Erzählung aus dem Militärleben von Freiherrn von Schlicht.
in: „Ein Ehrenwort”.
Die Chaussee, die von der kleinen holsteinischen Stadt nach Norden führt, steigt steil an: auf der rechten Seite der Straße liegen mitten in Gärten elegante Villen, während ihnen gegenüber sich frische, grüne Wiesen, soweit das Auge reicht, erstrecken. Nach kurzer Wanderung erreicht man eine kleine Pforte und tritt durch diese hinein in einen Jahrhunderte alten Buchenwald.
Da, wo der Weg sich spaltet, um geradeaus wieder an die Chaussee, links aber tiefer in den Wald hineinzuführen, liegt, von alten Buchen umschlossen, ein Kirchhof. Aus roten Steinen errichtet, erhebt sich in seiner Mitte ein kapellenartiger Bau, und die in ihm angebrachte Inschrift besagt, daß Freund und Feind hier ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. Hier liegen die Kämpfer, die in dem schleswig-holsteinischen Kriege gefallen sind — die Gräber sind schön gepflegt, und frische Blumen und frischer Epheu wachsen auf den Hügeln.
Etwas abseits von den andern, dicht am Ostsaum des kleinen Kirchhofes, liegt ein Grab für sich allein. Es hat kein offenes Gitter, es trägt keinen Stein und keine Tafel; nur wenige wissen, wer da ruht, aber diese wenigen treten nicht an den Hügel, ohne in stiller Andacht zu verweilen . . . .
Wir nannten ihn im Regiment nie anders als Kurt — beim Nachnamen nannte ihn kein Mensch, selbst die Vorgesetzten nicht, auch für sie war er nur Herr Leutnant Kurt. Ja, selbst seine Untergebenen, die für ihn, wie man zu sagen pflegt, durchs Feuer gingen, antworteten in den Instruktionsstunden, wenn das Thema: „Vorgesetzte” durchgenommen wurde, auf die Frage des Korporals: „Wie heißt euer Offizier?” stets: „Herr Leutnant Kurt.”
Und wir hatten ihn alle gern.
Kurt war, als er aus dem Kadettenkorps zu uns kam, neunzehn Jahre. Er war von kleiner, zierlicher Gestalt, etwas mädchenhaftes lag über seiner ganzen Erscheinung, und dieser Eindruck wurde durch das völlig bartlose, rotwangige Gesicht, aus dem zwei hellblaue Augen immer fröhlich und lachend in die Welt schauten, noch gehoben. Trotzdem war er von einer Ausdauer, einer körperlichen Kraft und Gewandtheit, um die wir ihn alle beneideten.
Dabei war er wie ein Kind so lieb und gut, so unverdorben — selbst das ernsteste Gesicht leuchtete freudig auf, wenn Kurt erschien, und jeder hatte den Wunsch, ihm irgend eine Freude zu machen, ihm durch Wort oder Tat zu zeigen, wie gern er ihn hätte.
Ein Ereignis kam noch hinzu, um unsere Liebe und unsere Achtung für ihn, soweit dies nur möglich war, zu erhöhen. Wir kamen von einer großen Gesellschaft, in der eine Tanzfestlichkeit stattgefunden hatte. Es war im Spätherbst, aber warm und schön wie im Sommer. So gingen wir auch nicht gleich nach Hause, sondern machten einen Umweg, der uns am Wasser entlang führte. Da bemerkten wir auf der Brücke, die weit in den tiefen Fluß hineingebaut ist, eine weibliche Gestalt, und plötzlich schlug das Geräusch eines dumpfen Falles an unser Ohr.
Uns alle lähmte für einen Augenblick der Schreck; es unterlag für uns keinem Zweifel, daß hier selbstmörderische Absicht vorlag. Bevor wir noch einen Gedanken fassen, auf Rettung sinnen konnten, sahen wir Kurt, der nur seinen Säbel abgeworfen hatte, in voller Uniform der Unglücksstätte zuschwimmen.
Wir stürzten davon, um ein Boot loszumachen, den beiden zu Hilfe zu eilen, aber die Kähne waren mit Ketten an den Pfählen befestigt. So dauerte es ziemlich lange, bis wir ein Boot flott hatten.
Unsere Arbeit war indes unnötig gewesen: Im linken Arm die Ohnmächtige haltend, ruderte Kurt dem Ufer entgegen und hatte bald das Land erreicht. Nicht leicht mochte es ihm geworden sein, das Mädchen zu retten; sein Gesicht war zerkratzt und blutig — ein Beweis, daß sie sich mit ganzer Kraft gewehrt haben mußte.
