Besprechung des Romans „Leutnantsleben. Ein Leben in Waffen”
von Freiherr von Schlicht. Berlin und Stuugart, Verlag von W.Spemann.
in: „Kieler Zeitung” vom 19.1.1900
„Schritt, Fähnrich, Schritt — eins, zwei, drei, vier, eins, zwei, drei, vier — immer so treten wie ich trete, immer ruhig gehen, nicht über den großen „Onkel laatschen” und nicht stolpern wie ein junges Mädchen, das auf der Straße den Geliebten ihres Herzens begegnet und vor Verlegenheit ihre eigenen Gliedmaßen nicht zu gebrauchen weiß. Und dann Fähnrich, Haltung — Fassung — Würde, das sind die drei Haupttugenden des Soldaten im Allgemeinen, des zukünftigen Offiziers im Besonderen. Merken Sie sich das, Fähnrich — Deubel noch einmal: jeder, der Ihnen begegnet, muß es mit der Angst bekommen, so stolz, so aufrecht müssen Sie Ihr eigenes Ich tragen — Haltung — Fassung — Würde, das ist dasselbe, was man beim Zivil Glaube, Liebe, Hoffnung nennt — für die Zivilisten ist die Liebe die größte unter ihnen, für die Soldaten die Würde.”
Der Sergeant Haase setzt diese blüthenreiche Kasernenhofphilosophie noch um ein weidliches Stück fort; und der junge Mann, der seiner Exerzierkunst als Erziehungssubstrat anvertraut ist, vermag sich, da er zwar kein schöner, aber ein kluger und aufgeweckter Mensch ist, der Erkenntniß nicht zu verschließen, daß zwischen dem schönen Knabentraum vom bunten Rock und seiner Verwirklichung denn doch, und zwar namentlich an der Schwelle der militärischen Laufbahn, ein gewaltiger Unterschied herrscht. Aber Viktor von Drawatzki hat es so gewollt; das heißt ganz so eigentlich doch nicht. Denn als er das Gymnasium mit der Reife für Unterprima verließ, hoffte er als Avantageur bei einem Feldartillerie-Regiment ankommen zu können. Aber vergebens; bei keiner Waffe ist das Angebot so stark wie hier; und so mußte sich der lang aufgeschossene, in seiner Körperhaltung stark vernachlässigte, in der Entwicklung vom Jüngling zum Mann begriffene Steuerrathssohn nach bestandenem Fähnrichsexamen freuen, bei einem reputierlichen Infanterieregiment einer großen Garnison eintreten zu können, um dort unter Leitung des Sergeanten Haase die Rudimente leiblicher Selbstsucht zu erlernen, um nach acht Wochen für den Eintritt in die Kompagnie reif zu werden.
Diese acht Wochen sind eine eiserne Zeit. Morgens von sieben bis acht Uhr Instruktion; dann drei Stunden exerzieren und marschiren, am Nachmittag wieder drei Stunden praktischer Dienst, dann Putz- und Flickstunde, Gewehr reinigen und Abends sieben Uhr frei. So vergeht ein Tag wie der andere unter Haase's Kommando , und Sergeant Haase ist zwar im Grunde ein guter Kerl und er hat auch seine Bildung; denn er hat einmal als Prämie für ein gelöstes Preisräthsel Schiller's Werke erhalten und darin den dreißigjährigen Krieg gelesen. Er erkennt daher auch unschwer, daß sein Fähnrich nicht dumm ist und in der Instruktionsstunde Leidliches leistet. Aber die Hauptsache sind ihm für den Soldaten Haltung, Fassung, Würde; Sergeant Haase ist ein Mann von Prinzipien, ein brillanter Exerziermeister, just ein solcher, wie ihn Viktor von Drawatzki braucht, dem es gerade an den drei genannten soldatischen Tüchtigkeiten am meisten mangelt. „Mit dem Geiste geht's, aber die Knochen, Fähnrich, die Knochen; kein Murr und kein Saft, keine Pêle und keine Mêle, kein Tutti und kein Frutti. Mehr essen, Fähnrich, mehr essen, jeden Tag ein Kommißbrot und 'ne ordentliche Schüssel voll Kartoffeln, da sollen Sie mal sehen, wie Sie da in die Breite gehen u.s.w.”, und dann der Refrain: „Haltung — Fassung — Würde, ohne diese drei geht es nun einmal nicht; aber die Haltung ist die größeste unter ihnen.” Bald war für Sergeant Haase die Haltung, bald die Fassung, bald die Würde die größeste; das machte er, wie es ihm gerade für den Augenblick paßte.
