Geschichten von der Lore:
I.
Wie die Lore meine Freundin wurde.

in: Weimarisches Sonntagsblatt, Unterhaltungs-Beilage zur
„Allg. Thür. Landeszeitung Deutschland” vom 21.Mai 1922
und in: „Die Lore”, O. Uhlmann, Berlin, 1926

Es gibt in meiner norddeutschen Heimat ein schönes Wort, das, in das Hochdeutsche übertragen, etwa lautet: Auch ich war jung und schön, das ist nun nicht mehr zu sehn! Ich hatte Rosen auf der Back' und auch die Pocken in dem Nack', auch ich war jung und schön.

Ich bin in meinem ganzen Leben noch nicht eitel gewesen, und so bekenne ich offen, nein, schön war ich nie, wohl aber in meiner Jugend auch einmal jung, und da, vor bald 25 Jahren, lernte ich eines Tages in einem Café der Haupt- und Residenzstadt Sachsens, in der ich damals meinen Wohnsitz hatte, durch einen jungen Freund, einen Studenten der Technischen Hochschule, die Lore kennen, ein etwas mehr als mittelgroßes, schlankes, auffallend hübsch gewachsenes Mädchen, mit geradezu wundervollem, hellblondem Haar, das so schön war, daß man darüber zunächst gar nicht bemerkte, daß das Gesicht selbst nicht gerade besondere Reize aufwies. Aber es war sehr frisch und hatte den großen Reiz der Jugend, denn wie ich im Laufe des Gespräches bald erfuhr, war die Lore erst sechzehn und ein halbes Jahr alt. Wir saßen zu dritt lange an dem kleinen Tisch, an dem ich wegen Überfüllung mit hatte Platz nehmen müssen, und als die Lore sich dann verabschiedete, hatte mir das lustige und alles andere als dumme und langweilige Mädel so gut gefallen, daß ich, als wir allein waren, den jungen Studenten fragte: „Sagen Sie mal, Freund Heino, in welchem Verhältnis stehen Sie eigentlich zu der Lore?”

„Vorläufig noch in gar keinem,” gab er zur Antwort, „aber ich hoffe, daß sie in spätestens acht Tagen mein Verhältnis sein wird.”

Ich hätte nicht damals schon der tugendhafte und keusche Mann sein müssen, der ich bisher mein Leben lang war, wenn diese Antwort mich nicht hätte mit Empörung, aber auch zugleich mit Neid erfüllen sollen, und so sagte ich denn: „Pfui, lieber Freund, ein so junges Mädel macht man doch nicht zu seiner Freundin.”

Der junge Student lachte hell auf, bevor er mich fragte: „Sagen Sie, bitte, würden Sie sich an Lores Jugend stoßen, wenn Sie Aussicht hätten, daß die Lore Ihnen ihre Gunst schenken würde?”

Darauf blieb ich die Antwort schuldig und fragte ihn lediglich, da gerade der Kellner vorüberging: „Worauf darf ich Sie einladen, auf einen Kognak oder auf einen Curaçao?”

Er entschied sich nach und nach für drei Kognaks, bis auch wir uns trennten. Aber als ich dann meiner Wohnung entgegenschritt, wollte mir die Lore nicht aus dem Sinn, zumal mein Versuch, in dem Café etwas mit ihr zu fußeln, von dem besten Erfolg begleitet gewesen war. Das Mädel hatte es mir angetan und tat es mir erst recht an, als ich es am nächsten Morgen wiedersah, wie es auf dem freien Platz vor dem Hauptbahnhof auf die Elektrische wartete. Da schien die helle, warme Märzsonne so leuchtend auf ihr ohnehin so schönes Haar, daß ich glaubte, nie etwas Schöneres gesehen zu haben, und da stand auch sofort mein Entschluß fest, obgleich ich mir sagte: Der Hut, den das Mädel aufhat, ist eine Unmöglichkeit. Aber dem Umstand konnte ja leicht abgeholfen werden. Erst aber mußte ich ein Recht haben, ihr einen neuen, sehr hübschen Hut kaufen zu dürfen — so trat ich auf sie zu, um sie zu begrüßen und um sie zu bitten, am Abend im Englischen Garten, aber nicht im Garten, sondern in einem kleinen Zimmer, allein mit mir zu essen und mit mir eine Flasche Sekt zu trinken.

