die Gefahr hin, daß Sie mich wegen Beleidigung zur Tür hinauswerfen, weil ich Sie für zu alt halte, Sie werden heute neunzehn, neunzehn und nicht ein Jahr mehr, darauf lasse ich mich köpfen.”

„Im Ernst oder im Scherz?” fragte Lorelotte, deren Herz vor banger Erregung ganz laut schlug.

Der Doktor hob die Finger der rechten Hand zum Schwur: „Im Ernst, Fräulein Lorelotte, und nicht wahr, da habe ich auch recht?”

„Wenn Sie es denn absolut wissen wollen, Herr Doktor, ja, Sie haben recht,” kam es glückselig über Lorelottes Lippen, „aber nicht wahr, Herr Doktor, eins versprechen Sie mir, Egon darf nichts davon erfahren, sonst nimmt er mir das Telephon wieder weg. In seiner etwas überlegenen Art hat er mir stets erklärt, unmündige Kinder brauchten noch nicht ihr eigenes Telephon zu haben. Und auch sonst behandelt er mich so oft noch wie ein Kind, daß es mir schließlich langweilig wurde und daß ich beschloß, endlich mündig zu werden. Aber Sie sagten vorhin, Herr Doktor,” lenkte sie jetzt ab, „Sie wolten noch auf meinen Hausanzug zurückkommen. Sie finden es gewiß auch unpassend, daß ich Sie in dem empfange, aber ich hatte ja keine Ahnung, daß Sie wirklich kommen würden. Also was wollten Sie mir über diesen Anzug sagen?”

„Nicht allzuviel, Fräulein Lorelotte, nur daß ich es heute zum erstenmal in meinem Leben bedaure, nicht als Dichter auf die Welt gekommen zu sein. Denn wenn ich Stücke schreiben könnte, würde ich Ihnen eine Bombenrolle auf den Leib schreiben, in der Sie von der ersten bis zur letzten Szene in diesem Sie entzückend kleidenden Anzug auf der Bühne ständen. Für den Erfolg garantierte ich. Wenn das Publikum Sie so sehen könnte, es würde rasen. Es gäbe mindestens zehn Hervorrufe nach jedem Aktschluß, nach dem letzten Akt zwanzig und dann die Blumenspenden und dieLorbeerkränze. Ich sage Ihnen, Fräulein Lorelotte, das würde eine Sache werden,” und ganz geknickt schloß er: „Ach, warum bin ich nur kein Dichter.”

„Seien Sie froh, daß Sie wenigstens wie ein solcher fühlen,” versuchte Lorelotte ihn zu trösten, „und seien Sie froh, daß Sie auch in der Hinsicht anders sind als unser Freund Egon. Der ist zuweilen ein schrecklich prosaischer Mensch. der hat mich doch schon oft, nein, das natürlich nicht,” verbesserte sie sich rasch um ihrer selbst willen, „aber doch schon zuweilen, wenn ich an meiner dummen Migräne litt, in diesem Anzug gesehen, aber glauben Sie, der hätte sich auch nur ein einziges Mal gewünscht, ein Dichter zu sein, um für mich eine hübsche Rolle schreiben zu können? Auf so etwas ist er noch nie gekommen, und daß Sie das taten, finde ich so furchtbar nett von Ihnen, daß ich gar nicht weiß, wie ich Ihnen dafür danken soll.”

„Aber ich wüßte es schon, Fräulein Lorelotte,” warf er ein, sie dabei mit seinen hübschen dunkelblauen Augen voll ansehend, bis er nun bat: „Wie wäre es, Fräulein Lorelotte, wenn Sie mir zur Belohnung den Kuß gäben, den ich mir zur Feier Ihres Geburtstages schon so lange von ihnen wünsche?”

Lorelotte saß ihm verwirrt und befangen gegenüber. Sie war ihrem Egon bisher wirklich immer treu gewesen und sie hatte außer ihm, solange sie beide sich kannten, noch keinen anderen Mann geküßt und da sollte sie nun den Doktor —? Aber nein, das ging nicht, denn sie wollte ihrem Egon auch weiter treu bleiben, obgleich ein Kuß und noch dazu nur ein Kuß noch lange keine Untreue bedeutete. Und schließlich, auf der Bühne küßte sie sich auch mit dem einen oder dem anderen Kollegen, wenn das Stück es so mit sich brachte und wenn es beiden Teilen zu langweilig war, diese Küsse nur zu markieren. Aber der Doktor war keiner ihrer Kollegen und das war auch sehr gut, aber daß sie ihn küßte? Nein, unmöglich, höchstens, aber auch allerhöchstens, daß sie still halten würde, wenn er sie küßte, und daß sie das täte, hatte er um sie verdient. Einmal wegen der schönen Rosen, zweitens, weil er ihr durch seinen Besuch die dumme Migräne verjagte, drittens, weil er darauf schwur, sie sei erst neunzehn. Dafür mußte sie ihn sogar wiederküssen, wenn er sie geküßt hatte. Viertens, oder was sonst an der Reihe war, weil er sich ihretwegen wünschte, ein Dichter zu sein, und dann hatte er so hübsche dunkelblaue Augen und war auch sonst so hübsch, so daß sie ihm nun plötzlich ungeduldig zurief: „Aber Herr Doktor, warum küssen Sie mich denn nicht, wenn Sie so gerne in allen Ehren einen Kuß von mir haben wollen? Denn daß ich Sie zuerst küsse, das können Sie doch nicht von mir erwarten!”

