Eine Glosse über den „Kummergroschen”.

in: „Jenaer Volksblatt” vom 10.11.1901, 1. Beilage, Seite 2


Ein Kummergroschen. Den „Dresdner Nachrichten” ist, so schreibt „Der Nörgler”, eine kummer­volle Geschichte passiert, die sie der Welt durch folgende kostbare Notiz verkünden:

„In der letzten Sonnabend-Abendausgabe (Nr. 277) ist an dieser Stelle (im Feuilleton) eine feuilletonistische Skizze: Der Kummergroschen von Freiherrn von Schlicht zum Abdruck gelangt, deren Form und Tendenz mit der sonstigen Auffassung unseres Blattes in vollem Widerspruch steht. Wir halten uns zu dieser Erklärung verpflichtet, um einer falschen Beurteilung vorzubeugen, und können die Aufnahme dieses Artikels, die allein durch ein Versehen erfolgt ist, nur bedauern.” —

Der Kotau, der hier vor dem Militarismus vollzogen wird, verdient die Beachtung weiterer Kreise. Freiherr von Schlicht oder, wie er im gewöhnlichen Leben heißt, Graf Wolf Baudissin, ein ehemaliger Offizier, hat sich in der deutschen Presse einen Namen durch seine Skizzen aus dem Militärleben gemacht, die nicht nur flott geschrieben sind, sondern sich auch durch einen starken Wahrheitsmut auszeichnen. Nach den albernen Produktionen mancher sog. Militärschriftsteller mußte dem deutschen Militärwesen ein Schilderer erstehen, der bei aller Liebe zu seinem eigenen früheren Stande auch seine Schattenseiten aufzudecken wagt. Nur ein genauer Kenner der Dinge, ein Beherrscher des Stoffes und der Form durfte sich an diese schwere Aufgabe heranwagen. Freiherr von Schlicht ist der Mann dazu; seine zahlreichen Arbeiten boten immer Anregungen und seine Streiche saßen auch dann, wenn er sich vorher die Schelmenkappe aufs Haupt gestülpt und die Hand scheinbar nur mit der Narrenpeitsche bewaffnet hatte. Die Geschichte vom Kummergroschen, die dem um den Verlust hoher Kundschaft bangenden Verlag der „Dresdner Nachrichten” so arg auf den Nerv gefallen ist, gehört zu den besten Arbeiten Baudissins. Er schildert darin das Gefühl der Erbitterung, das einen älteren Oberleutnant angreift, der dem entsetzlichen Einerlei des Kompagniedienstes nicht das von seinem vorgesetzten Hauptmann gewünschte Maß von Interesse abzugewinnen vermag, sich aber dennoch jede Schinderei und jede moralische Tortur widerspruchslos gefallen lassen muß, weil der „Kummergroschen” noch nicht reicht. „Sechzig Mark im Monat, dafür hat man beinahe 15 Jahre Soldat gespielt, was hat man in dieser langen Zeit sich sagen und bieten lassen müssen. Kümmerlich, mehr als kümmerlich ist die Pension, und unter vielem schweren bitteren Kummer wird sie verdient, so ist der allgemein übliche Ausdruck „der Kummergroschen” mehr als berechtigt.” —

Daß sich ein leibhaftiger Graf, der noch dazu selbst Offizier gewesen ist, dazu hergiebt, Erzählungen und Skizzen zu schreiben, in denen der hohen militärischen Obrigkeit bös mitgespielt und das ganze materielle und moralische Elend des Offizierstandes mit rücksichtslosem Wahrheitsmut enthüllt wird, ist allerdings bitter. Und nur gar zu begreiflich ist der Schmerz der konservativen „Dresdner Nachrichten” darüber, daß gerade ihnen, die doch in Sachsen das Organ der ausgeprägtesten Rückgratsverkrümmung sind, das Malheur passieren mußte, solch eine „anstößige” Geschichte „durch ein Versehen” zu veröffentlichen und nun gar noch die feine, wenn auch verblümte Bitte um Entschuldigung! —


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© Karlheinz Everts