Five o'clock bei Leoncavallo.

Von Freiherrn von Schlicht.

In: „Hamburger Fremdenblatt” vom 24.4.1909


Der Liebenswürdigkeit gemeinsamer Berliner Feunde verdankte ich vor einigen Wochen bei meiner Anwesenheit in Rapallo eine Einladung zu einem Tee, den Leoncavalloin der Villa Bianka des Grand Hotel Savoia einigen Freunden gab, um diesen eine von ihm entdeckte Sängerin Miß Farinelli vorzustellen, von der er hofft und glaubt, daß sie sich in der Schule seiner Frau, die ihre Ausbildung übernommen hat, zu einer zweiten Patti entwickeln wird. Mit großer Herzlichkeit hieß Leoncavallo seine Gäste willkommen. Seit Monaten weilt er schon in Rapallo, um sich von einem sehr schweren Bronchialkatarrh zu erholen und um den Versuch zu machen, einige Pfunde seines Körpergewichts zu verlieren. Er klagte sehr über sein Befinden, und ziemlich apathisch saß er bald in einem bequemen Lehnstuhl, bis die Sängerin, eine geborene Engländerin, die das Deutsche aber beinahe perfekt beherrscht, zu singen begann. Er lauschte voller Aufmerksamkeit, seine großen dunklen Augen leuchteten bei den glockenreinen Tönen freudig auf, er nickte beständig mit dem Kopfe Beifall und war dann der erste, der das Zeichen zu einem allgemeinen und wohlverdienten Applaus gab.

Nach einer halben Stunde kam der Tee, und ich fand meinen Platz an seiner Seite. Leoncavallo selbst trank anstatt des Tees zahllose Tassen heißer Milch, nahm zwischendurch hin und wieder einen Löffel Sirup gegen seinen Katarrh, und dann sprachen wir von Berlin, das er sehr liebt und das er bald wieder zu sehen hofft. Dann erzählte er mir von seiner neuen Oper „Maja”. Die Premiere in Mailand hat verschoben werden müssen, da seine Krankheit ihn verhinderte, die Ausarbeitung der Orchesterstimmen rechtzeitig zu vollenden, und es quälte ihn, daß er noch nicht wußte, wann er wieder an die Arbeit gehen könne. Und die Arbeit drängt. Im Herbst soll die Premiere im Berliner Opernhaus sein, und er erzählte mir mit glücklich leuchtenden Augen von dem außerordentlich liebenswürdigen Brief, den Exzellenz von Hülsen an ihn geschrieben hat. Ganz besonders erfreut zeigt er sich darüber, daß Herr Georg Dröscher auch diese seine Oper inszenieren wird. Gleich nach Berlin folgt die Aufführung an der Großen Oper in Paris. Auch von dem Inhalt seiner Oper versuchte Leoncavallo mir zu erzählen, aber seine ohnehin sehr leise Stimme war durch seinen Katarrh fast unverständlich geworden, häufige Hustenreize unterbrachen ihn, und ich verstand nur so viel, daß das Werk in der Provence spielt und daß er den Versuch gemacht hat, in seiner Musik die Schönheit des Landes und das lebhafte Temperament seiner Bewohner wiederzugeben. Allerdings erzählte er mir das mehr mit lebhaften Hand- und Armbewegungen als mit Worten.

Von neuem trank er eine Tasse heißer Milch, dann schalt er auf das Wetter: „Man muß hier ja krank bleiben.” Wir sprachen von Frau Cosima Wagner, die damals in dem benachbarten Sancta Margherita weilte und einige Tage mit sehr hohem Fieber, das bei ihrem Alter nicht unbedenklich erschien, das Bett hüten mußte. Zweimal täglich kam der Arzt zu ihr, und die Genesung blieb glücklicherweise nicht aus. Auch auf Siegfried Wagner kam das Gespräch, der seit einigen Tagen dort eingetroffen war, und der, wie ich erfuhr, alles in allem ein Dutzend fertiger Opern in seinem Pult liegen haben soll, da der Ehrgeiz seiner Mutter ihm in seinem künstlerischen Schaffen keine Ruhe läßt und ihn beständig zu neuen Arbeiten anspornt.

Eine der Damen fragte ihn, ob er schon einmal einen Ausflug nach dem landschaftlich sehr schönen, aber auch sehr hohen und sehr beschwerlichen „Monte Telegrafo” gemacht habe. Leoncavallo will sich totlachen, daß man ihm bei seinem Körpergewicht von mehr als zweihundert Pfund etwas derartiges zutraut, und lachend schlägt er mich, der ich gerade auch nicht zu den schlanksten gehöre, vor den Bauch: „Das ist nichts für uns, nicht wahr? Die Natur ist so wunderschön, wenn man nur nicht nötig hat, Berge zu steigen.”

Bald darauf trat Miß Farinelli wieder an das Klavier. Für gewöhnlich pflegte Leoncavallos Nichte sie zu begleiten, aber die junge Dame hatte einige anstrengende Nachtwachen bei dem Maestro durchgemacht und pflegte an jenem Nachmittag der Ruhe. Eine andere Dame hatte die Begleitung übernommen, aber die beiden kamen nicht recht zusammen, bis Leoncavallo sich dann plötzlich selbst an das Klavier setzte. Da merkte man nichts mehr von seiner Müdigkeit und Erschlaffung. Trotzdem er sich nicht einmal die Handschuhe ausgezogen hatte, glitten seine Finger mit vollendeter Meisterschaft über die Tasten. Dann setzte er sich wieder in seinen Lehnstuhl zurück und in seinen Augen spiegelte sich die Freude über das der Sängerin gespendete Lob. Er erzählte mir, daß er im Herbst, wenn er zu den Proben seiner Oper nach Berlin kommt, mit Exzellenz von Hülsen über die Sängerin sprechen und sie ihm auf das wärmste für das Berliner Opernhaus empfehlen wird.

Die Zigaretten und Zigarren wurden herumgereicht und Leoncavallo schalt, daß er nicht mitrauchen dürfe. Nächst der Musik und den Makkaroni, die er über alles liebt, von denen er trotz allen ärztlichen Zuredens nicht lassen kann und denen er seine Leibesfülle verdankt, ist der Tabak seine größte Leidenschaft. Heute konnte er aber sogar nicht einmal den Rauch vertragen, und bald flogen die Zigaretten und Zigarren auf die Straße, wo die Droschkenkutscher und die Straßenjungen sie freudestrahlend aufhoben und weiterrauchten.

Bald darauf brachen wir auf und für jeden hatte Leoncavallo zum Abschied ein freundliches Wort. Mir drückte er lange die Hand: „Wenn Sie Gelegenheit dazu haben, bestellen Sie dem schönen Berlin und den lieben Berlinern meine besten Grüße und sagen Sie ihnen, daß ich mich sehr darauf freue, sie im Herbst wieder zu sehen.” Und mit müder Stimme und einem traurigen Lächeln setzte er hinzu: „Hoffentlich bin ich bis dahin wieder ganz gesund.”

Wenige Tage später feierte Leoncavallo seinen 50. Geburtstag [L. ist geboren am 23.4.1857. D.Hrsgb.], an dem auch ich als Gratulant erschien, und ein Brief, den er mir vor wenigen Tagen von seiner Besitzung am Lago Maggiore schrieb, brachte mir die frohe Nachricht, daß er vollständig genesen und voller Eifer wieder bei der Arbeit ist.


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