„Und Sie dürfen nicht von mir erwarten, Fräulein Lorelotte, daß ich meinen Grundsätzen untreu werde. Dieses Opfer kann ich selbst Ihnen nicht bringen, so schön und so begehrenswert ich Sie auch finde, oder gerade deshalb nicht.”

Völlig verständnislos sah Lorelotte ihn an. Was wollte er mit seinen Wolrten sagen? Etwa, daß er es seinem Freunde Egon schuldig zu sein glaubte, daß er sich zwar von ihr küssen ließ, daß er aber nicht damit anfing? Das war einfach lächerlich, denn so groß war die Freundschaft zwischen den beiden gar nicht und wer konnte wissen, ob ihr Egon in einem ähnlichen Falle soviel Rücksicht auf ihn nehmen würde, wie dieser jetzt anscheinend auf ihn nahm? Oder lag etwas anderes vor? Gehörte er auch zu jenen Männern, deren Paschanatur es ein viel größeres Vergnügen bereitet, sich zuerst küssen zu lassen, bevor sie selbst küssen? Aber wie dem auch immer sein mochte, geküßt mußte jetzt werden, dazu waren die Vorbesprechungen über diesen Punkt zu weit gediehen, als daß man das Thema nun wieder hätte fallen lassen können. Das ging nicht und so fragte sie denn jetzt mit einer Stimme, der er ihre Enttäuschung, aber auch ihre Ungeduld anhören mußte: „Sagen Sie bitte, Herr Doktor, warum haben Sie mich denn immer noch nicht geküßt, obgleich ich Ihnen das zur Feier des Tages ausnahmsweise erlaubte?”

„Aus einem sehr einfachen Grunde, Fräulein Lorelotte,” gab er zur Antwort. „Ich deutete es vorhin schon an, ich habe in gewisser Hinsicht Grundsätze, und der eine Grundsatz meines Lebens, von dem ich selbst Ihnen zuliebe nicht abweichen darf, lautet dahin: niemals ein hübsches junges Mädchen zu küssen und mich niemals von dem wiederküssen zu lassen, bevor es nicht auf meinem Schoß sitzt. Nur dann, wenn ein junges Mädchen auf meinem Schoß sitzt, das sich zärtlich an mich schmiegt, so zärtlich, daß es sich in diesem Augenblick allen Ernstes einbildet, ich sei der Erste, bei dem es sich so einkuschelt, und nach mir würde nie wieder einer kommen, bei dem sie das täte, nur dann, wenn es das so felsenfest glaubt, daß es ihren Glauben auf mich überträgt, daß ich mit ihr glaube, ich sei der Erste und der Letzte, den sie küßt, nur dann kann ich küssen. Und da Sie, liebes Fräulein Lorelotte, immer noch nicht auf meinem Schoß sitzen —”

„Immer noch nicht, ist gut,” fiel Lorelotte ihm halb belustigt, halb vorwurfsvoll in das Wort, um ihn gleich darauf zu fragen: „Ja glauben Sie denn wirklich, Herr Doktor, daß ich jemals auf Ihrem Schoß sitzen werde?”

„Auf meinen Glauben kommt es da viel weniger an als auf den Ihrigen, Fräulein Lorelotte,” gab er zur Antwort. „Aber da Sie mich eben abermals so feierlich „Herr Doktor” nannten, möchte ich jetzt gleich die wichtige Angelegenheit mit Ihnen besprechen, die mich in der Hauptsache zu Ihnen führte, und da möchte ich die Frage an Sie richten: Warum nannten Sie mich am Telephon fortwährend „Herr Doktor” und nicht wie sonst „Doktor Friedel”, oder auch nur „Friedel”, wie Sie das bisher selbst dann taten, wenn wir nicht allein waren? Sie entsinnen sich, daß wir eines Abends bis zu einem gewissen Grade Brüderschaft miteinander getrunken haben. Wir haben diese unsere freundschaftliche Abmachung sogar mit einem heimlichen, verstohlenen Händedruck besiegelt, von dem außer uns beiden kein Mensch etwas bemerkt hat.”