Einer von uns stürzte davon, einen Arzt zu holen, dessen sofort angestellte Wiederbelebungsversuche bald von Erfolg gekrönt wurden.
Am nächsten Tag war Kurt der Held der Stadt und blieb es auch fortan. Ich sehe noch sein glückstrahlendes Gesicht, als der Kommandeur ihm wenige Wochen später die ihm aus Anlaß seiner braven Tat verliehene Rettungsmedaille in Gegenwart des gesamten Offizierkorps überreichte. Wir alle freuten uns über diese Auszeichnung, als wäre sie uns selbst zu teil geworden.
Fünf Jahre war Kurt nun schon bei uns; überall genoß er nach wie vor die größte Hochachtung. Er war in jeder Hinsicht ein tadelloser Offizier, stramm, gewandt und gewissenhaft im Dienst, ein trefflicher Kamerad, solide in seinem Lebenswandel — so war es selbstverständlich, daß er zum Adjutanten avanziert war. Auch zum Kasinovorsteher hatten wir ihn erwählt, und das Vertrauen, das wir dadurch in ihn gesetzt, rechtfertigte er, indem er es verstand, das gewaltige Minus, mit dem wir bisher gewirtschaftet hatten, in ein Plus umzuwandeln.
Und dann eines Tages — ich weiß es noch wie heute, und es sind doch seitdem schon so viele, viele Jahre vergangen . . . Ich war wenige Tage fortgewesen, ich hatte einen Rekrutentransport nach dem fernen Osten gebracht und ging bei meiner Rückkehr gleich vom Bahnhof aus ins Kasino, um mit den Kameraden zusammen zu essen. Die Herren saßen schon bei Tisch, als ich eintrat, und ich nahm, nachdem ich mich bei dem Ältesten zurückgemeldet hatte, meinen alten Platz ein. Mir fiel es auf, daß die Unterhaltung nicht wie sonst laut und lebhaft war, sondern daß die Herren leise miteinander flüsterten und die Köpfe zusammensteckten.
Ich wollte mich nicht in ein Geheimnis eindrängen, das mir nicht frei mitgeteilt wurde, und so fragte ich denn meinen Nachbar, nachdem ich mich am Tisch umgesehen hatte: „Hat Kurt für heute mittag abgesagt?”
Ich war auf meiner Reise mit mehreren seiner Korpskameraden zusammengetroffen und wollte die Grüße ausrichten, die mir für ihn aufgetragen worden waren.
Ich sehe noch das verwunderte Gesicht meines Kameraden: „Wissen Sie denn nicht —?”
Mir ahnte nichts gutes.
„Was gibt es denn?” fragte ich.
Der Kamerad neigt sich zu mir und flüsterte: „Kurt ist vom Dienst dispensiert, die ehrengerichliche Untersuchung ist gegen ihn eingeleitet.”
Was ich bei dieser Nachricht empfand, muß sich in meinem Gesicht ausgeprägt haben, denn mein Nachbar setzte hinzu: „Ja, ja, wir haben es zuerst auch alle nicht glauben wollen, aber leider ist es doch wahr.”
„Und wessen wird er beschuldigt?”
„Ich weiß es nicht, und wenn ich es wüßte, dürfte ich es Ihnen doch nicht sagen; nur wenige sind über den Sachverhalt unterrichtet und zum Schweigen verpflichtet worden. Es ist auch so besser — ganz unparteiisch, ohne daß sich irgend jemand vorher hat ein Urteil bilden können, tritt das Ehrengericht dann zusammen. Möchte es ihm gelingen, sich von jedem Verdacht zu reinigen!”
Unmittelbar, nachdem der Kaffee serviert war, ging die Tischgesellschaft auseinander; es fehlte uns die Lust zu weiterem Zusammensein, uns allen war traurig zu Mut.
Langsam gingen die nächsten Tage dahin.
Wenn gegen einen Offizier die ehrengerichtliche Untersuchung eingeleitet wird, so nimmt der Ehrenrat zunächst ein ,vorläufiges' Verhör mit dem Angeschuldigten vor; das aufgenommene Protokoll wird sodann dem Divisionskommandeur vorgelegt, und dieser entscheidet darüber, ob das Verfahren eingestellt werden soll oder nicht.
