Geschichten von der Lore:
IV.
Das erste und letzte Wiedersehen.

in: Weimarisches Sonntagsblatt, Unterhaltungs-Beilage zur
„Allg. Thür. Landeszeitung Deutschland” vom 6.Aug. 1922
und in: „Die Lore”, O. Uhlmann, Berlin, 1926

Die Lore war mir untreu geworden und das ging mir, offen gestanden, doch sehr nahe, so nahe, daß ich es nicht einmal fertig brachte, mir, wie ich es ihr einst erklärte, gleich eine neue Freundin zu suchen. Und nicht nur, daß ich unbeweibt blieb, nicht nur das, wenn ich die Lore fortan irgendwo sah, gab es mir jedesmal einen nicht unbedeutenden Schmerzensstich in die Gegend, wo das Herz sitzt, und der wurde eher größer als kleiner, wenn die Lore mich im Vorübergehen sehr freundlich grüßte und mir zunickte, denn das tat sie. Es gibt ein Wort: Ein jedes weibliche Wesen hat für den Mann, den es betrog, weiter nichts übrig als einen Blick grenzenloser Verachtung. Aber die Lore machte darin eine rühmliche Ausnahme, die verachtete mich nicht, sondern sie grüßte mich auch weiterhin immer so nett und zutraulich, als wäre sie nach wie vor meine Freundin, der ich zurzeit des Wolzogenschen Überbrettls, als das Lied vom rosaroten Himmelbett überall erklang, einmal zu Weihnachten ein solches hatte schenken müssen, nein, schenken dürfen. Und die Erinnerung an dieses Himmelbett und manches andere, das mit Lores Verlust zusammenhing, ließen es mich doppelt freudig begrüßen, als ich eines Tages von einer großen Berliner Zeitung die Aufforderung zur ständigen Mitarbeiterschaft erhielt und als ich dadurch gezwungen wurde, nach Berlin zu übersiedeln. Dort wollte und dort würde ich die Lore vergessen.

Aber das tat ich denn doch nicht, und die Lore vergaß mich auch nicht, denn es dauerte gar nicht allzu lange, da schrieb sie mir, sie hätte meine Adresse durch einen gemeinsamen Bekannten erfahren und da müsse sie mir doch mitteilen, was mich sicher sehr interessieren würde, es sei mit ihrem Direktor aus, ganz aus: „Er hat mich zu fürchterlich betrogen, lieber Freund, mich noch viel mehr als ich damals, als wir noch zusammen lebten, Dich, denn nun kann ich es Dir ja gestehen, ohne daß Du es weiter tragisch nehmen wirst, wirklich treu bin ich Dir eigentlich nie gewesen, dafür hattest Du zu viele Freunde, die mich alle hübsch fanden, aber trotzdem, geliebt habe ich immer nur Dich. Den Direktor, so nett er auch zu mir war, aber wohl nie, denn sonst würde ich nicht so froh darüber sein, daß es nun mit dem aus ist. Er hat mir zum Abschied zehntausend Mark geschenkt und außerdem einige sehr hübsche Kleider für die Bühne, denn ich werde jetzt Schauspielerin werden. Ich hoffe, Du wirst bald in den Zeitungen von mir und meinen Erfolgen lesen.”

Nein, von ihren Erfolgen las ich nichts, aber ich hörte doch zuweilen von ihr, schon weil sie die Anhänglichkeit hatte, sich in jedem Jahre meines Geburtstages zu erinnern und mir zu dem irgendeine Kleinigkeit zu schenken, denn die Lore wußte, daß gerade ich für jedes kleine Geschenk mehr als dankbar bin. Aber sie wußte auch noch eins, daß ich es nicht liebe, wenn jemand für mich auch nur den kleinsten Betrag ausgibt, und daß ich ihm den dann sofort zurückerstatte. Und deshalb schrieb mir die Lore in ihren Geburtstagsbriefen und auch, wenn sie mir zu Weihnachten etwas schickte, stets, da ich es ja nun einmal nicht anders wolle, was ihre Gaben sie gekostet hätten. Und gar manchesmal wären die Sachen für die damalige Friedenszeit mehr als unverschämt teuer gewesen, wenn sie wirklich das gekostet hätten, was die Lore schrieb. Aber ich nahm ihr da nicht einen Augenblick übel, sondern schloß daraus, daß es ihr finanziell nicht zum besten ginge, und sandte ihr stets den verauslagten Betrag, manchmal sogar doppelt und dreifach, zurück.