Die Lore hätte nicht so klug sein müssen, wie sie es war, wenn sie mich nicht sofort verstanden hätte, trotzdem aber fragte sie: „Und Freund Heino?”

Diese Anhänglichkeit an ihren Freund, der doch noch gar nicht ihr Freund war, rührte mich, und so gab ich zur Antwort: „Den bringe ich selbstverständlich nicht mit, denn sonst könnte er vielleicht eifersüchtig werden, und nicht wahr, den Schmerz wollen wir ihm doch beide ersparen.”

„Ich möchte das wenigstens,” stimmte die Lore mir bei, „und ich danke Ihnen, daß Sie so rücksichtsvoll sind.”

„Bitte, bitte, das bin ich in einem solchen Falle immer,” lehnte ich bescheiden jede Anerkennung ab, um gleich darauf weiter zu fragen: „Da darf ich Sie also wohl heute um acht Uhr vor dem Englischen Garten erwarten?”

Die Lore stand jetzt, da die Entscheidung nahte, in einem schweren Kampf da. Vielleicht wurde ihr nun erst klar, daß ihr Freund Heino ihr bisher doch schon näher gestanden habe, als sie wohl selbst geglaubt, und deutlich sah ich ihr an, wie sie hin und her überlegte: soll und kann ich die Einladung annehmen oder nicht? Bis sie plötzlich den Kopf schüttelte und kategorisch erklärte: „Nein, ich komme nicht, ich kann nicht kommen, unter keinen Umständen. Wenigstens nicht um acht Uhr, das ist mir zu früh. Aber wenn es Ihnen auch noch um halb neun passen sollte —”

Ja, da paßte es mir auch noch, so wollte ich mich denn gleich darauf mit einem „Auf Wiedersehen heute abend!” von ihr verabschieden, doch da hielt sie mich zurück und bat: „Aber Freund Heino muß es wissen, daß wir heute zusammen sind.”

„Ganz wie Sie es wünschen,” pflichtete ich ihr bei, und gleich nachdem wir uns getrennt, ging ich zu Freund Heino, den ich auch zu Hause antraf, und kaum saß ich ihm, dem ich anmerkte, daß er sich den Grund meines Besuches gar nicht zu erklären vermochte, gegenüber, da fiel ich ihm mit der Tür, die ich zu dem Zweck bei dem Eintritt ausgehakt hatte, in seine Studentenbude und erklärte ihm offen und ehrlich: „Lieber Freund, ich bin gekommen, um Ihnen die Mitteilung zu machen, daß ich Ihnen die Lore abspenstig machen werde.”

Mit einem Satze sprang er in die Höhe und rief mir zu: „Wissen Sie, was das ist? Das ist jeder Beschreibung spottend hundsgemein.”

„Das ist es auch, lieber Freund,” war ich ganz seiner Ansicht, „aber sagen Sie bitte selbst, wäre es nicht noch viel hundsgemeiner, wenn ich meinen Vorsatz hinter Ihrem Rücken ausführte?”

„Das allerdings,” knurrte er vor sich hin, während er sich mir wieder gegenübersetzte.

„Na also,” meinte ich, und ihm meine Zigarrentasche hinhaltend, bat ich: „Nun stecken Sie sich erst mal eine gute Zigarre an und dann lassen Sie uns wie zwei ernste Männer oder wie zwei gute Freunde über die Sache reden.”

„Was gibt es denn da noch zu reden?” schalt er, sich eine Zigarre anzündend. „Wir können reden so viel wir wollen, die Lore werden Sie mir ja doch nicht lassen,” und ganz traurig setzte er hinzu: „Ach, und ich hatte mich so auf die Lore gefreut.”

„Das war sehr unrecht von Ihnen, lieber Freund,” klärte ich ihn auf, „man soll sich nie auf etwas freuen, bevor man es nicht hat, besonders nicht auf ein Mädel, denn da kommt es immer anders als man denkt. Und nicht nur das, gerade bei einem Mädel stehen die Freuden, die es einem später bereitet, oft in gar keinem Verhältnis zu der Vorfreude. Man erlebt da oft eine Enttäuschung nach der anderen und man muß Wünsche erfüllen, denen man finanziell nicht gewachsen ist. Sehen Sie sich in der Hinsicht nur mal Lores Hut an. Die braucht unbedingt einen neuen; können Sie ihr einen schenken?”