Wir alle hofften, daß schon bei dem ersten Verhör Kurts völlige Unschuld zu Tage treten würde. Kurt konnte ja nicht schuldig sein. Wir waren daher wie vernichtet, als der Bescheid der Division zurückkam, es sollte gegen Kurt die förmliche Untersuchung eingeleitet und demnächst ehrengerichtlich erkannt werden.
Wenige Tage später lasen wir im Parolebuch den Befehl: „Morgen früh um acht Uhr versammeln sich sämtliche Offiziere im Dienstanzug zu einer Besprechung im Offizierskasino.” Der Schreiber wegen war das Wort „Besprechung” gewählt; wir wußten indes nur alle zu gut, um was es sich handelte.
Zur befohlenen Zeit versammelten wir uns im Offizierskasino, dem Kommandeur wurde Meldung erstattet, es waren alle Herren zur Stelle, es fehlte kein einziger — doch einer, aber nein, sah ich recht? War das wirklich Kurt, unser aller Liebling, der jetzt, anscheinend um Jahre gealtert, den Blick zu Boden gesenkt, mit aschfahlen Wangen ins Zimmer trat?
Er erwiderte unseren Gruß nicht, er schien ihn garnicht bemerkt zu haben. Leicht auf einen Stuhl gelehnt, den ein Adjutant ihm hingeschoben hatte, stand er da, bleich wie der Tod; ein leises Zittern und Beben ging von Zeit zu Zeit durch seine jugendliche Gestalt.
„Meine Herren,” begann nun der Kommandeur, und auch seine sonst so feste und sichere Stimme zitterte, „wir sind heute hier zusammengekommen, um in der vorliegenden ehrengerichtlichen Untersuchung recht zu sprechen. Ich habe Sie, Herr Leutnant, zunächst zu fragen, ob Sie gegen einen der hier versammelten Richter irgend eine Einwendung zu machen haben?”
„Nein,” kam es fast tonlos von seinen Lippen.
„Bevor wir in die Verhandlung treten, habe ich Sie, meine Herren,” fuhr der Kommandeur fort, „aufzufordern, als Ehrenmänner, ohne Leidenschaft, nach Pflicht und Gewissen und mit Erwägung der einwirkenden besonderen Verhältnisse Ihre Stimme abzugeben.”
Durch eine Handbewegung wurden wir aufgefordert, Platz zu nehmen; nur Kurt blieb stehen, obgleich es auch ihm frei stand, sich zu setzen.
Das jüngste Mitglied des Ehrenrates begann mit der Verlesung des Protokolls: „Auf Befehl des Herrn Obersten und Regimentskommandeurs erschien heute vor dem unterzeichneten Ehrenrat der Angeschuldigte, um wegen der ihm zur Last gelegten Vergehen: der Unterschlagung anvertrauter Gelder und der Urkundenfälschung, vorläufig vernommen zu werden.”
Wir glaubten nicht recht gehört zu haben; erschrocken sahen wir einander an und richteten unsere Blicke auf Kurt.
Er mochte fühlen, daß aller Augen sich ihm zuwandten, denn für eine Sekunde färbten sich seine Wangen dunkelrot, um gleich darauf wieder zu erblassen.
Und nun erfuhren wir die Geschichte seines Lebens und seiner Schuld.
Kurt war der jüngste von sechs Söhnen seines längst verstorbenen Vaters und seiner noch in hohem Alter lebenden Mutter. Der Vater war Offizier in der früheren schleswig-holsteinischen Armee gewesen, hatte mit Auszeichnungen an fast allen Gefechten des unglücklichen Feldzuges teilgenommen und dann, als die Armee sich auflöste, auf alle mögliche Art und Weise versucht, seine Familie zu ernähren. Ein Leben voll Not und Entbehrungen begann, gleich so vielen anderen kämpfte auch er verzweifelt um seine Existenz. Endlich gelang es Kurts Vater, eine bescheidene Anstellung zu erhalten; das geringe Einkommen schützte wenigstens vor der äußersten Not, aber als der Vater bald darauf starb, blieb die Familie in der größten Armut zurück.
Da, als die Not am größten war, erbarmte sich der Verlassenen eine reiche Verwandte und setzte der Witwe ein Jahresgehalt aus, das dieser ermöglichte, ihren Kindern eine gute Erziehung zu teil werden zu lassen. Kurt, der Liebling seiner Verwandten, sollte auf ihren ausdrücklichen Wunsch Offizier werden; sie übernahm es, fortan für ihn zu sorgen.