Bis die Lore mir dann vielleicht nach fünf oder sechs Jahren schrieb, sie hätte bei der Bühne, wie sie es von Anfang an auch nicht anders erwartet, letzthin einen sensationellen Erfolg gehabt, ein Kunst- und Sachverständiger, der außerdem sehr reich wäre, habe sie spielen sehen und wäre von ihrem Spiel, aber auch von ihrer ganzen Erscheinung so hingerissen gewesen, daß er ihr den denkbar glänzendsten Antrag gemacht habe, den sie sich nur wünschen könne, nämlich einen Heiratsantrag. Allerdings habe er daran die Bedingung geknüpft, daß sie mit ihrer Vergangenheit und mit ihren alten Freunden breche.

Und die Lore brach, wie ich es nie geglaubt hätte(1), daß ein Mensch brechen könne. Sie brach so intensiv und andauernd, daß selbst ich nichts mehr von ihr hörte, bis ich dann abermals nach einer Reihe von Jahren von ihr die Nachricht erhielt, daß ihr Mann ganz plötzlich einem Gehirnschlag erlegen sei.

Abermals gingen ein paar Briefe, aus denen ich zu meiner Freude erfuhr, daß ihr Mann sie in den besten Verhältnissen zurückgelassen habe, zwischen uns hin und her, dann hörte die Korrespondenz wieder auf, bis dann abermals nach einer Reihe von Jahren ein Brief von der Lore, die in Süddeutschland lebte, kam, in dem sie mir schrieb, eine Reise führe sie in die Gegend von Weimar, wo ich, wie sie inzwischen erfahren, meinen Schreibtisch und mein Tintenfaß aufgestellt habe. Sie müsse mich nun unbedingt einmal wiedersehen, zumal sie mit aufrichtigem Bedauern gehört habe, daß es mir nicht zum besten gine und daß ich viel und vielerlei hätte durchmachen müssen. Sie bat mich, ihr gleich zu schreiben, ob sie zu mir kommen dürfe. Und ich schrieb ihr nicht nur, sondern ich telegraphierte ihr sogar „Herzlich willkommen!” und in freudiger Erwartung des Wiedersehens kam mir plötzlich die Frage: Was wird die Lore bei dem Wiedersehen als erstes zu dir sagen, zu dir, der ihr doch einst sehr nahe stand(2), zu dir, dem sie in mancher Hinsicht viel verdankt und von dem sie weiß, daß er inzwischen wirklich sehr viel, aber leider sehr wenig Erfreuliches durchgemacht hat. Was wird sie als erstes zu dir sagen?

Und was sagte sie mir als erstes, als sie mir bald darauf eines Nachmittags in meiner Wohnung gegenüberstand? Ein Wort des Trostes, des Mitgefühls, der Freude, daß ich trotz alledem noch lebte? I wo, keine Spur, sondern mich mit glückstrahlenden, lachenden Augen ansehend, sagte sie: „Sag' selbst, lieber Freund, sehe ich nicht einfach blendend aus?”

Ein etwas anderes erstes Wort hatte ich ja eigentlich aus ihrem Munde erwartet, aber mit dem, was sie sagte, hatte sie recht, sie sah tatsächlich blendend aus, sie war sogar hübscher geworden, als sie es früher war, und die Jahre schienen an ihr, wenn auch nicht ganz so, aber doch beinahe so spurlos vorübergegangen zu sein, wie einst an der berühmten Ninon de Lenclos.