„Nein, das nicht,” meinte er ganz kleinlaut. „Und ich sehe auch gar nicht ein, warum die Lore einen neuen Hut braucht. Mir gefällt er sehr gut.”

Unwillkürlich mußte ich lachen: „Lieber Freund, wenn es darauf ankommt, wie uns die alten Hüte unserer Freundinnen oder später unserer Frauen gefallen, würden die sich nie einen neuen kaufen und nie einen neuen geschenkt bekommen, denn ich glaube, der Mann muß erst noch geboren werden, der seiner Freundin oder seiner Frau erklärt: „Du mußt dir unbedingt einen neuen Hut kaufen, dein alter geht nicht mehr.” — Dann sprach ich noch eine ganze Weile tröstend auf ihn ein, bis ich mit den Worten schloß: „Natürlich kann ich das Opfer, das Sie mir durch Ihren freiwilligen Verzicht auf die Lore bringen, nicht so ohne weiteres von Ihnen annehmen, sondern ich fühle mich verpflichtet, mich Ihnen dafür so dankbar zu erweisen, wie ich es nur irgend kann. Sollten Sie also irgend einen Wunsch haben, den zu erfüllen in meiner Macht steht, dann bitte sagen Sie es. Vielleicht darf ich Ihnen, sagen wir zunächst auf fünfzig oder hundert Jahre, einen Betrag leihen, dessen Höhe ganz bei Ihnen steht?”

Aber nein. Geld wollte er dafür, daß er auf die Lore verzichtete, unter gar keinen Umständen von mir annehmen, lieber alles andere, oder lieber etwas anderes, aber kein Geld.

„Also schön,” bat ich, „dann also etwas anderes, aber was? Vielleicht wünschen Sie sich ein paar gute Bücher, damit Sie sich bei denen trösten können, oder für Ihr Zimmer ein hübsches Bild oder einen Spazierstock oder —”

Ich schlug ihm alles vor, was mir nur einfiel, Wein und Zigarren, einen neuen Sommerpaletot und ein Barometer, ja schließlich sogar einen echt silbernen Nußknacker, da ich zufällig eine Nuß auf seinem Tisch liegen sah, aber es war, wie ich ihm anmerkte, alles nicht das Richtige, bis ich ihm schließlich erklärte: „Ja, lieber Freund, sonst wüßte ich wirklich nicht, womit ich Ihnen eine Freude machen könnte, und wenn Sie es auch selbst nicht wissen —”

Aber da sah ich ihm plötzlich an, daß er es schon längst wußte, daß er es nur nicht auszusprechen wagte, weil seine Wünsche nach seiner Ansicht sicher meine Mittel überschritten. So redete ich ihm denn wie einem alten lahmen Schimmel zu, sich des Wortes zu erinnern, ‚nur die Lumpe sind bescheiden’, und ich klärte ihn darüber auf, daß sein etwaiger Wunsch schon so oder so zu erfüllen sein würde.

Bei keinem hübschen Mädel, das einen Wunsch auf dem Herzen hatte, aber natürlich lieber sterben wollte, als den verraten, damit ich nicht etwa glaube, es liebe mich nur, damit ich ihm den erfülle, habe ich jemals so lange reden und bitten müssen, bis es mir spätestens nach einer Minute ihren Wunsch doch gestand, ja, bei keinem hübschen Mädel habe ich auch nur annähernd so lange gebraucht wie bei Freund Heino, bis er mir endlich bekannte, was einzig und allein auf der ganzen Welt imstande sei, ihn den Schmerz über den Verlust der Lore vergessen zu machen.

Und dann gestand er mir ein: wenn es mir nicht zu teuer wäre, möchte er sich auf meine Kosten in dem Wartesaal 2. Klasse des Hauptbahnhofs einmal an seinem Lieblingsgericht, und zwar an Kalbshaxen, die damals die ganze Portion nebst den dazu gehörenden Bratkartoffeln 1,50 Mk. kosteten, ganz, ganz satt essen.

