Geschichten von der Lore:
III.
Wie ein Regenschauer uns trennte.

in: Weimarisches Sonntagsblatt, Unterhaltungs-Beilage zur
„Allg. Thür. Landeszeitung Deutschland” vom 23.Juli 1922
und in: „Die Lore”, O. Uhlmann, Berlin, 1926

Schlafwagen Erster waren die Lore und ich eines Abends statt nach Italien, das kennenzulernen die Lore sich seit langem sehnsüchtig wünschte, nach Paris gefahren. Wachwagen Vierter fuhren wir eines Tages nach Dresden zurück, so ohne jeden Groschen bar Geld, daß es unterwegs nicht einmal zum Sattessen langte und daß wir, um nicht ganz zu verhungern, von unseren Pariser Erinnerungen zehren mußten. Die aber waren auch in jeder Hinsicht so schön, daß ich es nicht einen Augenblick bedauerte, sie, wenn auch für teures Geld, gekauft zu haben. Und der Lore tat es erst recht nicht leid, daß wir uns wundervoll amüsiert und viel Schönes und viel Unvergeßliches gesehen und erlebt hatten.

Als wir nach endloser Fahrt im Bummelzug die Heimat wiedersahen, mußte ich dem mir glücklicherweise bekannten Kofferträger unter dem Vorwand, nur Tausendmarkscheine zu besitzen, sein Geld schuldig bleiben, aber am nächsten Tage bekam er es mit Zins und Zinseszins, denn ich fand in meiner Wohnung so günstige geschäftliche Nachrichten vor, daß ich nicht nur alle Einkäufe, die ich für die Lore gemacht, sofort bis auf den letzten Pfennig bezahlen konnte, sondern daß auch noch eine ganze, ganze Menge schöner runder Goldstücke übrigblieb. Und darüber freute sich die Lore wie albern, denn sie hatte, wie sie mir gestand, befürchtet, ich würde sie nicht mehr lieb behalten, wenn ich kein Geld mehr hätte, während ich meinerseits im stillen befürchtet hatte, die Lore würde aufhören, mich zu lieben, wenn die Ebbe in meinem Beutel lange anhielte.

Ich lachte, als die Lore mir ihre geheimsten Gedanken, die sie gehegt, gestand, denn wo ist der Mann, der ein Mädel nicht mehr liebt, weil er kein Geld mehr hat?

Und die Lore lachte, als ich ihr meine geheimsten Gedanken, die ich gehegt, verriet, und mit mehr als vorwurfsvoller Stimme fragte sie mich, ob es wirklich auf der Welt junge Mädchen gäbe, deren Liebe auf dem Thermometer steige oder fiele, je nachdem ihr Freund gut oder weniger gut bei Kasse sei. Und wenn es wirklich solche schlechten jungen Mädchen gäbe, ob ich denn auch nur eine Sekunde geglaubt habe, daß auch sie zu ihnen gehöre?

Dann kamen wir beide zu der Erkenntnis, daß wir einander im stillen bitter unrecht getan hätten, und wir schwuren uns aufs neue ewige Liebe und ewige Treue. Ich schwur voran und die Lore schwur hinterher, denn in einem solchen Falle schwört ein junges Mädchen nie zuerst.

Und wir blieben Freunde, Wochen, Monate und Jahre, bis die Lore mich eines Tages fragte: „Du, sag' mal, was würdest du tun, wenn ich dir trotz der Eide, die ich dir geschworen, einmal untreu werden sollte?”

„Das einzige, was mir zu tun noch übrigbliebe, Lore,” gab ich zur Antwort.

Lore stieß einen ängstlichen Schrei aus und klammerte sich mit ihren beiden Händen an meine Arme: „Du würdest dich totschießen?”

„Totschießen ist immer eine riskante Sache, Lore, weil man da häufig die falsche Stelle trifft und sich lediglich blind oder sonst irgendwie zum Krüppel schießt.”

„Da würdest du dich also vergiften?” erkundigte die Lore sich weiter.

„Womit denn?” fragte ich verwundert und setzte hinzu: „Den Imperativ Zieh an Kali könnte ich schon deshalb nicht befolgen, weil ich kein Zyankali habe.”

Die Lore sah mich etwas enttäuscht an: „Ja, was würdest du denn tun? Was ist sonst das einzige, was dir, wie du sagtest, zu tun noch übrigbliebe?”

„Das will ich dir verraten, wenn du es denn absolut wissen willst, obgleich hoffentlich nie die Stunde kommt, in der du mir wirklich untreu wirst. Ich würde dir zum Abschied sehr herzlich die Hand drücken und dir sagen: Sei für alle die vielen, vielen Stunden bedankt, Lore, die du mir geschenkt und bereitet hast, und wenn du dir für deinen neuen Freund eins der Kleider oder sonst etwas von den Sachen anziehst, die ich dir geschenkt habe, dann denke auch du zuweilen an mich, wie ich stets, aber tatsächlich immer gern und voller Freude an die Zeit zurückdenken werde, die ich mit dir zusammen verlebt habe. Dann würde ich dir zum letzten Abschied einen Kuß geben und dann —”

„Und dann?” fragte Lore, in deren hübschen blauen Augen schon jetzt so etwas wie eine Träne schimmerte, weil der Klang meiner Stimme sie gerührt haben mochte.

