Geschichten von der Lore:
II.
Die Reise nach Italien.

in: Weimarisches Sonntagsblatt, Unterhaltungs-Beilage zur
„Allg. Thür. Landeszeitung Deutschland” vom 18.Juni 1922
und in: „Die Lore”, O. Uhlmann, Berlin, 1926

Die Lore war meine Freundin geworden, noch bevor wir unsere, die ihr versprochene Hochzeitsreise nach Italien hätten antreten können, denn meine viele Arbeit hielt mich länger fest, als ich ursprünglich gedacht hatte, bis ich dann endlich eines Nachmittags zu der Lore gehen und ihr zurufen konnte: „Lore, freue dich mit mir, es ist vollbracht. Morgen reisen wir, nun gehe gleich auf den Boden und hole dir den Koffer herunter.”

Aber Lores Koffer stand zu meinem Erstaunen nicht auf dem Boden, wie sie mir eingestand, sondern unter ihrem Bett. Mit dem Griff ihres Regenschirmes holte sie ihn hervor, aber als ich den Koffer sah — nein, das war überhaupt kein Koffer, das war die mißglückte Kreuzung zwischen dem abgelegten alten Felleisen eines Handwerksburschen und einem etwas zu groß geratenen Schulranzen, in dessen ehemaligem Seehundsfell die Motten Fastnacht oder etwas Ähnliches gefeiert und bei dem sie wenigstens den halben Seehund aufgefressen hatten. Und das Schloß dieses Koffers und der dazu gehörende Schlüssel bestand aus einem dicken Strick, der dreimal um diese Mißgeburt herumgeschlungen war, wohl damit die Motten die nicht ganz auffräßen oder nicht gar fortschleppten.

„Ist das dein ganzer Koffer?” fragte ich mit stockender Stimme, nachdem ich mich von meinem ersten Entsetzen erholt hatte.

Etwas ängstlich sah die Lore zu mir auf: „Er gefällt dir wohl nicht?”

„Doch,” sagte ich, „und ich glaube, wenn wir den an ein Altertumsmuseum verkaufen und dem vorschwindeln, wir hätten ihn unter den Trümmern von Karthago ausgebuddelt, dann bekommen wir für ihn, wenn wir Glück haben, ein blankes Fünfzigpfennigstück, aber für unsere Reise paßt er nicht recht. Mit dem läßt man uns gar nicht über die Grenze, oder wenn doch, dann verweist uns jeder Hotelportier mit dem Koffer entweder in die Herberge zur Heimat oder in das Asyl für Obdachlose, na, und daß wir gerade in einem solchen Wohnung nehmen müssen, das möchte ich denn doch nicht.”

Lores blaue Augen füllten sich mit Tränen: „Aber was mache ich denn da? Einen anderen Koffer habe ich nicht, und bisher bin ich immer mit dem gereist.”

„Aber in Zukunft wirst du das nicht mehr tun,” widersprach ich, „und wenn du keinen anderen hast, werde ich dir einen neuen kaufen.”

Gleich darauf gingen wir zur Stadt, und eine Stunde später stand in Lores Zimmer ein großer, schöner Rohrplattenkoffer.

„So, Lore,” bat ich, „nun fange mal gleich mit dem Packen an und zeige mir, was du an Kleidern und Wäsche mitnehmen willst.”

Und mit demselben Stolz, mit dem mir ein paar Jahre später in Konstantinopel die Schatzkammer des Sultans gezeigt wurde, zeigte die Lore mir, nachdem sie beide Türen ihres Kleiderschrankes weit geöffnet, ihre Schätze: ein Jackenkleid, zwei Blusen, einen Unterrock und einen uralten Regenmantel. Dazu an Wäsche — doch nein, ich will nicht indiskret sein.

„Ist das alles, was du dein eigen nennst, Lore?” fragte ich ganz kleinlaut.