„Aber Egon hätte es von mir aus gern bemerken können,” verteidigte Lorelotte sich, „und dafür, daß er das nicht tat, können wir beide nichts. Warum mußte er gerade in dem Augenblick einen langen Artikel in der Abendzeitung lesen, der ihn interessierte? Und wenn ich Sie heute am Telephon und auch bis jetzt „Herr Doktor” nannte, anstatt wie sonst „Friedel”, dann ist das wirklich nicht böse Absicht gewesen, ich wollte Sie dadurch auf jeden Fall nicht verletzen oder erzürnen, und nicht wahr, Sie sind mir deswegen nicht böse?”

„Ich war es ein ganz klein wenig, Lorelotte, nun ist es damit wieder vorbei,” beruhigte er sie schnell, um sie gleich darauf ganz unvermittelt zu fragen: „Und daß ich mich auf Ihren Schoß setze, da Sie sich nicht auf meinen setzen wollen, das wäre Ihnen wohl auch nicht recht?”

„Sie sind wohl ganz von Gott verlassen?” schalt Lorelotte ihn aus. „Ich zartes Geschöpf sollte Sie großen Menschen auf meinen Schoß nehmen?”

„Daß Sie mir da einen Korb geben würden, hatte ich mir allerdings selbst gedacht,” stimmte er ihr bei, „aber was machen wir da nur?” Und während er diese Frage an sie richtete, sah er sie mit so bittenden, flehenden, aber auch mit so traurigen Augen an, daß er ihr mehr als leid tat. Der Friedel war doch ein so guter Mensch und so hübsch und er hatte ihr die schönen Rosen geschenkt und er hielt sie erst für neunzehn und er hatte einen so hübschen und dabei ein klein wenig sinnlichen Mund, und obgleich sie ihm eigentlich gar nichts anging, wollte er sie heute nach dem Theater zum Abendessen einladen, und der Egon war in Berlin. Gewiß, das Telephongeschenk war ja sehr nett, aber einen lebenden Menschen konnte das ihr doch nicht ersetzen. Und es sprach auch sonst so vieles, so unendlich vieles zu Friedels Gunsten, viel mehr noch als sie im Augenblick wußte! Und so saß sie denn plötzlich auf seinem Schoß! Hatte sie sich auf den gesetzt, war sie mit einem übermütigen Satz auf den gesprungen, hatte er sie wider ihren Willen dorthin gezogen? Das war ihr nicht ganz klar, aber das war auch einerlei, sie fragte nicht danach und er tat es erst recht nicht. Er zog sie nur an sich und sie schmiegte ihren Kopf an seine Brust, legte ihren Arm um seinen Hals und kuschelte sich bei ihm ein. Und er sprach mit leiser, ach so wohlklingender, schmeichelnder und sie süß berauschender Stimme auf sie ein und da hörte sie es aus jedem seiner Worte heraus, er war doch ein Dichter. Wenigstens ein halber und vielleicht, nein sicher, schrieb er ihr noch eines Tages eine Bombenrolle auf den Leib, in der sie sich auf der Bühne in ihrem Hausanzug zeigen konnte. Und sie hörte schon den donnernden Beifall, der natürlich nur ihr, ihrer Erscheinung und nicht dem Werke des Verfassers galt. Sie sah die Blumenkörbe und die Lorbeerkränze, die ihr auf die Bühne gereicht wurden, sie sah ihre Kolleginnen, die in den Kulissen standen und dort vor Neid und vor Wut zitterten, sie las im Geiste die Kritiken, die da berichteten: der gestrige Abend hat es uns wieder bewiesen, Deutschland besitzt augenblicklich nur eine Naive, nur eine Künstlerin, die naive Rollen in der Vollendung zu spielen vermag, weil sie die nicht nur spielt, sondern die erlebt, und diese Naive ist unser Fräulein Lorelotte, die trotz ihrer Jugend, denn wie wir zufällig wissen, ist diese selten begabte Künstlerin kürzlich erst neunzehn Jahre geworden — ach, das und vieles andere las sie in diesem Augenblick in den Blättern, das und vieles andere dachte sie und da hatte sie ihren Egon, nein den Friedel, plötzlich so lieb, daß sie ihn küssen mußte. Und sie küßte ihn und schon weil der erste Kuß noch schöner war als alle anderen, nahm der gar kein Ende, und während sie den Friedel küßte und dabei im Paradiese weilte, dachte sie an ihren Egon, denn dem war sie doch treu, oder den hatte sie wenigstens lieb. Nein, lieb hatte sie ihn bestimmt und treu war sie ihm auch und schließlich kam es auch viel weniger auf die Treue an als auf die Liebe, oder war es umgekehrt? Darauf konnte sie sich im Augenblick nicht mehr besinnen, sie konnte überhaupt keinen klaren Gedanken mehr fassen, denn so wie der Friedel sie küßte, hatte sie noch nie ein Mann geküßt, und da mußte sie ihn schon ebenso wiederküssen, damit er merkte, daß sie noch nie einen anderen Mann küßte, wenigstens nicht so. Das war sie auch ihrem Egon schuldig, daß sie den Friedel in ganz anderer Art wiederküßte, denn die Küsse, die sie ihrem Egon zu geben pflegte, Küsse der Gewohnheit, der alltäglichen Liebe und der Anhänglichkeit, gehörten dem, dem allein. Die durfte sie ihm nicht nehmen, dann hätte sie treulos an ihm gehandelt, und daß sie so küssen konnte, wie sie es jetzt tat, durfte ihr Egon gar nicht wissen, das hatte sie bis zu dieser Minute selbst nicht gewußt. Da nahm sie also mit diesen Küssen ihrem Egon nichts fort, im Gegenteil, diese Küsse durfte sie ihm gar nicht zeigen, denn wer konnte wissen, ob die ihm an ihr gefallen hätten.