„Dann, Lore,” gab ich zurück, „dann würde ich mir eine neue Freundin suchen.”

Mit einem Satz sprang die Lore in die Höhe und rief mir entrüstet zu: „Das wäre gemein von dir. Nein, das darfst du mir einfach nicht antun, das habe ich wirklich nicht um dich verdient, und das will ich unter gar keinen Umständen,” und dann setzte sie hinzu: „Da schreibe ich dem frechen Menschen, der mich seit einiger Zeit mit seinen Anträgen verfolgt, gleich noch heute abend definitiv ab und teile ihm mit, ich würde dir alle seine Briefe zu lesen geben, wenn er mich fortan nicht in Ruhe ließe.”

„Tu das, Lore,” stimmte ich ihr bei, ohne weiter zu fragen, wer der andere wäre, denn wenn sie überhaupt einen Namen genannt hätte, wäre es sicher ein frei erfundener gewesen. Junge Mädchen und junge Frauen haben nun einmal die Tugend der Diskretion schon, wenn es sich um ihre Vergangenheit, und nun erst, wenn es sich um ihre Zukunft handelt. Und da ich die süßen kleinen Mädchen schon damals kannte, glaubte ich zu wissen, daß der Mann, dem die Lore jetzt gleich definitiv abschreiben wollte, noch einmal von ihr die zärtlichsten Liebesbriefe bekommen würde.

Aber noch war es ja nicht so weit, im Gegenteil, die Lore schwur mir abermals ewige Treue, und wir verlebten wieder schöne Wochen und Monate, bis dann eines Tages der Tag kam, der leider immer kommt, selbst wenn zwei sich noch so lieb haben und sich mit den heiligsten Eiden die heiligsten Schwüre schwören, daß er bei ihnen nie, nie, niemals kommen wird.

Ich hatte mich mit der Lore zu einem Spaziergang in den Großen Garten verabredet, und als ich sie abholte, fand ich sie so entzückend angezogen, daß ich zu ihr sagte: „Lore, ist das bei dem unbeständigen Wetter aber nicht etwas leichtsinnig?”

„Es regnet aber doch nicht,” verteidigte die Lore sich.

„Es wird aber voraussichtlich regnen, das Barometer ist gefallen.”

„Es kann aber doch wieder steigen.”

„Es kann aber auch noch weiter fallen, Lore.”

„Warum soll es denn gerade fallen?”

„Warum soll es denn gerade steigen?”

„Weil ich mein hübschestes Kleid anhabe und nicht naß werden will.”

„Das fühle ich dir vollständig nach, Lore, aber wenn es danach ginge, dürfte es ja nie regnen, denn irgendein weibliches Wesen hat, wenn es regnet, immer sein hübschestes Kleid an.”

„Aber umziehen tue ich mich trotzdem nicht,” widersprach die Lore.

„Dann setze dir wenigstens einen anderen Hut auf, oder ziehe dir deinen Regenmantel an.”

„Ein anderer Hut paßt nicht zu dem Kleid und ich habe das hübsche Kleid doch nicht angezogen, um es durch den Regenmatel zu verdecken.”

„Dann nimm deinen Regenschirm mit,” bat ich.

Die Lore lachte auf: „Zu dem Kleid paßt doch aber kein Regenschirm, sondern höchstens ein Sonnenschirm.”

„Dann nimm den für alle Fälle mit.”

„Sonnenschirme sind für junge Mädchen unmodern,” klärte die Lore mich auf, „und außerdem wird es ganz bestimmt nicht regnen.”

„Und wenn es doch regnet, Lore?”

„Dann nehmen wir uns einen Wagen oder ein Auto.”

„Und wenn wir nun im Großen Garten, wo es doch keine Halteplätze gibt, keinen Wagen oder kein Auto finden?”

„Wir werden schon eins finden, und wenn nicht, dann gehst du einfach nach Hause und holst mir meinen Schirm.”

„Das würde hin und zurück ungefähr eine Stunde dauern, Lore, und wo bleibst du denn solange?”

„Unter den Bäumen, die mich schon schützen werden.”

„Und wenn sie dich nun doch nicht schützen, Lore, und wenn du unter den Bäumen klitschenaß wirst?”

„Ich werde schon nicht naß werden, schon weil es überhaupt nicht regnen wird,” beendete die Lore die Debatte, dann bat sie: „Nun laß uns aber endlich gehen, sonst regnet es womöglich wirklich.”

Und als wir dann in dem Großen Garten waren, da regnete es auch wirklich. Da kam ein Regenschauer, bei dem der Himmel schwarz in schwarz war, und es schien auch gar keine Aussicht vorhanden, daß der sich in absehbarer Zeit wieder aufklären würde.

„Na, Lore, was sagst du nun?” erkundigte ich mich, als wir unter den hohen Bäumen notdürftigen Schutz gesucht und gefunden hatten.

