Erzählung von Graf Günther Rosenhagen
in: „Deutsche Kunst zu Hamburgs Gunst”,
deutsches Künstler- und Schriftsteller-Album herausgegeben
zum Besten der Notleidenden in Hamburg und Altona / 1892
Eigentlich hieß sie Rosalie, aber ihre Mutter litt an demselben Fehler wie Demosthenes, sie konnte das „R” nicht sprechen, da ward aus Rosalie nach dem berühmten Muster von alopex, lopex, opex — Lie. Lie hieß sie und häßlich war sie, und ich war ihre erste Liebe. Ich habe sie nie geliebt, ganz gewiß nicht, obgleich alle Kameraden es behaupteten und alle kleinen Mädchen mir, wenn sie mich auf dem Rückweg von der Schule trafen, leise zuflüsterten: „Lie kommt gleich.” Sie ging wie jedes vernünftige Mädchen in eine höhere Töchterschule, die sich aber vor anderen ihrer Art dadurch unterschied, daß, nomina sunt odiosa, zwei Störche ihr Nest auf den Schornstein des Hauses gebaut hatten. Wenn wir Mittags zum Gymnasium mußten, gingen wir stets mit einem kleinen Umweg an dem Seminar vorbei und unterhielten uns mit unseren gleichaltrigen Freundinnen über das sonderbare Treiben dieser beiden Vögel und malten uns aus, wenn wir uns gegenseitig geheiratet hätten und der liebe Storch uns jedes Jahr als Weihnachtsgeschenk ein kleines Kind brächte — denn wir glaubten damals fest an den Storch und seine Wohlthäterstellung. Jeder Schüler hatte seine Liebste und umgekehrt, und ich war Lies Liebster. Aber dreierlei machte mich blind und taub gegen ihre Liebesblicke und Betheuerungen. Erstens hatte sie rotes Haar, zweitens Sommersprossen und drittens wohnte sie auf dem kleinen Domziegelhof. Allerdings, das rote Haar war, wie Kenner behaupteten, selten schön, in einem dichten Mantel flutete es aufgelöst bis an die Kniekehlen; aber dennoch konnte ich es nicht leiden. Die Sommersprossen bedeckten in ungezählter Menge ihr Gesicht und machten mich ihrem Wunsche trotz aller guten Vorsätze immer von Neuem wieder abgeneigt; sie wünschte sich nämlich einen Kuß von mir. „Küß mich doch, küß mich doch nur ein einziges Mal, bitte, bitte, lieber Paul.” Darauf kniete ich jedesmal vor Lie nieder, verbarg mein Gesicht in ihren Kleidern, — dann war ich wenigstens vor ihren Küssen sicher und stammelte die glühendsten Liebesworte. Alle Betheuerungen meinerseits waren erlogen, doch ich vermochte es nicht über mich zu bringen, ihr meine Gleichgültigkeit, um nicht zu sagen Abneigung, zu zeigen. einmal war für mich Aussicht vorhanden gewesen, daß ein Anderer, ein Würdigerer, meine Stelle einnehmen würde; aber auch da hatte mein gutes Herz gesiegt. In gegebener Veranlassung hatte ich ihr eines Tages geschrieben und den Satz hinzugefügt: Dein theures Bild steht vor mir, immer und immer wieder bedecke ich es mit feurigen Küssen, und leise flüstern meine Lippen: „Lie, ich liebe Dich.” Als ich sie Abends zufällig auf dem Bummel traf, hatte sie rotverweinte Augen!
„Lie, was fehlt Dir?” fragte ich, „weswegen hast Du geweint?”
Sie stampfte zornig mit ihren großen Füßen auf und rief:
„Nun weiß ich, daß Du mich nicht liebst und daß Du mich immer mit Deinen schmeichelnden Worten belügst, Du hast mein Bild ja noch gar nicht.”
Einen Augenblick stand ich wie vom Schlage gerührt; sie hatte mir ihr Bild angeboten, und da mir an demselben wenig gelegen war, erinnerte ich mich nicht genau, ob ich es schon bekommen hätte.