Aber dem Friedel gefiel es, wie sie ihn küßte, das merkte sie daran, wie er sie immer fester an sich preßte. Aber ihr gefiel es auch, wie sie küßte, das merkte sie daran, wie sie sich an ihren eigenen Küssen berauschte, nur an ihren eigenen, nicht an denen des Friedels, denn an den durfte sie bei ihren Küssen überhaupt nicht denken, sie hatte doch ihren Egon, und wenn sie den Friedel küßte, geschah es nur, aber auch nur, weil der Egon nicht da war, obgleich sie heute ihren Geburtstag hatte. Ach ja, es gefiel ihr selbst sehr gut, wie sie küßte. Das war süß, und süß war der Rausch, der dabei ihre Glieder durchströmte, aber dafür konnte sie nichts und daraus durfte ihr Egon ihr später nie einen Vorwurf machen, denn sie hatte doch auch Blut in den Adern und war noch so jung. Eben erst fünfundzwanzig geworden, nein einundzwanzig, nein neunzehn. Und als sie bei dem Rückwärtszählen bei der neunzehn angekommen war, da küßte sie den Friedel noch einmal so heiß und so wild wie bisher und er preßte sie so stürmisch an sich, als wolle er sie nie wieder loslassen — und da klingelte plötzlich das Telephon.

Das war gemein! Aber das nicht allein, auf den Tod erschrocken mit einem halb unterdrückten Schrei der Angst und des Entsetzens, als sei sie bei einm Verbrechen ertappt, obgleich sie nicht einmal eins hatte begehen wollen, machte Lorelotte sich aus den Armen des Doktors los und rief dem zu: „Sicher hat Egon eben angeklingelt.”

Aber der Doktor widerprach. „Nein, Lorelotte, der Egon ist es nicht, wenigstens klingelt der nicht direkt, sondern indirekt. Vorläufig ist es nur das Fräulein vom Amt, aber nun gehen Sie mal hin und hören Sie, was los ist.”

Da klingelte das Telephon zum zweitenmal, jetzt aber Sturm, und Lorelotte rief in den Apparat hinein: „Ja, ja, Fräulein, ich höre ja schon, Sie müssen einem aber doch wenigstens soviel Zeit lassen, daß —” aber das Fräulein vom Amt hörte weiter gar nicht zu, sondern rief dazwischen: „Sie werden aus Berlin verlangt.”

Also doch der Egon, als wenn sie das nicht gewußt hätte! Aber es war auch weiter kein Wunder, daß er sie gerade jetzt anrief, er hatte sie ebenso lieb, wie sie ihn, er war ihr treu, wie sie ihm, da mußte er es instinktiv erraten haben, daß ihre Gedanken in der letzten halben Stunde nur, oder wenigstens in der Hauptsache, oder wenigstens vergleichsweise, oder wenigstens vorübergehend nur bei ihm geweilt hatten, und da wollte er ihr nun dafür danken, daß sie ihn nicht vergaß, obgleich er nicht bei ihr war. So wartete sie voller Liebe auf das, was er ihr zu sagen hätte, und wenig später meldete er sich selbst: „Bist du noch da, kleine Lorelotte? Ja? Das trifft sich famos, ich fürchtete, du wärest bei dem schönen Wetter doch etwas spazieren gegangen. Aber was ich dir sagen wollte, ich habe mich noch einmal dringend mit dir verbinden lassen, um dir gleich mitzuteilen, daß ich nun morgen abend doch noch nicht wieder nach Hause kommen kann. Meine alte Dame hat mich gebeten, noch ein paar Tage bei ihr zu bleiben. Ich hatte das vorausgesehen und deshalb gleich einen längeren Urlaub genommen, von dem ich dir aber nichts sagte, um dich dadurch zu überraschen und zu erfreuen, daß ich trotz des Urlaubs früher zu dir zurückkäme. Na, nun läßt sich das bei dem besten Willen nicht einrichten und da wollte ich dich bitten, nicht wahr, du bist mir nicht böse und behältst mich auch lieb, wenn ich das Wiedersehen etwas hinausschieben muß? Es handelt sich nur um zweiundziebzig Stunden, die werden dir auch schon einmal ohne mich vergehen.”