Und küssen konnte die Lore noch, daß es eine wahre Freude war und daß ich mich bei ihren Küssen wieder jung fühlte wie einst im Mai! Und selbst mein Herbst war doch schon lange vorbei.

Andere Leute küssen sich satt, die Lore aber bekam von dem Küssen einen Mordshunger, wie sie erklärte. So setzte sie sich denn an den reichgedeckten Kaffee- und Schokoladentisch und aß und trank und rauchte zwischendurch Zigaretten und machte überhaupt in jeder Hinsicht einen so unveränderten, noch völlig mädchenhaften Eindruck, daß ich sie plötzlich fragte: „Sag' mal, Lore, wie alt bist du denn inzwischen eigentlich geworden?”

„Für dich oder für die anderen?” gab sie zurück, und als ich sie im Augenblick nicht gleich verstand, setzte sie hinzu: „Den anderen lüge ich natürlich etwas vor, aber dir will ich die Wahrheit gestehen, ich bin einunddreißig.” Doch kaum hatte sie mir das gestanden, da ergriff sie meine beiden Hände und bat mit flehender Stimme: „Schwöre mir, daß du gegen keinen Menschen(3) darüber sprichst, denn in den Kreisen, in denen ich verkehre, hält man mich für neunundzwanzig, manchmal auch erst für siebenundzwanzig.”

Daß man das der Lore glauben könne, hielt ich sehr gut für möglich, aber daß sie erst einunddreißig sein sollte, während ich alter Mummelgreis inzwischen schon sechsundfünfzig geworden war, das wollte mir denn doch nicht in den Sinn. Gewiß, ich war ja immer älter gewesen als die Lore, aber soviel älter denn doch nicht. Da stimmte irgend etwas nicht. Entweder war ich noch gar nicht so alt, wie ich es mir bisher immer eingebildet, und ich hatte vor einigen Jahren meinen fünfzigsten Geburtstag viel zu früh gefeiert, oder die Lore war, obgleich sie wenigstens mir gegenüber die Wahrheit sprach, doch nicht mehr einunddreißig, sondern schon —?

Um diese Frage zu beantworten, ging ich an meinen Schreibtisch und holte aus dem ein Bild hervor, das die Lore für mich hatte machen lassen, als ich sie unserem jungen gemeinsamen Freunde Heino fortnahm, der im ganzen zweihundertsiebenundsechzig Portionen Kalbshaxen, ebenso viele Portionen Bratkartoffeln und fünfhundertvierunddreißig Glas Pilsner Bier auf meine Kosten gegessen und getrunken hatte, um sich über ihren Verlust zu trösten.

Dieses Bild gab ich ihr, und sie versenkte sich lange in dessen Anblick, bevor sie mich fragte: „Nicht wahr, etwas jünger war ich ja damals, aber hübscher bin ich doch jetzt?”

„Ganz bestimmt, Lore,” pflichtete ich ihr bei, dann bat ich: „Nun sieh dir aber auch mal die Rückseite des Bildes an.”

Das tat sie und las halblaut vor sich hin: „Dieses Bild schenkt dir deine Lore zur ewigen Erinnerung an den 8. Dezember 1900.”

„Und jetzt schreiben wir 1922, Lore.”

„Das weiß ich doch, lieber Freund, was willst du damit sagen?”

„Daß ein Rest von 22 verbleibt, wenn man von 1922 die Zahl 1900 abzieht, und daß 22 und 16½ als Summe 38½ ergibt.”

„Wieso 16½ wie kommst du denn nur gerade auf die Zahl?” erkundigte sich die Lore verständnislos.

„Warst du damals nicht erst 16½, als wir uns kennenlernten, Lore? Hinterher hast du mir allerdings einmal gestanden, du wärest doch schon 17½ gewesen.”