„Siehst Du, Du schweigst, das ist ein Beweis, daß ich Recht habe.”
Nun hätte ich sie für immer verlieren und meine Liebe dann der kleinen Paula zuwenden könne, die mir schon manchmal auf der Straße so innige Blicke zugeworfen hatte; aber ich konnte es nicht über mein Herz bringen, ich hatte Mitleid mit der Armen.
„Lie, ich habe doch Dein Bild.”
„Von wem hast Du es?”
„Ich habe es gestern bei dem Photographen gestohlen,als ich meine Bilder holte; aber um Gotteswillen verrat mich nicht; denn käme es heraus, dann müßte ich ins Gefängnis. Mir ist es einerlei, ich will gern für Dich leiden; aber was würde meine Mutter —”
„O, Du, ich hab Dich so lieb, und wie bist Du gut.”
Stürmisch breitete sie die Arme aus, um mich an ihr Herz zu drücken, kaum vermochte ich meinen Kniefall auszuführen; nein, küssen konnte ich sie auch dieses Mal nicht, sie war zu häßlich!
Und dann wohnte sie auf dem kleinen Domziegelhof. Mit der Straße hatte es eine eigene Bewandtnis: Alles, was aus ihr kam, betrachtete man mit etwas prüfenden Augen, und die Leute, die dort wohnten, galten nicht für voll. Auch that meiner Liebe Abbruch, daß ein Mädchen, das von allen Anderen nicht recht geachtet wird, gerade zu mir, nach meiner Meinung dem Schönsten aller Quartaner, ihre Blicke erhoben hatte. Im Domziegelhof lebten nämlich drei böse Geister, die Alles verhexten, was in ihre Nähe kam und denen wir Kinder ängstlich aus dem Weg gingen. Der erste böse Geist war eine Mädchenvermieterin, der zweite ein Goldschmied und der dritte Karo. Die Mädchenvermieterin hatte als besonderes Kennzeichen nur ein Auge, mit dem sie allerdings so furchtbare Blicke in die Welt warf, daß die Kinder, bei deren Eltern die Alte geschäftlich zu thun gehabt hatte — sie war die Einzige ihrer Art — sich stets erschrocken hinter den Gardinen verbargen und erst eine Stunde nach ihrem Fortgang wieder zu bewegen waren, aus ihrem Schlupfwinkel hervorzukommen. Denn mit ihrem Auge konnte sie Alles verderben, was ihr nicht gefiel!
Stand sie schon mit Dämonen der Finsternis in Verbindung, so war dies erst recht bei dem Goldschmied der Fall. Seine Kunst bestand darin, daß er Alles konnte; er machte Alles, was man von ihm verlangte, und was auch immer in meiner Vaterstadt entzweigeschlagen wurde, Alles wanderte mit und ohne Wissen der Herrschaft zu dem alten Goldschmied, der die Sachen wieder zusammenflickte. Als ich aber einmal in ein großes Ladenfenster mit meinem Flitzbogen ein Loch hineingeschossen hatte und den Alten unter Thränen bat, er möchte ein Stück Glas einsetzen, doch so, daß Niemand es sähe, waren seine Künste Matthäi am Letzten. Von da an war er für mich weniger furchtbar; denn hätte er es nicht mit Hülfe des Teufels ausführen können?
Die dritte im Bunde war Karo, kein Hühnerhund, sondern eine alte Jungfer, ursprünglich Karoline getauft, aber der Einfachheit wegen stets Karo genannt. Sie hatte einen großen Buckel, das Einzige, was an der kleinen Person groß war, und eine entsetzlich hohe, dünne Stimme. In ihrer Jugend, vor vielen, vielen Jahren, waren ihr die Stimmbänder gerissen, und ihre hohe quiekende Fistelstimme erschien uns als etwas Übernatürliches und flößte uns deshalb stets Schreck ein.