Während ihr Egon zu ihr sprach, hatte sie keinen Blick von dem Friedel abgewandt, der neben ihr am Apparat stand und der ihr nun, da er das Gespräch mit anhörte, bei den letzten Worten, die da aus Berlin an ihr Ohr klangen, lebhaft und beistimmend zunickte.So meinte sie jetzt, wenn auch mit einer Stimme, der er deutlich ihre Enttäuschung anhören mußte: „Da hast du recht, Egon, vergehen werden mir die zweiundsiebzig Stunden auch schon ohne dich, es kommt nur darauf an wie,” und als der Friedel ihr da abermals sehr lebhaft mit dem Kopfnicken zustimmte, fuhr sie schnell fort: „Daß ich dich trotz der langen Trennung lieb behalten werde, ist selbstverständlich, ich wüßte auch wirklich nicht, in welchen anderen Mann ich mich so rasch verlieben könnte. Gerade deshalb fehlst du mir sehr, aber das sehe ich schließlich, wenn auch schweren Herzens, ein. Deine alte Dame geht mir vor, und wenn du nun schon mal deinen Urlaub hast, nütze ihn auch nur aus. Na, hoffentlich telephonierst du mich inzwischen wenigstens noch einmal an, damit ich deine liebe Stimme höre,” aber da sie in diesem Augenblick sah, daß der Friedel sehr energisch den Kopf schüttelte, fuhr sie rasch fort: „Nein, nein, Egon, ich habe es mir eben überlegt, klingle mich lieber nicht mehr an. Es wäre doch immerhin möglich, daß ich nicht zu Hause wäre, da geht meine Wirtin vielleicht in mein Zimmer und stöbert bei der Gelegenheit in meinen Sachen herum, und das möchte ich denn doch nicht. Ich habe es mir auch schon überlegt, ob es nicht praktischer wäre, wenn ich mir noch ein zweites Telephon auf dem Korridor anlegen ließe, damit meine Wirtin wenigtens die Bestellungen für mich annehmen kann, wenn ich nicht da bin, oder wie gerade jetzt vor Stumpfsinn und vor Langerweile etwas schlafen wollte. Doch darüber reden wir am besten wohl mündlich.”

„Sprechen Sie noch?” erklang da die Stimme des Fräuleins vom Amt, „die drei Minuten sind um.”

Und ehe Lorelotte recht wußte, wie ihr geschah, war sie wieder von ihrem Egon entbunden und halb ärgerlich, halb lachend wandte sie sich wieder ihrem Besucher zu: „Wissen Sie, Friedel, eigentlich ist das Telephon noch nicht ganz auf der Höhe. Daß man so plötzlich und unvermutet angerufen wird, wie vorhin, das gefällt mir nicht. Ich habe weiß Gott einen Schrecken bekommen.”

„Das liegt einzig und allein daran, Fräulein Lorelotte,” fiel er ihr in das Wort, „daß Sie noch nicht die richtigen Telephonnerven haben, die werden Sie aber mit der Zeit schon bekommen. Nun aber, da wir hoffentlich keine weitere Störung zu befürchten haben —”

Er sprach nicht zu Ende, aber Lorelotte verstand ihn, da er sich wieder auf seinen Stuhl gesetzt hatte und die Arme sehnsüchtig nach ihr ausbreitete, auch so. Doch sie schüttelte nur den Kopf. Ihre Kußstimmung war verflogen, die hatte das dumme Telephon zerrissen, und wenn sie das im voraus gewußt hätte, da würde sie sich doch lieber etwas anderes gewünscht haben. Aber nein, sie wollte und durfte nicht undankbar sein, das hatte ihr Egon nicht um sie verdient, denn hätte er ihren Wunsch nicht erfüllt, dann säße der Friedel jetzt nicht bei ihr, dann hätte sie den, nein dann hätte der sie nicht küssen können, hätte es wenigstens nicht heute schon getan, obgleich sie nicht geglaubt hätte, daß der Tag überhaupt jemals kommen würde. Nun aber war er da, und das tat ihr auch nicht leid. Sie empfand deswegen keine Gewissensbisse und das verdankte sie dem Friedel, weil der sie auch jetzt noch wie bisher „Fräulein Lorelotte” und „Sie” nannte und es nicht wagte, sie plump vertraulich mit dem „Du” anzureden, nur weil sie ihm eine Freude machte und ihm erlaubt hatte, sie zu küssen. Selbst ihr Egon hatte nach den ersten Küssen sehr schnell „Du” zu ihr gesagt, ohne sie danach zu fragen, ob ihr das auch recht wäre. Allerdings lag die Sache damals auch ein klein wenig anders. Da war ihr Herz noch frei, jetzt aber gehörte das ihrem Egon, und daß der Friedel diese Tatsache in so vornehmer ritterlicher Weise respektierte, das nahm sie noch mehr für ihn ein als alles andere, was ihr sonst so gut an ihm gefiel. Und das wirklich Vornehme an ihm war, daß er nicht einmal einen Dank dafür erwartete oder verlangte, daß er nur deshalb so handelte, weil er aus seiner ganzen Gesinnung heraus nicht anders handeln konnte. Aber gerade weil er auf keinen Dank zählte, mußte sie ihm beweisen, daß es ihrer vornehmen Gesinnung entsprach, keinem Menschen den wohlverdienten Dank schuldig zu bleiben, und so saß sie denn plötzlich doch wieder auf seinem Schoß und sie küßten sich, bis sie sich beide wenigstens für den Augenblick satt geküßt hatten und bis sie endlich dazu kamen, das Programm für den Abend festzusetzen: „Wenn es nach mir ginge, Fräulein Lorelotte,” meine Doktor Friedel liebenswürdig, „würde ich Sie den ganzen Tag unter meine schützenden Fittiche nehmen und nicht nur für Ihr leibliches Wohlergehen, sonden nach bestem Können auch für Ihr Vergnügen sorgen. Aber das geht ja nicht, Ihre Pflicht ruft Sie am Abend ins Theater, Sie müssen dort arbeiten, während wir anderen uns dort amüsieren und uns auf das beste unterhalten.”