Das Leben im Kadettenkorps begann. Kurt war jung und zart, und die Anstrengungen des praktischen Dienstes drohten oft, ihn umzuwerfen. Das Lernen wurde ihm leicht, denn er war ein aufgeweckter Knabe; aber dennoch saß er oft des Abends und auch des Morgens vor Beginn des Unterrichts bei seinen Büchern, ohne daß er deren Inhalt seinem Geist einzuprägen vermochte. Das Heimweh hatte ihn ergriffen, er sehnte sich zurück zu seiner Mutter, zu den Geschwistern, weit, weit von hier fort. So war seine Jugend freudlos, aber er durfte nicht klagen, seiner Mutter nicht zeigen, wie es um ihn stand. Denn in jedem Brief ermahnte sie ihn, fleißig und strebsam zu sein, alle freie Zeit zum Arbeiten zu benutzen, damit er ja durch gute Zeugnisse das Gute, das eine Verwandte ihm erweise, vergelte. Ach, wie hatte er in solchen Stunden seine Bücher gehaßt und sie voll Ingrimm in die Ecke geworfen, während ihm die Tränen in die Augen traten! Aber gehorsam hatte er dann gleich darauf doch wieder bei der Arbeit gesessen. Die Mutter hatte ja recht, er durfte seine Wohltäterin nicht erzürnen.
In seinem Innern sah es trübe und traurig aus, aber seine Kameraden ahnten nichts davon. Er war stets lustig und fröhlich, wenn er mit ihnen zusammenkam, sie liebten ihn, sie suchten seine Gesellschaft, und oft verbrachte er seine Ferien bei den Eltern des einen oder anderen Kameraden.
Mit achtzehn Jahren hatte Kurt die Fähnrichsprüfung bestanden und wurde als einer der besten in die Selekta aufgenommen. Wieder ein Jahr später bestand er sein Offiziersexamen. Dann trat er bei uns ein.
Von dem Tage an, da er das Kadettenkorps verlassen hatte, da er die goldene Freiheit genoß, war die Lust zu seinem Beruf mit einem Mal in ihm erwacht. Er wurde ein tüchtiger Offizier, der nicht nur seinen Frontdienst tat, sondern sich auch durch häusliche, wissenschaftliche Arbeiten weiterzubilden versuchte.
Sorgen irgendwelcher Art drückten ihn nicht; er bezog eine monatliche Zulage, die sehr reichlich bemessen war.
So gingen einige Jahre ür die Familie in der glücklichsten Weise dahin — da starb die Wohltäterin, ohne daß sie in ihrem Testament Kurts und seiner Angehörigen gedacht hatte. Und mit einem Schlage war alles Glück vernichtet.
„Sorge Dich nicht um mich!” lautete ein Brief Kurts an seine Mutter, „ich bin jung, meine Ansprüche sind dank der Erziehung, die ich genoß, und dank dem Vorbilde, das Du mir stets warst, so gering, daß es mir möglich sein wird, auch ohne die jährliche Zulage, die ich bisher erhielt, auszukommen. Ich denke nur an Dich — ich kann es nicht, aber die Brüder, die als Kaufleute nicht halb so viel Verpflichtungen aller Art haben, wie ich, werden Dir, obgleich ja auch sie nun allein auf ihr Gehalt angewiesen sind, helfen. Gibt jeder von ihnen nur ein Fünftel seines Einkommens, so wird es ausreichen, um Dich auch in Zukunft vor jeder Sorge zu schützen.”
Nur wer selbst Offizier gewesen ist, weiß, was es heißt, ohne Zulage auszukommen; nur der weiß, welche Entbehrungen und Einschränkungen man sich im krassen Gegensatz zu dem schimmernden äußeren Gewand oft auferlegen muß.
Kurt brachte das Wunder fertig, ja, noch mehr, als die Mutter schrieb, daß sie in Not sei, daß die Brüder das ihr gegebene Versprechen, sie zu unterstützen, nicht hielten, weil es ihnen nach ihrer Angabe unmöglich sei, von dem wenigen, das sie hätten, abzugeben — da begann Kurt seinerseits der Mutter zu helfen, für sie zu hungern.
Bewundernd schauten wir Kurt an, und ich glaube, im Geiste drückte ihm ein jeder die Hand.
Dann war eines Abends plötzlich und unerwartet Kurts ältester Bruder gekommen und hatte ihn angefleht und beschworen, ihm zu helfen: er brauche Geld, nicht viel, nur tausend Mark.