Auf alles war ich vorbereitet gewesen, aber darauf nicht. So glaubte ich zuerst, er mache einen Witz, aber als ich dann in seine kalbshaxen­hungrigen Augen sah und als ich auf seinen Lippen die Wassertropfen entdeckte, die ihm bei dem Gedanken an dieses Kalbshaxen­essen aus seinem Munde liefen, da wußte ich, es war ihm mit seinen Worten heiligster Ernst gewesen. Und wenn es mir auch nicht ganz leicht wurde, ernst zu bleiben, so erklärte ich ihm dennoch mit feierlicher Miene: „Sie sollen sich an Kalbshaxen satt essen, Heino, und zwar nicht nur einmal, sondern so oft Sie wollen, tagaus, tagein, bis kein Haxen mehr in Sie hineingeht und bis Sie keine Haxen mehr sehen können, ohne daß Ihnen dabei schlecht wird. Wenn ich Sie damit wirklich glücklich machen kann. —”

Ja, das konnte ich wirklich, das sah ich ihm deutlich an, und nie wieder ist es mir gelungen, so oft ich es später auch versucht habe, einen armen Teufel auch nur annähernd so glücklich zu machen, wie ich Freund Heino in dem Augenblick machte. Sein Gesicht strahlte wie der hellste Sonnenschein und seine Stimme zitterte vor Rührung, als er mir als Dank die Worte zurief: „Werden Sie mit der Lore glücklicher, als ich es sicher geworden wäre, denn ich hätte ihr wirklich keinen neuen Hut schenken können, zumal ich selbst im Frühjahr dringend einen neuen brauche.”

Da legte ich oben auf die vielen Kalbshaxen auch noch einen neuen Strohhut für ihn, dann trennten wir uns.

Am Abend traf ich mich mit der Lore. Ihre erste Frage galt Freund Heino, und sie wollte wissen, ob und wie es mir gelungen sei, ihn zu trösten.

Da log ich ihr die Bluse so voll, daß die plötzlich, als wenn der Wind sie aufgeblasen hätte, ganz weite Puffärmel bekam, denn fast alle jungen Mädchen verlangen von einem Mann, daß er allen Versuchungen, die irgendwie mit dem schnöden Gelde zusamenhängen, widersteht. So erzählte ich der Lore auch nichts von den Kalbshaxen, mit denen Freund Heino sich gewiß gerade tröstete, sondern erzählte ihr, er habe mich auf Pistolen gefordert, bis es mir endlich gelungen sei, ihm den Unsinn auszureden und ihn dahin zu bringen, daß er sich mit männlicher Würde in das Unvermeidliche füge.

„So lieb hat er mich gehabt?” fragte die Lore mit leiser Stimme, während sie sich dabei, damit ich sie besser verstände, auf meinen Schoß setzte und sich zärtlich an mich schmiegte, bis sie nach einer kleinen Pause mit noch leiserer Stimme fortfuhr: „Nicht wahr, wir wollen nicht vergessen, daß wir Freund Heino unser Glück verdanken, und wenn du mich nachher zu einer schönen Reise nach Italien eingeladen hast und wenn wir erst dort sind, schicken wir ihm manchmal eine Ansichtskarte.”

Da dämmerte es zu erstenmal dunkel in mir, daß die Lore mich vielleicht doch noch mehr kosten würde als alle die Kalbshaxen, die Freund Heino essen würde, und als der neue Hut, den ich ihr schenken wollte. Aber ich war jung, ich hatte Geld und ich war keine Sparbüchse. So sagte ich denn: „Schöne Lore, wenn es dich glücklich macht, lade ich dich hiermit ein, und spätestens in acht Tagen treten wir unsere Hochzeitsreise nach Italien an.”

Da schmiegte sie sich, soweit es überhaupt noch ging, noch dichter an mich heran und küßte mich, daß mir die Puste verging, bis sie mir zurief: „Ach du — du glaubst ja gar nicht wie furchtbar lieb ich dich habe.”

Doch, das glaubte ich ihr, denn wo auf der ganzen Welt gibt es ein süßes kleines Mädchen, das einen Mann, auch wenn es ihn überhaupt nicht liebt, nicht dennoch und trotzdem ganz, ganz furchtbar lieb hat, wenn er es zu einer Reise nach Italien einlädt?


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