Lorelotte fand, daß der Friedel das wieder sehr hübsch gesagt hätte. Und wenn sie es sich richtig überlegte, lag doch eigentlich eine große Tragik darin, daß sie selbst an ihrem Geburtstag arbeiten und dem Publikum diese elende Komödie vorspielen mußte, anstatt daß auch sie sich einmal amüsierte. Ja ja, das Leben der Künstlerinnen war nicht so leicht und so einfach, wie die große Menge es sich dachte, aber auf der anderen Seite hat es auch seinen großen Reiz, der namentlich in der treuesten Pflichterfüllung lag, und deshalb meinte sie nun: „Daß ich in dem Schmarren heute abend wieder spielen muß, läßt sich leider nicht ändern, da haben Sie recht. Aber was werden Sie inzwischen anfangen, denn daß Sie sich das Stück nochmals ansehen —”

„Erlauben Sie mal, Fräulein Lorelotte,” unterbrach der Doktor sie galant, „ich werde mir auch heute abend nicht das Stück, sondern nur Sie ansehen, genau so, wie ich das bisher an allen den Abenden tat, an denen ich in das Theater ging. Das Stück reizt mich gar nicht, aber Sie selbst, Lorelotte, reizen mich dafür desto mehr.”

„Wollen Sie wohl still sein, Friedel, so etwas darf ich aus Ihrem Munde nicht ruhig anhören,” schalt Lorelotte, wenn sie auch nur so tat, als ob sie schelte, und damit er nicht etwa glaube, sie sei ihm wegen seiner Worte böse, setzte sie schnell hinzu: „Daß Sie nur meinetwegen in das Theater gehen, ist furchtbar lieb von Ihnen. Offen gestanden, gedacht habe ich mir das natürlich schon lange, aber heute höre ich nun endlich einmal von Ihnen, daß dem tatsächlich so ist. Dafür will ich mich Ihnen gegenüber auch dankbar erweisen und heute nur für Sie spielen. Bei jedem Wort will ich nur an Sie denken. Wenn ich mich umkleide, will ich das nur für Sie tun und in den kurzen Szenen, in denen ich leider mehr meinen Wuchs als meine Kunst zeigen kann und in denen ich mich so oft für den Dichter geschämt habe, weil ihm sonst nichts eingefallen ist, da will ich mich heute Ihretwegen freuen, Friedel, daß dem Verfasser nichts einfiel.”

„Und ich werde mich mit Ihnen freuen, Lorelotte,” stimmte er ihr lebhaft bei, bis er fragte: „Und was machen wir nach dem Theater? Daß wir zusammen essen und mindestens bei einer Flasche Sekt diesen Tag des Herrn feiern, ist klar, aber wo essen und trinken wir? Ich würde Sie sehr gern in ein Restaurant führen, aber man würde uns sehen und erst recht über uns reden. Das aber muß unter allen Umständen Ihretwegen vermieden werden. Nicht etwa, Lorelotte, als ob Ihr guter Ruf schon darunter litte, daß Sie sich öffentlich an meiner Seite zeigen, aber die böse Welt könnte sich in Vermutungen und in Verdächtigungen ergehen, vor denen ich Sie um Ihrer selbst willen bewahren muß. Und deshalb wäre es das beste und das sicherste, Sie äßen mit mir zusammen in meiner Wohnung.”