Wie traurig mochte Kurt aufgelacht haben, „nur tausend Mark” — für ihn, der mit Pfennigen rechnen mußte, ein Vermögen!
Tausend Mark, das Gehalt eines ganzen Jahres, woher sollte er das so plötzlich nehmen? Unmöglich! Das hatte er dem Bruder auch gesagt; der aber ließ nicht nach, zu bitten und zu flehen: er brauchte das Geld, übermorgen mittag war ein Wechsel fällig, der unter allen Umständen eingelöst werden mußte. Alle Versuche, ihn prolongieren zu lassen, waren gescheitert; eben jetzt, nach dem Tode seiner Verwandten, die auch ihn früher reichlich unterstützt hatten, war sein Kredit erschüttert. Man wußte, daß er jetzt weiter nichts besaß als seinen Gehalt; man wollte das Geld, das er auf diesen Wechsel hin geliehen hatte, zurück haben. Konnte er nicht zahlen, so würde man sich an seinen Bürgen halten.
„So mag man es tun!” hatte Kurt erwidert, „ich wiederhole es, du verlangst Unmögliches von mir. Laß den Bürgen zahlen und erstatte ihm, sobald es dir möglich ist, das Geld zurück! Ich kann nicht helfen und sehe die Notwendigkeit auch nicht ein.”
Da hatte die Angst dem Bruder ein Geständnis abgerungen: er hatte die Unterschrift des Bürgen, nämlich seiner Mutter, gefälscht.
Nie, nimmermehr durfte die Mutter etwas davon erfahren, dachte Kurt. Der Wechsel mußte eingelöst werden! Seit Wochen war die Mutter leidend und bettlägerig — man würde sie pfänden, ihr das Letzte nehmen, was sie besaß, es würde ihr Tod sein, wenn sie von der Schmach ihres Sohnes hörte.
Das Geld mußte also beschafft werden, und zwar sofort, denn in wenigen Stunden ging der Zug ab, mit dem der Bruder wieder reisen mußte, um am nächsten Tage rechtzeitig im Geschäft zu sein.
Kurt hatte seinen Bruder gebeten, in seiner Wohnung zu warten, dann hatte er das Haus verlassen, um sich das Geld zu besorgen. Er war von einem Kameraden zum andern gegangen, jeder hatte seine Bereitwilligkeit, ihm helfen zu wollen, erklärt, hatte ihm versprochen, ihm das Geld in den nächsten Tagen zu beschaffen. Doch damit war ihm ja nicht gedient; so ging er weiter von Tür zu Tür, bis er endlich bei einem verheirateten Kameraden, der zufällig gerade eine größere Summe baren Geldes im Hause hatte, das gewünschte erhielt. Er eilte nach Hause, um dem Bruder das Geld zu geben, und mit heißen Dankesworten und mit der Versicherung, die Summe so bald wie möglich zurückzuerstatten, reiste dieser ab.
Kurt blieb allein zurück — wie er selbst sagte, in der größten Verzweiflung. Wohl hatte der Kamerad gesagt, daß er sie ihm leihe, solange er wolle, jahraus, jahrein, und Kurt wußte, daß es ihm Ernst gewesen war mit diesen Worten — trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb drückte ihn seine Schuld.
Es war das erste Mal daß er sich etwas geborgt hatte, wie sollte es ihm möglich sein, jemals die tausend Mark zurückzuerstatten? Zehn lange Jahre mußte er noch warten, bis seine Beförderung zum Hauptmann zu erwarten war — er hatte sich hingesetzt, gerechnet und gerechnet, überlegt und nachgedacht, wo er noch einen Groschen an seinen Ausgaben sparen könnte, aber auf ein Minimum war schon alles beschränkt, er hatte keinen Ausweg gefunden.
Der Gedanke jedoch, seiner Mutter geholfen, sie gerettet zu haben, hatte ihn trotz der eigenen Sorgen wieder froh und glücklich gemacht.
Da hatte der nächste Tag ein Telegramm seines Bruders gebracht: „Hilf mir noch einmal! Sonst sind wir dennoch verloren.”
Er hatte das Papier angestarrt, die Worte gelesen, ohne ihren Sinn zu begreifen, und immer wieder hatte er gelesen: „Hilf mir noch einmal! Sonst sind wir dennoch verloren.”
Was war geschehen?