Aber Lore sagte zunächst gar nichts, sondern weinte bitterlich vor sich hin, bis sie mir endlich erklärte: „Das ist einzig und allein deine Schuld, jawohl, nur deine, denn wenn du ernstlich darauf bestanden hättest, daß ich mich umzöge oder den Regenmantel mitnähme oder wenigstens einen Schirm, dann wäre ich dir natürlich auch gefolgt. Nun bleibt dir nichts anderes übrig, als nach Hause zu gehen und mir Mantel und Schirm zu holen oder unterwegs einen Wagen zu suchen.”

„Bei dem Regen, Lore?” bat ich, „da werde ich ja naß bis auf die Eingeweide.”

„Das bin ich schon lange,” jammerte Lore, in ihrem dünnsten Sommerkleid vor Kälte zusammenschauernd, dann bat sie: „Bitte geh schnell, sonst kann ich mich auf den Tod erkälten und nicht wahr, das willst du doch nicht?”

Nein, das wollte ich schon um meiner selbst willen nicht, denn ich wollte doch noch lange, lange glücklich mit der Lore zusammenleben. So zog ich mir meinen Hut denn noch tiefer in das Gesicht, klappte den schon längst hochgeklappten Rockkragen noch höher und lief davon, um einen Wagen zu suchen und um den dann auch endlich, endlich zu finden.

Aber als ich mit dem wieder in der Großen Allee anlangte, in der ich die Lore vor reichlich einer Stunde, denn so lange war nach meiner Uhr inzwischen vergangen, unter ihren Bäumen verließ, da war zwar noch die Große Allee da, und die Bäume standen auch noch, aber die Lore selbst war und blieb trotz allen Suchens und Rufens spurlos verschwunden.

Und da wußte ich es mit einemmal ganz genau: du findest die Lore auch nicht wieder, es ist zwischen euch aus.

Und es war aus, denn nachdem ich die Lore den ganzen Tag über vergebens abwechselnd in ihrer und in meiner Wohnung gesucht hatte, brachte mir ein Dienstmann am Abend einen Brief:

„Mein lieber, lieber Freund! Ich schäme mich so vor Dir, daß ich Dir nicht gegenübertreten kann, denn nun bin ich Dir doch untreu geworden! Aber es ging wirklich nicht anders, denn irgendwie mußte ich mich dem Herrn, der in seinem Wagen vorüberfuhr, als ich heute morgen stundenlang in der Großen Allee unter den Bäumen auf Deine Rückkehr wartete, der mir einen Platz an seiner Seite anbot, der mich gleich in seine Wohnung fuhr und mich dort zu Bett packte, damit ich mich nicht erkälte, der mir warmen Tee und alles mögliche kochen ließ, wie gesagt, irgendwie mußte ich mich dem doch für alles dankbar erweisen. So ist es denn gekommen und vielleicht hat der Direktor (ein solcher ist er) ganz recht, wenn er mir sagt, über kurz oder lang wärest Du mir doch sicher untreu geworden, denn einer mache damit immer den Anfang, anders ginge es nicht.

Es wird mir nicht leicht, lieber, lieber Freund, mich von Dir zu trennen, denn Du bist immer sehr, sehr gut zu mir gewesen und das werde ich Dir nie vergessen. Aber da ich Dich nun doch einmal betrogen habe, bleibe ich bei dem Direktor, denn so, wie es zwischen uns beiden war, könnte und würde es ja leider doch nie wieder werden.

Sei mir nicht böse und behalte mich trotzdem lieb, wie auch Dich immer lieb behalten wird Deine Lore.”

Und dann kam noch einen Nachschrift:

„Ich habe in der langen Zeit, in der wir miteinander verkehrten, so viel von Dir gelernt, ganz besonders, die Lüge ebenso zu verabscheuen wie Du es tust. Das weißt Du und deshalb wirst Du mir glauben, wenn ich Dir nicht nur sage, sondern Dir schwöre: ich bin Dir bis zum heutigen Tage immer und immer treu gewesen, und deshalb darfst Du es auch nicht glauben, wenn Dir nun, wo wir uns für immer getrennt haben, einige Deiner Freunde erzählen werden, ich wäre hin und wieder auch mit ihnen zusammen gewesen. Es wäre eine bodenlose Gemeinheit, wenn Deine Freunde mich nun so bei Dir verleumden wollten — und außerdem haben sie mir damals alle ihr Ehrenwort darauf gegeben, daß Du nie, niemals etwas davon erfahren würdest. Deine Lore.”

Dreimal las ich Lores Abschiedsbrief, dann ging ich, um meinen Kummer zu ertränken, zum Hauptbahnhof in das Restaurant 2. Klasse. Aber als ich das betrat, rührte mich beinahe der Schlag, denn an demselben Platz, an dem ich ihn vor Jahr und Tag der Fürsorge des Oberkellners anvertraut hatte, saß mein junger Freund Heino, der mir, seitdem ich mit der Lore verkehrte, immer aus dem Wege gegangen war, und aß, dick und fett, wie er dabei inzwischen geworden, auf meine Kosten immer noch Kalbshaxen.


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