So führt uns Freiherr von Schlicht mit der ersten Zeile seines soeben erschienenen Buches mitten in das Milieu des Kasernenhofs hinein, mit dem der Fähnrich seine ersten, mißliebig kritisirten Schritte ins Leutnantsleben thut. Bei der bloßen Nennung des Autors sehe ich eitel vergnügte Gesichter; denn keinem Leser und keiner Leserin dieses Blattes ist unser pseudonymer Landsmann unbekannt, der das Kommisleben kennt wie wenige und alle die tausend Eigenheiten und Einzelzüge dieses Leben zu erzählen, alle Personen auf ihre typischen und individuellen Absonderlichkeiten hin zu charakterisiren weiß, so flott, so lustig, so intim, mit solcher Liebe für den Stand, dem der Verfasser selber angehörte, und doch mit so hellem Blick für alle die kleinen Verschrobenheiten und Ungenirtheiten, wie kein anderer Schilderer gleicher Verhältnisse vor und neben ihm. Freiherr von Schlicht hat bisher seine Erinnerungen in Form kleiner Novellen und novellistischer Skizzen gegeben; heute bietet er uns in seinem „Leutnants-Leben” ein Ganzes, das einen ansehnlichen Band von viertehalb hundert Seiten füllt. Aber im letzten Grunde ist das Neue nichts anderes wie das Alte; die gleiche Gabe für subtile Detailbeobachtung, dieselbe sanguinische Lebensauffassung in all den unzähligen Leutnants-Freuden und Leutnants-Leiden, derselbe übersprudelnde Humor in der Schilderung komischer Situationen, wie in der Auslösung fröhlicher Satire, die ihm der bärbeißigste „Etatsmäßige” nicht übel nehmen kann; kurz, in jeder Hinsicht die gleichen Voraussetzungen bedingen den Ton, den Freiherr von Schlicht in seinem „Leutnants-Leben” anschlägt wie er ihn in seinen Novellen und Skizzen angeschlagen hat. Und was den Stoff anbelangt, nun! auch der ist im vorliegenden Buche nichts Anderes als in den zahlreichen kleinen Erzählungen früherer Perioden. Nicht gerade zu Novellen ausgesponnen, ist es auch hier eine lange Reihe kleiner Episoden aus dem Soldaten- und besonders dem Offiziersleben, um die es sich handelt; eine Menge komischer Aperçus, eine Fülle persönlicher Charakterzüge, die dem Auge und Ohr des Sterblichen in Zivil in der Regel verborgen bleiben. Freiherr von Schlicht eröffnet heute wie ehedem seinen Lesern den Blick in die Abgeschlossenheit interner Lebensverhältnisse, von denen wir nur die äußere bunte und blanke Außenseite zu bewundern und zu respektiren gewohnt sind; und dabei hält er in der einen Hand die leichte Peitsche, mit der er hier und da Schläge austheilt, die nicht schmerzen, während er mit der anderen freundlich schäkernd und versöhnlich die Wangen der Getroffenen streichelt.