Noch bevor Kurt dem Bruder hatte schreiben können, daß jede weitere Hilfe unmöglich sei, war von diesem ein Eilbrief eingelaufen, in dem er ein Geständnis seiner neuen Schuld ablegte. Nach seiner Rückkehr am gestrigen Tage war er in der Freude seines Herzens, wenn auch nur vorläufig von allen Sorgen befreit zu sein, in ein Restaurant gegangen, wo er Freunde anzutreffen hoffte. Aus Anlaß einer Geburtstagsfeier war es dort lustig und fröhlich zugegangen, dem Wein waren bald die Karten gefolgt — er hatte sich hinreißen lassen, an dem jeu teilzunehmen, und fast alles verloren, was der Bruder ihm gegeben hatte.
Wie vernichtet war Kurt bei dieser Nachricht zusammengebrochen. Wie war ein solcher Leichtsinn nur möglich! Wie hatte sich der Bruder nur so weit vergessen können!
Ruhelos war er in seinem Zimmer auf- und abgegangen — da hatte ihn plötzlich das Bild der Mutter angeschaut, und ihm war gewesen, als ob es lebte und mit sprechenden Augen ihn ansähe.
Welche heilige Scheu und Ehrfurcht hatte er stets vor dem Blick seiner Mutter gehabt, und jetzt schien er zu sagen: „Hast Du mich denn ganz vergessen?”
Kurt hatte die Hände gerungen, die Tränen waren ihm aus den Augen gestürzt, und verzweifelt hatte er einmal nach dem andern: „Mutter, Mutter!” gerufen — ihm war so todestraurig zu Mut, er hätte sein Leben hingegeben, wenn es ihm dadurch möglich gewesen wäre, sie zu retten. Er sah sie vor sich, wie sie in ihrer einfachen Stube auf dem Krankenbett lag, getrennt von ihren Kindern, nur auf die Hilfe und Pflege eines Mädchens angewiesen. Er sah ihr liebes, gütiges, aber von vielem überwundenen Leid sprechendes Gesicht vor sich: Frau Sorge hatte sie getreulich auf ihrem Lebensweg begleitet, dem Glück war immer das Unglück nur zu schnell wieder gefolgt. Ihre einzige Freude im Leben, die sie nie verlassen hatte, waren ihre Kinder gewesen.
Mit Schrecken hatte Kurt alsdann überdacht, was nun kommen würde; nicht den Bruder hatte er bedauert, nur das Bild der Mutter hatte ihm vor Augen gestanden.
Und plötzlich hatte er geglaubt, ihre Stimme zu vernehmen, die da sagte: „Hilf noch einmal, Du hilfst ja mir!”
Da hatte er mit einemmal der Kasinogelder gedacht, die er vor sich in seinem Schreibtisch aufbewahrte, es waren mehrere tausend Mark, die Einnahmen eines ganzen Monats.
Ein Zittern und Beben war durch seinen Körper gegangen. Die Versuchung trat an ihn heran, aber er widerstand.
Da hatte ihn ein zweites Telegramm seines Bruders ereilt: „Mutter schwer krank! Hilf schnell!”
Da war der Kampf zwischen der Pflicht und der Kindesliebe in seinem Innern entbrannt; der Bruder mußte sich der Mutter anvertraut haben; Kurt wußte, sie würde sterben, wenn die Schuld ihres Sohnes an das Tageslicht käme.
Und getrieben von der grenzenlosen Liebe zu seiner Mutter, in der Absicht, ihr Leid und Kummer zu ersparen, in der Hoffnung, den ehrlichen Namen seiner Eltern rein und makellos zu erhalten, war er in dem Kampfe unterlegen und hatte die Hand ausgestreckt nach fremdem Geld.
Wohl war er sich bewußt, dadurch schwere Schuld auf sich zu laden; aber er glaubte, daß es ihm gelingen würde, sich an einem der nächsten Tage auch diese Summe verschaffen und sie in die Kasse zurücklegen zu können.
Indes scheiterten all' seine Versuche, am nächsten Tag das Geld von einem Kameraden zu erhalten — und ihm fehlte der Mut, sich den älteren Stabsoffizieren im Regiment anzuvertrauen.
So kam der Erste des nächsten Monats heran und damit der Tag, an dem Kurt, wie an jedem Ersten, mit dem Stabsoffizier der Kasinokommission abrechnen, ihm die Kasse und die Belege vorlegen mußte.