Lore hörte aus meinen Worten den Vorwurf heraus und ihre Augen füllten sich aufs neue mit Tränen, bevor sie laut aufschluchzend meinte: „Woher soll ich denn mehr haben, ich bin doch ein armes Mädchen. Das hättest du dir doch gleich sagen müssen, als du dich in mich verliebtest. Oder hast du mich etwa für eine Millionärstochter gehalten?”

Nein, das hatte ich ganz gewiß nicht getan, aber doch damit gerechnet, daß die Lore etwas mehr anzuziehen hätte. So antwortete ich nicht gleich, sondern blickte nachdenklich auf den Inhalt des Kleiderschrankes, der in der Hauptsache aus Luft bestand, bis die Lore mich mit tränenerstickter Stimme fragte: „Nun wird wohl nichts aus unserer Reise werden, und ich hatte mich doch so schrecklich auf Italien gefreut, das ich so furchtbar gern endlich kennengelernt hätte.”

Ihre Stimme schnitt mir in das Herz und so sagte ich: „Weine nicht, Lore, wir reisen, denn ich habe dich doch auf deinen Wunsch hin nicht zu der Reise eingeladen, um dich hinterher wieder auszuladen. Wir reisen ganz bestimmt, und wenn du keine Sachen hast, werde ich dir welche kaufen.”

Daß ich bei den Küssen, die diesen meinen Worten folgten, nicht totgeküßt worden bin, ist mir noch heute unerklärlich.

Dann gingen wir abermals aus, um einzukaufen. Und was kauften wir an diesem Nachmittag und an dem folgenden Vormittag nicht alles zusammen! Ein Kleid für die Reise, ein weiteres Kleid für die Straße, ein Kleid für die Mahlzeiten im Hotel und für den Theaterbesuch, drei hübsche Blusen, zwei Unterröcke, hübsche Strümpfe en gros, hübsche Schuhe en detail, einen Hut, noch einen Hut, eine seidene Reisemütze, einen Regenmantel, einen kleinen Hutkoffer und Wäsche, neue Wäsche. Neue Kämme und neue Bürsten, Kopfwasser und Seife, einen Morgenrock und eine entzückende Nachthaube, eine Frisierjacke und kleine Morgenschuhe und noch tausend andere Dinge. Wir kauften, daß mir ganz schwach auf der Brust und daß die Lore immer glücklicher und glücklicher wurde.

Damals bekam man ja noch viel für sein Geld, aber es ging trotzdem ganz niederträchtig ins Geld, und wenn ich alles, was ich kaufte, gleich hätte bezahlen müssen, wäre von meiner Reisekasse nicht mal so viel übrig geblieben, um mit unseren Einkäufen in einer Droschke nach Hause fahren zu können.

Und wir brauchten sogar zwei Droschken, um alles nach Hause zu bringen.

Dann machte sich die Lore gleich an das Packen und das verstand sie. Das mußte ich ihr lassen, sie packte so tadellos ordentlich, aber auch so geschickt, daß selbst, als alles verpackt war, noch so viel Platz in dem Koffer verblieb, daß die Lore mir glückstrahlend bekannte: „Du, in den Koffer geht noch viel mehr hinein.”

„Dann lege deine alten Sachen obenauf, damit er voll wird,” bat ich.

Aber das ging nicht, das setzte die Lore mir so klar und deutlich auseinander, daß ich es zwar nicht begriff, daß ich aber trotzdem verstand, ich müsse ihr unbedingt noch mehr neue Sachen kaufen, damit der Koffer voll würde und damit die eingepackten Sachen auch fest lägen.

Und damit ich auch einsähe, daß ich das wirklich lediglich der bereits eingepackten Sachen wegen müsse, setzte die Lore sich auf meinen Schoß und küßte mich rot und blau.

Dann gingen wir wieder kaufen. Noch ein Kleid und noch ein paar Blusen und einen Automantel, denn wir könnten doch nicht wissen, ob wir in Italien nicht eine schöne Autofahrt machen würden, und noch viele andere Sachen mehr. Und als die Lore dann auch das zu Hause eingepackt hatte, da ging trotz ihrer Packkünste auch nicht annähernd alles in den Koffer hinein.