Ich sage, die ungezählten Aperçus sind im „Leutnants-Leben” nicht zu den bekannten Novellen und Skizzen ausgesponnen, obwohl gar manche unter ihnen den Stoff zu solchen hergegeben haben würden, und obwohl es in dem Buche nicht an Typen fehlt, welche sehr wohl geeignet wären, zum Mittelpunkt, um nicht zu sagen zum Helden einer Novelle zu werden. Aber damit soll nicht gesagt sein, daß der Verfasser seine Episoden planlos aneinanderhänge. Nein! im Milieu ist erstmal Alles fest zusammengeschlossen; aus dem Kreise, den das Milieu zieht, tritt keine der militärischen Schnurren spitzig oder eckig heraus, noch fällt eine solche plump und unmotivirt hinein. Dieses Milieu aber, so natürlich gegeben seine Fundamente sind, weiß der Autor nach wohl überlegter Disposition so auszubauen, daß er, der chronologischen Entwicklung des jungen Militärs vom rekrutenhaften Avantageur über die Gefreitenknöpfe, die Unteroffizierstressen, das silberne Portepee und das Offiziers-Seitengewehr bis zu den Epauletten des jüngsten Leutnants, des Oberleutnants und endlich des Hauptmanns folgend, seinen Stoff universell erschöpft, ohne die Einheitlichkeit des Gesammtbildes zu beeinträchtigen. Wo der aus eigenen Erfahrungen schöpfende Lebensschilderer aufhört, setzt der disponirende Dichter ein. Viktor von Drawatzki ist aus dem Gymnasium hervorgegangen und als Avantageur repräsentirt er daher nur den einen Typ des werdenden Offiziers. Daneben aber giebt es den anderen, der aus dem Kadettenkorps unmittelbar in den Dienst hineinwächst, eine, wie der Verfasser zeigt, wesentlich andere Figur, die Freiherr von Schlicht geschickt in den Rahmen seines Bildes hinein zu bringen weiß, indem er als Stubengenossen Drawatzki's eines Tags den von der Kriegsschule heimgekehrten Portepeefähnrich Boldt auftreten läßt. Derselbe führt den Spitznamen Schlittgen, weil er in seinem ganzen Aeußeren einer jener Figuren glich, die Schlittgen's Meisterhand für die „Fliegenden Blätter” geschaffen hat. Als armer Offizierssohn hat er einen Freiplatz im Kadettenhaus zu Plön — heimathliche Anklänge hört man häufig aus dem Buche heraus — gehabt, besuchte Lichterfelde und ging aus dem allezeit stolz accentuirten „Korps” in die Truppe über, zeigte seinem Kameraden, daß er zwar etwas an „Fähnrichswahnsinn” leide, entpuppte sich aber im Allgemeinen als ein ganz verständiger, lustiger, vor allen Dingen aber entsetzlich leichtsinniger Kamerad, der sich in Geldnoth nicht genirt, seinen jüngeren, finanziell gewissenhafteren Stubenkameraden um einen Hundertmarkschein zu bitten. „Es ist zwar unrecht von mir, daß ich das thue, daß ich Sie bitte,” meint er, „denn in den Nothlagen des Lebens soll man als Vorgesetzter sich niemals an Untergebene wenden, weil dadurch die Disziplin und die Subordination schwinden, aber wir sind doch sozusagen gewissermaßen Gleichgestellte trotz des Chargenunterschiedes. Finden Sie das nicht auch?” „Ich habe dies gleich gefunden,” antwortet Drawatzki, „wenn ich offen und ehrlich sein darf; mich hat es ziemlich irritirt, daß Sie sich mir gegenüber so aufspielten.”