Kurt sah sich entdeckt, mit Schimpf und Schande aus dem Offizierkorps ausgestoßen. Die Angst, die Erregung, in der er sich befand, nahmen ihm die richtige Überlegung, und kaum wissend, was er tat, machte er in den Büchern ein paar falsche Eintragungen und brachte dadurch das Soll und Haben in Einklang. Sogald es ihm gelungen wäre, das Geld aufzutreiben, wollte er es in die Kasse zurücklegen und dann bei der nächsten Abrechnung darauf hinweisen, daß er sich jetzt geirrt haben müsse.
Der geringe Kassenbestand hatte die Verwunderung des Stabsoffiziers erweckt, er hatte die Bücher eingehender als sonst geprüft, und so war Kurts Schuld bekannt geworden.
Schon an demselben Mittag war er vom Dienst dispensiert, und nun stand er vor uns — seinen Richtern.
Die Akten waren verlesen, es trat Totenstille ein. Der Kommandeur erhob sich:
„Ich habe Sie nunmehr zu fragen, Herr Leutnant, ob Sie zur Person, zur Sache oder zu Ihrer Verteidigung noch irgend etwas anzuführen haben?”
„Nein, Herr Oberst.”
„Dann danke ich Ihnen sehr.”
Und den Blick zu Boden gesenkt, ging Kurt aus dem Saal.
Darauf begann der Bericht des Ehrenrates, der in kurzen Worten noch einmal das Vergehen schilderte und dann sein Urteil abgab.
Wir waren darauf gefaßt, daß Kurt eine harte Strafe treffen würde, aber als nun die Worte in unser Ohr klangen:
„Schuldig der Gefährdung der Standesehre mit Beantragung der Entlassung mit schlichtem Abschied,” da ging es fast wie ein drohendes Murren gegen den Ehrenrat durch den Saal.
Gewiß hatte Kurt gefehlt, mußte die Strafe aber eine so schwere sein? War er nicht dem edelsten Gefühl, der Kindesliebe unterlegen?
Die Meinungen schwirrten durcheinander, wir überlegten hin und her — fand sich denn gar kein Ausweg, ihn zu retten, ihn sich selbst und uns zu erhalten? Wir waren ja nicht an den Antrag des Ehrenrates gebunden, ein jeder von uns sollte ja sein eigenes Urteil abgeben, das da lauten konnte auf Freisprechung, Erteilung einer Warnung oder auf Entlassung.
Wir konnten uns nicht schlüssig werden, Stunde auf Stunde verrann.
Der Kommandeur erhob seine Stimme:
„Hat irgend einer der Herren noch eine Frage?”
Da trat ein ganz junger Offizier vor, der erst seit wenigen Wochen die Epaulettes trug, aber trotz des Unterschieds der Jahre mit Kurt sehr befreundet war:
„Gestatten der Herr Oberst — wird Kurts Schuld dadurch verringert, daß der Betrag, den er der Kasse entnommen, zurückerstattet wird? In diesem Fall nehme ich es auf mich, das Geld zu ersetzen.”
Der Kommandeur gab dem jungen Leutnant die Hand.
„Ihre Worte machen Ihrem Herzen alle Ehre, der Betrag ist bereits von anderer Seite zurückerstattet worden. Die Schuld bleibt trotzdem bestehen, wird dadurch auch nicht im mindesten verringert. Es handelt sich nicht um die Unterschlagung allein, sondern auch um die Fälschung der Bücher.”
Gewiß, der Kommandeur hatte recht; aber stand die Fälschung nicht im engsten innern und äußern Zusammenhang mit der Unterschlagung? Hatten ihn bei der zweiten Tat nicht dieselben Motive geleitet wie bei der ersten? Er hatte sich nicht, wie vielleicht der eine oder der andere es getan hätte, gleich das Leben genommen — nicht aus Feigheit, das Wort kannte Kurt nicht, sondern weil er sich gesagt haben mochte, daß sein Tod zwecklos sei; er mußte leben, um der Mutter später weiter helfen zu können, für sie zu arbeiten.
Ich habe in manchem Ehrengericht gesessen, aber nie ist es mir — und ich weiß, auch allen andern Kameraden — so schwer geworden, die Stimme abzugeben, wie in diesem Falle.
Endlich traten wir einer nach dem andern vor, um unser Urteil abzugeben; mit Stimmeneinheit wurde der Antrag des Ehrenrates angenommen: Kurt war nicht mehr Offizier.