„Was machen wir da nun?” fragte ich, bis ich entschied: „Da mußt du einen Teil der neuen Sachen zurücklassen.”

Doch die Lore widersprach: Wir hätten die hübschen Kleider und alles andere doch nicht gekauft, damit sie es im Schrank hängen ließe, sondern damit sie es auf der Reise trage, damit sie einzig und allein für mich immer hübsch und verführerisch aussähe, und selbst wenn sie wirklich etwas zurücklassen würde, was sollte sie in ihren Schrank hängen und was mitnehmen? Die Frage sei so schwer, daß sie überhaupt gar nicht beantwortet werden könne, und deshalb gäbe es nur einen Ausweg, aber glücklicherweise einen sehr einfachen, ich müsse ihr noch einen Rohrplattenkoffer schenken.

Aber dem widersprach ich: „Nein, Lore, nun ist es genug, denn wenn der neue Koffer nicht voll wird, muß ich noch mehr Sachen kaufen, damit er nicht halb leer bleibt. Und wenn wir dann wieder zu viel kaufen, muß ich dir den dritten Koffer schenken und das geht dann so weiter, bis du schließlich fünfundzwanzig Koffer oder noch mehr nach Italien mitnimmst, und das kann ich bei dem besten Willen nicht bezahlen.”

„Schön,” meinte Lore, „dann packe ich die Sachen, die nicht mehr in den Koffer gehen, in meinen alten Seehundskoffer und nehme den als Handgepäck mit.”

„Den Mottenfraß willst du mitnehmen, damit alle Mitreisenden uns auslachen?” schalt ich, und so einigten wir uns denn dahin, daß ich ihr noch einen sehr schönen Handkoffer aus Juchtenleder schenkte, denn gerade einen solchen hatte sie sich schon immer gewünscht.

Dann aber setzte ich mich in ihrer Gegenwart hin und zählte einmal alles zusammen, was ich für die Einkäufe schuldig geblieben war. Und da wurde mir so regenbogenfarbig vor den Augen, daß ich die Lore fragte: „Sag' mal, hast du eine Ahnung, wann und wie ich das alles bezahlen soll?”

Und die Lore hatte nicht nur eine Ahnung, sie wußte es sogar und erklärte mit einer Selbstverständlichkeit, die keinen Widerspruch zuließ: „Die paar tausend Mark gewinnen wir an einem Abend in Monte Carlo.”

Deshalb widersprach ich auch nicht, sondern fragte lediglich ganz erstaunt: „Wieso gewinnen? Ich habe dir erzählt, daß ich noch nie gespielt habe und auch nie spielen werde. Außerdem liegt Monte Carlo doch auch nicht in Italien, sondern nur in seiner Nähe.”

„Das weiß ich doch,” verteidigte Lore sich, „denn auf der Schule war ich in Geographie immer die Beste. Aber ich weiß auch noch eins. Es gibt ein Wort: Wer in Italien gewesen ist, muß Monte Carlo gesehen haben.”

„Das verwechselst du, Lore,” klärte ich sie auf, „in Wirklichkeit heißt es: Wer in Italien war, muß in Rom den Papst gesehen haben.”

Die Lore zog einen kleinen Flunsch: „Was mache ich mir aus dem? Ich bin doch nicht katholisch,” bis sie gleich darauf zum erstenmal fragte: „Und überhaupt, wohin reisen wir in Italien?”

„Ich hatte an Rapallo gedacht, das ich von früheren Reisen her kenne,” gab ich zur Antwort.

Die Lore sah mich erwartungsvoll an: „Ist da was los?”

„Das nun gerade nicht, Lore, aber es gibt dort einen wunderschönen blauen Himmel, einen herrlichen Meerbusen und prachtvolle Spaziergänge nach Santa Margherita, Portofino, Sestri Levante, und auch nach Ruta kann man gehen, nach Ruta, in dem Nietzsche so oft und so gern weilte.”