Eine ganze Weile sah die Lore mich an, als hätte ich meinen Verstand verloren, dann rief sie mir zu: „Lieber Freund, bist du denn über alledem, was du in den letzten Jahren hast durchmachen müssen, wahnsinnig geworden oder willst du im Ernst behaupten, ich wäre schon 38 oder gar 39½?”

„Ich behaupte gar nichts, Lore,” beeilte ich mich, sie zu beruhigen, „ich berufe mich da gewissermaßen auf einen, der es wissen muß, auf den Rechenmeister Adam Riese.”

„Der kann mir im Mondenschein begegnen,” schalt Lore weiter.

„Da der Mann schon lange tot ist, wird ihm das nicht ganz leicht fallen, Lore,” suchte ich sie weiter zu beruhigen, und das gelang mir auch dadurch, daß ich das heikle Thema schnell wieder fallen ließ und es in den zwei Tagen, da sie bei mir zu Gaste war, mit keiner Silbe wieder berührte. So wurden es zwei reizende Tage, in denen wir die gemeinsam verlebte Zeit noch einmal durchlebten, in denen wir in Erinnerungen schwelgten, in denen wir beide so taten, als wäre die Lore mir immer treu gewesen und als hätte es nie einen Regenschauer gegeben, der uns trennte. Wir genossen noch einmal die Vergangenheit, aber wir vergaßen darüber auch die Gegenwart nicht. Wir waren wieder jung, ganz jung, bildeten uns wenigstens ein, es zu sein, und waren beide mehr als traurig, als die Abschiedsstunde schlug und als die Lore ihre Reise fortsetzen mußte: „Aber auf der Rückreise komme ich ganz bestimmt wieder, lieber Freund, und wenn du mich so lange behrbergen willst, dann bleibe ich eine Woche, vielleicht sogar noch etwas länger bei dir, das verspreche ich dir.”

Das war das Wort, mit dem die Lore von mir Abschied nahm und das mir noch in den Ohren klang, als ich sie zur Bahn begleitet und mich dort von ihr mit einem herzlichen „Auf baldiges Wiedersehen, Lore!” getrennt hatte.

Seitdem sind mehr als sechs Monate(4) vergangen und die Lore ist nicht wiedergekommen, sie hat mir inzwischen auch nicht eine einzige Zeile geschrieben und sie wird mir auch nie wieder schreiben. Die Lore gehört nun für immer der Vergangenheit an.

Das aber ist, wie ich mir inzwischen klargemacht habe, einzig und allein meine Schuld, denn alles kann ein weibliches Wesen einem Mann verzeihen, alles, die größte Beleidigung und selbst eine tätliche Mißhandlung. Es verzeiht alles und es kann auch alles vergessen, nur eins verzeiht es einem Manne nie: Daß der, ohne wahnsinnig zu sein, allen Ernstes glauben kann, es wäre, ebenso wie der Mann, in den zehn oder gar noch mehr Jahren, die seit der letzten Begegnung vergangen, tatsächlich um ebenso viele Jahre älter geworden.


Fußnoten:

(1) 1926 im Buch: hatte
(2) 1926 im Buch: der du ihr doch einst sehr nahestandest
(3) 1926 im Buch: zu keinem Menschen
(4) 1926 im Buch: mehr als drei Jahre

Bemerkungen des Herausgebers:

Die Begegnung muß wohl den obigen Angaben zufolge, irgendwann zwischen Dezember 1921 und Februar 1922 stattgefunden haben.
Die Lore kann aber auch Recht haben mit der Angabe ihres Alters: Wenn sie, wie sie behauptet, 1921/22 31 Jahre alt ist, dann war Schlicht mit ihr — als 16/17-jähriger —um das Jahr 1906 verbunden. Das paßt zusammen damit, daß Schlicht 1906 von seiner ersten Frau geschieden wurde und daß er auch in dem gleichen Jahr seinen Wohnsitz nach Berlin verlegte.


zurück zur

Schlicht-Seite