Die leutselige Exzellenz.

Von Freiherrn von Schlicht.
in: „Simplicissimus”, IX.Jahrgg. Nr. 34, S. 332, 15.11.1904 und
in: „Der Dichterleutnant”


Der Oberst wackelte ganz scheußlich, darüber waren sich vom Etatmäßigen bis zum jüngsten Fähnrich alle einig. Ein Glück im Unglück war es für ihn gewesen, daß er seine bodenlose Dummheit (er hatte eine Umgehung mit einer Umfassung verwechselt und seine zwölf Kompagnien anstatt gegen den linken gegen den rechten feindlichen Flügel dirigiert), wie gesagt, ein Glück war es gewesen, daß er diese hahnebüchene Dummheit erst am letzten Manövertag unmittelbar vor dem Signal „das Ganze sammeln” zum besten gegeben hatte. Hätte er es eher getan, auch nur vierundzwanzig Stunden eher, dann hätte das berüchtigte Manöver–Militärwochenblatt, das alle Gefallenen aufzählt, seinem militärischen Leben ein Ende bereitet, dann hätte Exzellenz schon jetzt hinter seine Karriere einen Punkt gemacht. Und dann wäre es aus gewesen, ganz aus. So aber lebte der Herr Oberst noch, aber er wußte, seine Stunden waren gezählt, er kam sich so ungefähr vor, wie ein Lungenkranker, der nur noch eine Lunge hat, und der da weiß, daß auch diese in wenigen Tagen ihren Dienst versagt. Dem Oberst war gar nicht wohl zumut, er wußte, er sollte sterben, und doch verspürte er dazu nicht die leiseste Neigung. Aber er sah keine Rettung, er würde unfehlbar in der nächsten Woche zum Abschied eingegeben werden, sein Leben zählte nur noch nach Tagen, nur ein Wunder konnte ihn retten, wenn es überhaupt noch eine Rettung gab. Und der Oberst stand an dem Fenster seiner Wohnung und sah beständig nach dem Wunder aus, aber es kam nicht. Statt dessen erschien plötzlich ein Telegraphenbote und brachte dem Herrn Oberst die Nachricht, daß Seine Exzellenz, der Divisions­kommandeur, zur Besichtigung der vor wenigen Tagen neu eingestellten Rekruten in der Garnison eintreffen würde. Als der Oberst das las, bekam er beinahe einen Schlaganfall, und vergebens zerbrach er sich den Kopf darüber, wie Exzellenz auf den wahnsinnigen Geanken gekommen wäre, sich schon jetzt die Rekruten ansehen zu wollen. Aber er fand des Rätsels Lösung nicht, und er konnte sie auch nicht finden. Exzellenz kam freiwillig und doch nicht ganz freiwillig, er unternahm die Reise aus eigener Initiative, und er bestritt die Kosten sogar aus eigener Tasche, aber trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb wäre er doch zu Hause geblieben, wenn er nicht dem Generalkommando unterstellt gewesen wäre. Der Kommandierende General war ein sehr gestrenger Herr, und er hatte im letzten Manöver Seiner Exzellenz ganz bedenklich auf den hohlen Zahn gefühlt. Und nun zitterte er, ob er im nächsten Jahr ein Korps bekommen würde oder nicht. Seine Exzellenz mußte versuchen, sich bei dem Kommandierenden irgendwie in ein gutes Licht zu setzen, und aus diesem Grund unternahm er die Reise, die keinen anderen Zweck hatte, als dem hohen Vorgesetzten zu beweisen, wie sehr ihm das Wohl und Wehe der neueingestellten Rekruten am Herzen läge. Er kam dieses Mal nicht als Vorgesetzter, sondern gewissermaßen als ein gütiger Vater, der sich danach erkundigen wollte, wie es seinen Kindern ginge. Er wollte durch seine Leutseligkeit die Herzen der Untergebenen erobern, und wenn der Kommandierende davon erfuhr, konnte das nur dazu beitragen, seine etwas erschütterte Stellung zu befestigen. Und dafür, daß Exzellenz über diese Reise unterrichtet wurde, wollte er schon selber sorgen. So hatte er sich denn von seinem Adjutanten fünfzig leutselige Fragen an Untergebene ausarbeiten lassen, und mit diesem Fragebogen versehen, reiste er in der Welt herum. Sechs Garnisonen hatte er schon beglückt, als letzte suchte er die Garnison des wackeligen Obersten auf. Der empfing den hohen Gast, begleitet von seinem Adjutanten, an der Bahn und führte ihn persönlich zu dem Hotel, vor dem zur Feier des Ereignisses ein Doppelposten vor den Schilderhäusern auf und ab lief, die am Nachmittag auf einem Schubkarren dorthin gebracht worden waren. Exzellenz geruhte, mit dem Oberst zusammen das Abendbrot einzunehmen. Und als der Oberst endlich gegen Mitternacht nach Haus ging. leuchtete ihm ein Hoffnungsstern. Exzellenz war die Güte selbst gewesen, und den ganzen Abend hatte er ein wirklich seltenes Interesse an dem Befinden und den persönlichen Verhältnissen seines Obersten gezeigt. Nach allem hatte Exzellenz sich erkundigt: wie es ihm beim Militär gefiele, was sein Vater sei, ob er Geschwister hätte und wieviel, was die wären, was sie verdienten, ob sie verheiratet wären, ob sie Kinder hätten, wie alt die wären, ob die schon verheiratet wären und was die verdienten. So war das in einem fort weitergegangen. Zuerst war der Oberst sehr erstaunt gewesen über das Interesse, das man einem sterbenden Löwen entgegenbrachte, dann aber hatte er sich über das Interesse Seiner Exzellenz sehr gefreut, denn diese Fragen bewiesen ihm, daß er doch noch lebte und wahrscheinlich auch so bald noch nicht sterben würde. Und in der Freude seines Herzens tat der Oberst, was mancher an seiner Stelle vielleicht auch getan hätte, anstatt ins Bett, ging er noch in die Kneipe. Dort saßen die ganzen Leutnants und zechten, einige waren sogar schon bezecht, aber der Oberst tat, als merkte er das gar nicht, er war die Liebenswürdigkeit selbst, er zog jeden der Herren in ein leutseliges Gespräch und erkundigte sich, wie ihm der Dienst gefiele, was sein Vater wäre, ob er Geschwister hätte und wiviel, was die wären, was sie verdienten, ob sie verheiratet wären, und ob sie Kinder hätten.