Und in diese verrufene Straße mit diesen drei Bewohnern sollte ich gehen, um meiner Lie Fensterpromenaden zu machen? Nein, nie und nimmermehr, dazu war ich viel zu furchtsam, um so mehr, da Lie neben der alten Vermieterin wohnte. Aber ihr Vater hatte das Haus mieten müssen; denn es war billig, und er hatte gar kein Geld, statt dessen siebzehn Kinder. Lie war das zehnte und noch dazu ein Zwilling. Bei ihrer Geburt war der Vater in Ohnmacht gefallen; erst als ihm begreiflich gemacht wurde, daß Lie's Schwester tot sei, schlug er langsam ein Auge nach dem Anderen auf und kehrte wieder zum Leben zurück. Zwei Kinder auf einmal, das wäre aber auch für einen armen Diurnisten mit 800 Mark jährlich zuviel gewesen, das sah der liebe Gott auch ein und nahm gleich eins wieder zu sich; denn totgehungert wäre es über kurz oder lang doch!
Von solcher Art und solcher Familie war meine Rosalie, die gerne einen Kuß von mir haben wollte — und die endlich auch einen bekam. Es war Abtanzball, den ganzen Winter hatten wir Tanzstunde gehabt, nun sollten wir vor unseren Eltern und Verwandten zeigen, was wir in der edlen Kunst gelernt hatten. Unser Tanzlehrer Untiedt — Untier nannten wir ihn stets, weil er mit seinem Fiedelbogen mehr auf unserem Buckel als auf seiner Geige spielte — hatte uns gesagt, wir könnten jeder eine Dame einladen, Einführungskarten à 1 Mk. 50 Pf. wären bei ihm und an der Kasse zu haben. Ich dachte zuerst nicht daran, von dieser Erlaubnis Gebrauch zu machen, wußte auch nicht, wen ich hätte auffordern sollen, da fiel mir Lie ein. Sollte ich dem armen Mädchen, das den ganzen Tag ihre jüngeren Geschwister hüten und warten mußte, diese Freude bereiten? Sie würde mir ewig dankbar sein, und daß sie mich nicht küßte, dafür wollte ich schon aufpassen. Ja, ich wollte ein gutes Werk thun und ihr ein Billet schenken; aber 1 Mk. 50 Pf., wo bekam ich die her? Unter dem wahren Vorwand würde ich sie nie von meiner Mutter erhalten haben. Da warf ich denn — allerdings nur in Gedanken — in der Schule eine Fensterscheibe ein und ließ mir, um meine Schulden bezahlen zu können, 2 Mk. geben; fünfzig Pfennige für Erfrischungen waren doch nicht zu hoch gerechnet. Dann stürzte ich zu Herrn Untiedt und erstand mir ein Billet, das ich mit einigen freundlichen Worten an Lie schickte, — sie dankte mir am nächsten Morgen mit einem Blick, den ich ihr nie zugetraut hätte; denn ich machte dabei die Entdeckung, daß sie schielte. —
Der Abend kam heran. Ich war noch mit meinen Schularbeiten beschäftigt und prägte mir gerade nach der Melodie „Freut euch des Lebens” die zwanzig lateinischen Wörter auf is ein, die masculini generis sind, da öffnete sich die Thür, und Rosaliens Bruder erschien.
„Lie läßt Dich fragen, ob Du wünschest, daß sie ihr Haar aufgelöst oder in Flechten tragen soll?”
„Ist mir ganz egal,” erwiderte ich, „orbis, lapis, unguis, anguis, übrigens komme ich vielleicht heute Abend gar nicht, wenn ich diese verfluchten Wörter nicht vorher in den Kopf bekomme, fascis, fustis, vermis, postis, mensis, ich habe ganz neue Stiefel an, callis, collis,vectis, ensis.”
Er sah ein, daß ich augenblicklich für Toilettenfragen nicht in der richtigen Stimmung sei, und verließ mich. Kurze Zeit darauf erschien er wieder und fragte, welches Band Lie in ihr Haar binden solle. „Grün ist die Hoffnung,” erwiderte ich, „doch nein, lieber rot.” Mir fiel noch zur rechten Zeit ein, daß rot und grün doch zu häßlich gewesen wäre. Wieder verschwand er, und als ich Lie abends in dem Saale traf, war sie röter als rot. Rotes Haar, rotes Band, rotes Gesicht, rote Sommersprossen, rotes Kleid und rote Hände. Handschuhe trugen wir Kinder noch nicht, waren überhaupt einfacher als die Kinder von heute, obgleich ich nicht in der guten alten Zeit geboren bin, sondern einige Jahre später; trotzdem behauptet meine Frau immer, ich hätte ein ganz altmodisches Gesicht und sähe aus wie Körner. Ob sie es wohl nicht nur sagt, um mit einem berühmten Gesicht verheiratet zu sein?