„Aber Friedel, Doktor, das — das geht doch erst recht nicht,” fiel Lorelotte ihm in das Wort, „was würden die bösen Menschen wohl dazu sagen, wenn die von diesem meinem Schritt etwas erführen?”

„Die Menschen aber erfahren nichts von dem,” beeilte der Doktor sich, sie zu beruhigen. „Das Parterre, das ich bewohne, hat zwei Eingänge, den Haupteingang von der Straße, einen anderen von hinten durch den Garten. Die Leute, die über mir in der kleinen Villa wohnen, sind verreist und haben ihre Dienstboten beurlaubt. Mein Diener würde Sie nicht zu sehen bekommen, wir bedienen uns bei Tisch selbst, es spricht also alles dafür, daß Sie zu mir kommen und daß wir uns nicht öffentlich zeigen.”

„Teilweise haben Sie sicher recht, Friedel,” warf Lorelotte nach kurzem Besinnen ein, „aber trotzdem, ich muß vorsichtig sein, ich muß damit rechnen, daß es durch einen unglücklichen Zufall doch irgendwie herauskommen könne, daß ich bei Ihnen war, und wenn ich auch selbstverständlich nichts dabei finde, aber sagen Sie selbst, Friedel, was würden Sie wohl dazu sagen, wenn Sie eine Freundin hätten und erführen, daß die eines Abends während Ihrer Abwesenheit mit einem Herrn zusammen in dessen Wohnung zur Nacht gespeist hätte?”

„Das käme in erster Linie auf meine Freundin an, Fräulein Lorelotte,” beruhigte der Doktor sie. „Wäre die mir so treu, wie Sie es Ihrem Egon sind, und hätte die mich so lieb, wie Sie Ihren Egon, dann könnte die meinetwegen jeden Abend mit einem Dutzend Herren zusammen in deren Wohnungen essen , denn ich hätte ja die absolute Gewißheit, daß meine Freundin mir weder in Gedanken noch sonst irgendwie untreu würde. Um aber auf uns beide zurückzukommen, da meine ich: daß ich etwas Unrechtes von Ihnen verlangen würde, Lorelotte, das glauben Sie hoffentlich nicht, und selbst wenn Sie es glauben sollten, was ich Ihnen nicht einmal übelnähme, denn Sie wissen ja, wie ich Sie liebe und begehre — aber daß Sie nichts Unrechtes tun werden, das glauben Sie nicht nur ganz bestimmt, das wissen Sie sogar.”

„Und ob ich das weiß, Friedel,” pflichtete Lorelotte ihm bei, „denn wenn ich das nicht einmal wüßte, wäre es ja traurig. Ich kenne mich ganz genau und deshalb, weil ich meiner ganz sicher bin und weil ich auch weiß, daß Sie von mir wissen, wie treu ich dem Egon bin und daß ich Sie nie erhören werde, trotzdem Ihre Liebe zu mir beinahe rührend ist, also schön,” unterbrach sie sich plötzlich, „ich komme zu Ihnen, ich komme. Ich kann, je länger ich darüber nachdenke, nichts Unrechtes darin finden, und daß Egon nicht da ist, ist seine eigene Schuld, wäre er hier, würde er selbstverständlich mit zu Ihnen kommen. Ich tue also nichts, was ich nicht auch tun würde, wenn er hier wäre.”

„Ganz meine Ansicht,” stimmte der Doktor ihr so ernsthaft bei, daß er dadurch ihre letzten Bedenken verscheucht haben würde, wenn sie die noch gehabt hätte. Dann verabredeten sie noch die weiteren Einzelheiten für den Abend, und als der Doktor sie eine halbe Stunde später verlassen hatte, dachte Lorelotte voller Liebe und voller Trauer an ihren Egon. Es tat ihr zu leid, daß der an dem üppigen Schlemmeressen, das der Doktor ihr vorsetzen würde, nicht teilnehmen konnte, denn zu dritt würde der Abend sicher noch lustiger verlaufen als nun zu zweit. Aber auch das hatte seinen Reiz. Allerdings, wenn sie mit ihrem Egon zu zweit war, sehnte sie sich oft nach einem Dritten, der ihr etwas den Hof machte, denn ihr Egon hatte es sich schon lange abgewöhnt, um ihre Gunst zu werben, seitdem er die besaß, und das war sehr unrecht von ihm, aber auch sehr dumm, denn da setzte er sich durch seine eigene Schuld der Gefahr aus, ihre Liebe und ihre Treue eines Tages zu verlieren, und wenn sie nur im geringsten so veranlagt wäre, wie viele andere junge Mädchen es waren, wer konnte wissen, ob sie ihm da nicht schon längst die Treue gebrochen, nein, das nicht, aber ihm ihre Liebe entzogen hätte? Aber sie hatte glücklicherweise für so etwas kein Talent. Wenn sie liebte, dann liebte sie, und war sie treu, dann war sie auch treu, so treu, daß es für sie keinen anderen Mann auf der ganzen Welt gab. Das hatte sie vorhin auch dem Friedel bewiesen, denn sonst hätte sie den ganz anders geküßt, so wie sie ihren Egon zu küssen pflegte, und so würde sie auch heute abend den Friedel nicht küssen, wenn sie sich ihm bei dem Abschied, oder während des Essens, oder noch besser, damit sie es hinter sich hätte, gleich bei ihrem Kommen durch ein paar Küsse dafür dankbar zeigte, daß er sich heute ihrer annahm. Um das Küssen würde sie schon nicht herumkommen, na, eine Liebe war auch schließlich der anderen wert und es war sehr, sehr lieb von ihm, daß er sie heute abend nicht allein in ihrer Wohnung Trübsal blasen ließ. Ein paar Küsse verpflichteten zu nichts und weiter würde ja auch nichts zwischen ihnen vorfallen, in der Hinsicht konnte sie sich Gott sei Dank auf seine Ritterlichkeit, auf ihren Charakter und auf ihre Liebe und auf ihre Treue zu ihrem Egon verlassen.