So ging das beständig weiter. Die Leutnants sahen sich, soweit sie mit ihren übernächtigen Augen überhaupt noch sehen konnten, ganz erstaunt an, sie begriffen den Oberst gar nicht, der Mann war doch in wenigen Tagen zu Schlackwurst verarbeitet, was gingen ihn da noch die Familien­verhältnisse der einzelnen an? Es wurde spät, bis der Oberst alle ausgefragt hatte, so spät, daß es sich eigentlich kaum noch lohnte, zu Bett zu gehen, und so machte der Kommandeur selbst den Vorschlag, durchzukneipen. Das geschah denn auch, und als man endlich kurz nach Halb aufbrach, hatte man gerade noch Zeit, den schweren Kopf eine Viertelstunde in die Waschschüssel zu stecken, und in der Katerstimmung, in der man sich befand, statt des Kaffees eine Flasche Bier zu trinken. Wenig später standen die Herren auf dem Kasernenhof, denn schon um acht Uhr wollte Exzellenz dort eintreffen. Und Exzellenz kam. Mit dem Glockenschlag acht brüllte der Posten sein „Heraus”, die Wache trat ins Gewehr, und der Oberst stürzte dem hohen Vorgesetzten entgegen. Aber er kam zu spät, Exzellenz stand schon im Gespräch mit dem Wachhabenden. Der Oberst bekam einen Totenschrecken. Um Gottes willen, sollte die Wache schlecht präsentiert haben? Aber Gott sei Dank nein, Exzellenz erkundigte sich nur, wie die Leute der Wache hießen, wie ihnen der Dienst gefiele, ob sie Geschwister hätten und wieviel, was diese wären, ob die verheiratet wären und was sie verdienten. Endlich war Exzellenz unterrichtet und betrat den Kasernenhof. Mit einem Guten Morgen begrüßte er die zwölf Kompagnien, die im Ordonnanzanzug aufgebaut waren, dann ging er gleich auf den rechten Flügelmann der ersten Kompagnie zu: „Wie heißen Sie? Wie gefällt Ihnen der Dienst? Haben Sie Geschwister? Wieviele? Sind sie verheiratet?” Und wie er den ersten Mann der ersten Kompagnie fragte, so fragte er alle achtzig Mann der ersten Kompagnie, und dann fragte er die achtzig Leute der zweiten Kompagnie und dann die Leute der dritten Kompagnie, und das ging so weiter, bis er endlich nach vielen Stunden bei dem letzten Mann der letzten Kompagnie ankam. Ungefähr tausend Mann hatte Exzellenz nach ihren häuslichen Verhältnissen gefragt, und er hatte seinen Zweck erreicht, alle Leute waren von seiner Leutseligkeit entzückt. Aber Exzellenz glich jetzt eher einem Toten als einem Lebendigen, er wankte ins Kasino, wo seiner ein opulentes Frühstück harrte, aber er war unfähig, etwas zu essen, er trank nur größere Quantitäten alten Portwein, bis seine Lebensgeister von neuem erwachten. — Dann aber wandte er sich an den Oberst, und abermals erkundigte er sich bei ihm, wie es ihm ginge, wie ihm die Anstrengung des Dienstes gefiel, ob er Geschwister hätte und wieviel, was die wären und was die verdienten, und erneut zeigte der hohe Herr sein regstes Interesse für die Person des Obersten.

Als Exzellenz am Nachmittag abfuhr, wußte der Oberst, daß er gerettet war, wie hätte Exzellenz sich sonst wohl so teilnehmend nach allen erkundigen können, und in der Freude seines Herzens ging der Oberst wieder ins Kasino und trank sehr viel Wein, einmal aus Freude über seine Rettung, zweitens weil er einen furchtbaren Jammer hatte, drittens weil Exzellenz fort war und viertens aus verschiedenen anderen Gründen. Aber zu spät sah er ein, daß er sich umsonst betrunken hatte; ehe acht Tage ins Land gingen, war der gefürchtete Abschied doch da, und nun erst erkannte der Herr Oberst, daß die leutselige Exzellenz sich bei ihren Worten nicht das Geringste gedacht hatte, daß es ihr ganz gleichgültig war, wie der Oberst und seine Mannschaften hießen, ob sie Geschwister hätten und wieviel, ob die verheiratet wären und was die verdienten. Der Oberst vertauschte den Helm mit einem Strohhut, und wenig später tat Seine Exzellenz das gleiche. Aus Gründen, die dem kommandierenden General gänzlich unbekannt waren, war der früher so frische Geist Seiner Exzellenz plötzlich umnachtet worden, und seine Geistesgestörtheit zeigte sich darin, daß er jeden Menschen, mit dem er zusammentraf, fragte: „Wie heißen Sie, haben Sie Geschwister und wieviele, was sind sie und was verdienen sie?”

Nachdem Exzellenz diese Frage im Laufe von sechs Tagen ungefähr fünftausendmal gestellt hatte, war sie für ihn zur Lebensfrage geworden.


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© Karlheinz Everts