Die Kapelle des Hauses intonierte die Polonaise; möglichst steif und verlegen forderten wir unsere Damen auf und gingen hocherhobenen Hauptes, stolz wie Könige, nach den Klängen des schönen Liedes: „Als ich noch im Flügelkleide in die höhere Töchterschule ging” auf möglichst unmöglichen Wegen und Pfaden durch den Saal. Dann kam der Walzer, und wir schwangen herum wie die Wilden. Da fielen meine Blicke auf Lie, sie war die Einzige, die sitzen geblieben war, ich hatte sie erst zum zweiten Walzer engagiert, und ihre roten Wangen hatte die Röte der Verlegenheit nun noch tiefer gefärbt. Meine Tänzerin auf dem Fleck stehen lassen und zu Lie treten, war der Impuls, dem ich folgte; sie dauerte mich, die Arme, und gleich darauf walzten wir durch den Saal.
„Warum hast Du meine Schwester stehen lassen?”
Zornig klang die Frage an mein Ohr; ich ließ Lie los und sah mich dem erzürnten Bruder meiner ersten Partnerin gegenüber.
„Weil —”
Weiter kam ich aber nicht, da hatte der Rächer mir schon vor versammeltem Publikum eine Ohrfeige gegeben. Jacke ausziehen, mich auf meinen Gegner stürzen, ihn zu Boden werfen und verprügeln, war eins. Entsetzt kreischten die Damen auf, meine Mutter rief, sie würde mich verstoßen, unser Tanzlehrer schlug als Dritter auf uns ein, aber wir ruhten nicht eher, als bis unser Blut den Boden bedeckte und mein Gegner liegen blieb. Hätte man damals schon Cavalleria rusticana gekannt, so hätte gewiß eine Frauensperson gerufen: „Turiddu ist ermordet.”
Kurze Zeit darauf war wieder Frieden im Lande, und der Tanz nahm seinen Fortgang; aber etwas Böses hatte die Sache doch für mich zur Folge, denn sämtliche Mütter verboten ihren Töchtern, mit mir zu tanzen. Nun saß ich auf der einen Seite als Mauerblume, und auf der anderen Lie. Wir vereinten uns und tanzten beständig zusammen. Doch ich war wütend über die verächtlichen und strafenden Blicke der Tanten und Cousinen, ich wollte mich an ihnen rächen und sie auf irgend eine Art und Weise ärgern.
„Lie, hast Du mich lieb?”
„Weshalb fragst Du danach?”
„Darf ich Dir einen Kuß geben?”
Leise bejahte sie es, ich zog sie an mich und küßte sie schallend.
Verschiedene Ohnmachten, unruhiges Rücken der Stühle, dann ward ich von Herrn Untiedt am Arm genommen und hinausgeführt mit der freundlichen Bitte, nicht wiederzukommen.
Infolge meines unpassenden Benehmens am öffentlichen Ort bekam ich das Consilium abeundi, ich mußte meine Vaterstadt verlassen und ein anderes Gymnasium aufsuchen. In der neuen Stadt lernte ich ein anderes kleines Mädchen kennen, das jetzt nach vielen, vielen Jahren meine kleine Frau geworden ist.
Auf meinem Schreibtisch steht ein großes Bild von Lie, doch meine Frau ist nicht eifersüchtig, denn dazu ist es viel zu häßlich. Aber wer weiß, ob ich jemals meine Frau kennen gelernt, wenn ich nicht zur rechten Zeit am richtigen Ort Lie geküßt hätte. Und darum Rosalie, Osalie, Salie, Alie — Lie, sei gepriesen!