Die Gegenüberstellung der beiden verschiedenen Fähnrichstypen ist nur eins von den vielen Beispielen, welche beweisen, mit welcher Geschicklichkeit Freiherr von Schlicht alle die tausend Detailerscheinungen und Einzelgeschehnisse aufzulesen und heranzuholen weiß, um das Gesammtbild des Leutnants-Lebens, wie es sich im Kasino, im Ballsaal, auf dem Exerzierplatz, im Felddienstgelände, im Manöver abspielt, zu vervollständigen. Ueberall ist es eine Kette von kleinen Leiden, Demüthigungen, militärischen Schulmeistereien, „Anpfiffen” seitens der Vorgesetzten, die sich Drawatzki als Fähnrich und nicht minder als jüngster Leutnant gefallen lassen muß; von rechts, von links, von vorn, von hinten wird an ihm gestoßen und gestutzt. Alles, was er dienstlich und außerdienstlich anfaßt, zum ersten Male mißlingt's ihm; und in der Darstellung dieser unzähligen ungewollten und unbewußten faux pas im Verkehr mit Vorgesetzten und Kameraden, der ebenso ahnungslos begangene Fehler im Dienst, der Rathlosigkeit beim Zeichnen eines Croquis wie bei der Ausführung einer Offiziersfelddienstübung, liegt der Stoff für den unverwüstlichen Humor des ebenso flott wie launig schreibenden Verfassers. Aber was der Autor an fröhlich-gutmüthiger Satire ausspritzt, bezieht sich doch immer nur auf die Oberfläche, die Seele; der Kern bleibt heil und unangetastet. Der Respekt vor dem in der Armee herrschenden Geiste, vor der Disziplin, der Subordination, der Kameradschaftlichkeit und, daß ich's besonders hervorhebe, dem Menschlichen im Soldaten bleibt unverletzt. Allerdings präsentirt sich die Welt, die der Verfasser uns schildert, als eine in sich abgeschlossene, die Besonderheit des Offizierstandes wird deutlich betont. Aber: „Meine Herren,” sagt der Oberst, „bei der Ausnahmestellung, die wir in der Gesellschaft einnehmen, halte ich es für meine Pflicht, einmal wieder die Herren, insonderheit die jüngeren Kameraden, zu ermahnen, in ihrem Auftreten, in ihrem ganzen Wesen und ihrem Benehmen den Zivilisten gegenüber artig und bescheiden zu sein, nicht hochmüthig zu werden und nicht zu glauben, daß wir uns irgend etwas Besonderes herausnehmen können, und nun, meine Herren, handeln Sie, bitte, nach meinen Worten.”
Aus dem Militärisch-Unerbittlichen das Menschlich-Echte herauszuempfinden, hat denn auch Viktor von Drawatzki hinreichend Gelegenheit. Trotz allen Drills, den er über sich ergehen lassen muß, trotz aller Zurechtweisungen und Hänseleien seitens der Kameraden, ist er als tüchtiger, strebsamer und gewissenhafter auch ein beliebter Offizier im Regiment. Und als einen solchen mußte der Autor ihn wiederum zeichnen, um eben das Leutnants-Leben erschöpfend ausmalen zu können. Unter den Berufenen sind ja immer nur Wenige auserwählt; aber Drawatzki gehört zu den Auserwählten, die nach Fähnrichsexerzitium und Kriegsschule nicht im Gamaschendienst der Front verkümmern, sondern sich den Weg nach oben ebnen; und so sehen wir den Leutnant bald zu den Pionieren abkommandirt, bald als Bataillonsadjutant eine Ausnahmestellung einnehmend, bald auf speziellen Wunsch seines Kommandeurs die Kriegsakademie besuchend, bald — in seinem Fall zum Zeichen der Bevorzugung an ein neugebildetes Regiment versetzt — in der Stellung des Regimentsadjutanten. Dabei ist er nichts weniger als ein Ausbund von militärischem Genie, weder Streber noch Stubenhocker. Er muß sich auch in vorgerückten Leutnantsjahren noch manchen „Anpfiff” gefallen lassen und seine drei Tage Stubenarrest absitzen; er macht alle gesellschaftlichen und kameradschaftlichen Vergnügungen mit, ist ebenso flott als Akademiker wie er als Kriegsschüler war; und auch die Liebe bleibt ihm nicht unbekannt. Zuerst ist's eine Art Primanerliebe par distance zur Tochter seines Majors, später giebt's ein bischen Manöverliebelei und schließlich eine innige Neigung zu Edith, der Tochter seines neuen Obersten, die die Seine wird, als er seine Beförderung zum Hauptmann in der Tasche hat. Damit schließt das Buch, von dem wir jedoch eine Fortsetzung erwarten dürfen. Denn wie der doppelte Titel besagt, will Freiherr von Schlicht ein „Leben in Waffen” schreiben, von dem das Leutnants-Leben der erste, aber den Appetit auf Weiteres reizende Theil ist. G.H.