„Meine Herren,” sagte da der Kommandeur, „wir haben geurteilt, wie die Pflicht es uns gebot; Gnade walten zu lassen, ist nicht unsere Sache. Ich glaubte in Ihrer aller Sinne zu handeln und habe ein Gnadengesuch aufsetzen lassen, das ich gleichzeitig mit dem ehrengerichtlichen Erkenntnis absenden werde. Ich werde Sie jetzt mit dem Wortlaut des Gesuches bekanntmachen, und ich hoffe, daß unsere ehrfurchtsvolle Bitte in Gnaden erhört wird. Vorher aber habe ich Sie noch zu fragen, ob Sie alle mit der Einreichung eines Gnadengesuches einverstanden sind?”
Unser Oberst erfeute sich keiner großen Beliebtheit, er war streng und rücksichtslos im Dienst, nie hatte er ein Wort des Lobes oder der Anerkennung, sodaß wir uns oft nach einem andern Kommandeur gesehnt hatten, der nicht nur Vorgesetzter, sondern auch Mensch war. Jetzt aber hatte er sich, da er für Kurt eintreten wollte, im Fluge aller Herzen erobert, und wir baten ihn im stillen um Verzeihung für das Böse, daß wir von ihm gedacht und über ihn gesprochen hatten.
Ein lautes, jubelndes „Ja” erscholl von allen Seiten als Antwort auf seine Frage, und dazwischen ein einziges, helles „Nein”
Wir kannten die Stimme; der Kamerad stand noch nicht lange bei uns, er war ein entgleister Gardist, der mit innerer Verachtung auf uns von der Linie herabsah, dem nichts bei uns „fein” genug dünkte. Keiner von uns verkehrte mehr mit ihm, als unumgänglich nötig war.
Es herrschte für einen Augenblick Totenstille. Starr, fassungslos sahen wir uns an. Die Absendung eines Gnadengesuches ist eine so große Seltenheit, daß sie jedesmal der eingehendsten Begründung und der Zustimmung sämtlicher Mitglieder des Ehrengerichts bedarf. Jetzt konnte das Gesuch nicht mehr abgehen, Kurts Schicksal war besiegelt.
Das Ehrengericht war geschlossen, aber als wir auseinandergingen, trat der junge Offizier, der sich bereit erklärt hatte, das der Kasse entnommene Geld zurückzuerstatten, an den ehemaligen Gardisten heran und schleuderte ihm mit unnennbarer Verachtung ein „Pfui” ins Gesicht.
Am nächsten Morgen standen sich die beiden Gegner mit den Waffen in der Hand gegenüber, eine Einigung war nicht zu erzielen gewesen. Ohne mit einer Miene zu zucken, erwartete Kurts Freund die feindliche Kugel, haarscharf flog sie an seinem Kopf vorüber, er rührte sich nicht. Dann hob er die Waffe, zielte lange und bedächtig, und blutüberströmt brach der Gegner zusammen, die Kugel war ihm in den Mund gedrungen.
„Es war dies meine Absicht,” erklärte Kurts Freund, „nun kann er wenigstens nicht zum zweiten Mal ein Menschenleben durch ein einziges Wort vernichten.”
Drei Wochen später kam die Bestätigung des ehrengerichtlichen Erkenntnisses — Kurts Name war von der Liste der Offiziere gestrichen, das Lied war aus.
Ich sah Kurt, als er vom Regimentsbureau, wo ihm das Urteil mitgeteilt worden war, kam und wieder nach Hause ging. Ich trat auf ihn zu und reichte ihm schweigend die Hand, da sah er mich so dankbar und glückselig an, daß ich zu ihm sagte: „Fasse Mut, wir alle bleiben Deine Freunde.”
Ein schmerzliches Lächeln spielte um seinen Mund; er empfand es wohl, daß meine Worte nur Worte bleiben würden, mit einem ehrengerichtlich Verabschiedeten ist für den aktiven Kameraden der Verkehr unmöglich.
Lange hielt er meine Hand, dann trennten wir uns. Ich habe ihn nicht wiedergesehen, noch an demselben Abend erschoß er sich — daß er es erst jetzt tat, war uns allen ein Beweis, daß er die Tragweite seiner Tat nicht ermessen, auf so harte Strafe nicht gerechnet hatte.
Nch den Bestimmungen stand ihm kein militärisches Begräbnis zu, selbst eine offizielle Beteiligung des geschlossenen Offizierkorps war unstatthaft; dennoch begleiteten wir ihn alle auf seinem letzten Weg. Kein Geistlicher spendete dem Toten den letzten Segensgruß — nach einem stillen Vaterunser am offenen Grab ward der Sarg hinabgelassen.