So ging Lorelotte denn am Abend, nachdem sie im Theater nur für Doktor Friedel gespielt und sich nur für den aus- und umgezogen hatte, zu dem Doktor in die Wohnung, um dort mit ihm zu essen, zu trinken und zu plaudern, feslenfest davon überzeugt, daß zwischen ihnen beiden nicht das geringste Unerlaubte vorfallen würde, denn sonst ginge sie selbstverständlich auch nicht zu ihm, aber sie hoffte doch ein ganz klein wenig, daß wenigstens etwas halbwegs Unerlaubtes zwischen ihnen vorfallen möchte, denn sonst verlohnte es sich gar nicht, zu ihm zu gehen, da hätte sie auch zu Hause bleiben und dort ihr Abendessen verzehren können.

Aber als Lorelotte ein paar Stunden später wieder zu Hause war und in ihrem Bett lag, da mußte sie sich eingestehen, daß zwischen ihr und dem Friedel tatsächlich noch viel weniger vorgefallen war, als sie es trotz aller guten Vorsätze auf beiden Seiten für möglich gehalten hätte. Der Friedel hatte sich tatsächlich als ein Ehrenmann und als ein Mann von Grundsätzen erwiesen. Er war ihr in keiner Weise zu nahe getreten, nur geküßt hatten sie sich beide und sie hatte dabei auf seinem Schoß gesessen und dabei hatten sie miteinander geplaudert, eigentlich nur über die gleichgültigsten Dinge von der Welt. Worüber sie sprachen, wußte sie jetzt nicht mehr, bis es ihr nun wieder wenigstens zum Teil einfiel. Ach so, ja richtig, sie hatte dem Friedel versprochen, mit ihrem Egon, sobald der erst wieder zurück war, bei der ersten besten Gelegenheit einen Streit vom Zaune zu brechen, ihm für immer die Freundschaft, die Liebe und die Treue zu kündigen und dann seine, des Friedels, ach ihres lieben, süßen Friedels Freundin zu werden.

Gewiß, leicht würde es ihr nicht werden, sich von ihrem Egon zu trennen, denn sie hatte ihn doch lieb gehabt und er hatte ihr das Telephon geschenkt, aber trotzdem, es mußte sein, und wenn es zu dieser Trennung gekommen war, dann war das einzig und allein Egons Schuld. Warum war er nach Berlin gefahren, oder wenn er schon dorthin fahren mußte, warum nahm er sie da nicht mit sich, sondern ließ sie hier weiter allabendlich diese elende Komödie spielen? Diese Reise mit ihm wäre wenigstens mal eine kleine Abwechselung gewesen, und sobald sie die Freundin ihres geliebten Friedels geworden war, wollte der ihr wenigstens acht Tage Urlaub auswirken und mit ihr eine Reise nach Berlin machen. Ach, sie war ja so glücklich und sie hatte ihren Friedel genau so lieb, nein noch viel lieber, als sie ihren Egon gehabt hatte. Aber wie hatte ihr Friedel doch einmal gesagt, als er sich in Egons Gegenwart um ihre Gunst bewarb: Wenn ein Frau oder eine Freundin ihrem Mann oder ihrem Freund untreu wird, ist das immer die Schuld des Mannes.

Und auch in diesem Falle war das nur Egons Schuld, nur, nur! Wenn sie an seiner Stelle wäre, würde sie sich überhaupt schämen, ihr noch einmal gegenüberzutreten. Aber das war das Gute, sie selbst brauchte sich, wenn sie ihm den Abschied gab, nicht das Geringste vorzuwerfen, nicht das Allergeringste. Sie konnte ihm offen und frei in die Augen sehen, denn sie war ihm selbst während seiner Abwesenheit in jeder, aber auch in jeder Hinsicht treu gewesen.


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© Karlheinz Everts