„Aber Nietzsche war doch verrückt,” warf Lore ein, woraus ich ohne weiteres schloß, daß sie meinen Vorschlag, mit ihr nach Rapallo zu fahren, auch verrückt fand. Deshalb gab ich den Ort gleich wieder auf und fragte: „Was meinst du zu Venedig? Gondelfahrt bei Mondenschein mit Mandolinen­begleitung? Oder Neapel oder Florenz, Pisa, Genua, Rom, oder möchtest du lieber an die italienischen Seen? Mir ist es ganz gleich, wohin wir fahren, denn ich selbst bin dort schon überall gewesen.”

Lore blickte eine ganze Weile nachdenklich vor sich hin, und das begriff ich vollständig, denn wenn man sich so leidenschaftlich, wie sie es tat, eine Reise nach Italien wünscht, will es vorher doch reiflich überlegt sein, was man auf dieser Reise besonders gern kennenlernen möchte. Und es dauerte wohl eine Viertelstunde, bis die Lore, die inzwischen halblaut alle italienischen Städtenamen, die ich ihr nannte, vor sich hingesagt hatte, mich fragte: „Ist es dir wirklich ganz, ganz einerlei, wohin wir reisen?” Und als ich das mit einem lauten, vernehmlichen Ja bestätigt hatte, setzte sie sich erneut auf meinen Schoß (ach, warum müssen wir Männer nur einen Schoß haben) und bat und schmeichelte: „Dann laß dich bitte von mir damit überraschen, wohin wir fahren, und kümmere dich um gar nichts. Gib mir dein Geld, damit ich die Fahrkarten für den Schlafwagen besorgen und das Gepäck aufgeben kann, frage auch nicht, wohin die Karten lauten, sondern steige morgen abend, wenn wir fahren, gleich in dein Schlafwagenbett und schlafe. Auch an der Grenze kannst du ruhig liegen bleiben, das mußt du sogar, damit du mir die Überraschung nicht verdirbst. Deine Kofferschlüssel nehme ich an mich. Dein Handgepäck nehme ich zu mir, die Zollrevison mache ich allein, und ich werde die Beamten schon so schön zu bitten wissen, daß sie dich gar nicht wecken.”

„Ja, kannst du denn aber italienisch?” fragte ich verwudnert.

Lore lachte übermütig auf: „Mit meinen Augen spreche ich jede Sprache, wenn es sein muß, sogar arabisch, und außerdem werden die Zöllner, die jeden Tag an der Grenze mit den Deutschen in Berührung kommen, doch wohl etwas Deutsch verstehen. Wie gesagt, du kümmerst dich um nichts, du schläfst, und damit du auch ganz, ganz fest schläfst, mußt du schon, bevor du dich hingelegt hast, ein paar Veronaltabletten nehmen. Nicht wahr, das versprichst du mir? Die Überraschung, die ich mir für unsere Reise nach Italien ausgedacht habe, darfst du mir ganz einfach nicht verderben.”

Und so flehentlich bittend sah die Lore mich an, daß ich es nicht fertig brachte, nein zu sagen, und daß ich mich auch noch hinterher mit allem einverstanden erklärte, was sie sich nach und nach weiter in allen Einzelheiten ausdachte, damit ich wie ein blinder und tauber Tattergreis in den Zug hineinstiege, ohne etwas zu fragen und ohne etwas zu hören, damit ich ihr, aber namentlich und ganz besonders mir selbst nicht die freudige Überraschung verdürbe, die sie sich für uns beide ausgeklügelt hatte.

Vierundzwanzig Stunden später traten wir unsere Reise nach Italien an, und als ich, vollgepfropft mit allen möglichen Schlafmitteln, mit denen die Lore mich schon vor der Abreise gefüttert hatte, nach einem todesähnlichen Schlaf auf Italiens heiligem Grund und Boden erwachte, waren wir auf dem Bahnhof in — Paris.


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