Kürzer treten!

Militärische Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Exzellenz ist wütend” und
in: „An die Gewehre”


Alles im Leben wiederholt sich und folgt einander in mehr oder weniger regelmäßigen Zwischenräumen und Abständen, die ihm von der Natur oder sonst irgendwie vorgeschrieben sind.

Die Parademärsche und Züge der Kompagnien(1) folgen einander in einem Zwischenraum und Abstand von zweiundzwanzig Schritt. Das Reglement schreibt diese Zahl vor, deshalb steht sie fester als die Riesenpyramide bei Gizeh. An der darf man rütteln und wackeln so viel man will, aber wer es da wagt, die Zahl zweiundzwanzig auch nur anzutasten, dem Gnade Gott.

Es ist meine feste Überzeugung, daß es weder die politische Lage Europas, noch die finanzielle Lage Deutschlands irgendwie ändern würde, wenn man einem Zug oder einer Kompagnie einmal erlauben würde, anstatt mit zweiundzwanzig Schritt mit einem anderen Abstand vorbeizu­marschieren. Ich glaube auch nicht, daß dann eine verheerende Seuche ausbräche oder daß die Bevölkerung unseres Vaterlandes sonst irgend wie an ihrem Leibe und an ihrer Seele irgend welchen Schaden erlitte, aber trotz alledem wird mit eiserner Strenge an diesen zweiundzwanzig Schritt festgehalten.

Bei einem Parademarsch in Zügen oder in Kompagniefront stehen diese zunächst dicht aufgeschlossen hinter einander. Sobald die vordere Abteilung antritt, fängt der rechte Flügelmann der hinteren Abteilung laut an zu zählen: vier, fünf, sechs und so weiter. wenn er achtzehn ruft, kommandiert der Führer „Frei” und bei einundzwanzig ruft er „weg” und auf dieses „Freiweg” marschieren die Leute dann los, dem Tode, nein, das ist nicht wahr, aber der Kritik entgegen.

Und eine Kritik ist oft noch mörderischer als der Tod.

In der Theorie ist das mit den zweiundzwanzig Schritt Abstand sehr schön und sehr gut und wenn es klappt, dann klappt es auch. Aber in der Praxis gestaltet es sich leider manchmal anders.

Der Herr Oberst ist heute in höchsteigener Person draußen auf dem Exerzierplatz erschienen, auf dem sich die zwölf Kompagnien des Regiments unter der Anführung der anderen Vorgesetzten herumtummeln. Und gleichzeitig mit dem Herrn Oberst, der gänzlich unerwartet kommt, erscheint auch die Regimentsmusik unter Anführung ihres Dirigenten.

Allen ahnt nichts gutes. Jetzt heißt es bald wieder: „Parademarsch — Knochen strecken — Knie durchdrücken — Fußspitzen herunter.” Den Kerls wird bei dem Gedanken ganz schwach und selbst die Kommißstiefel ahnen, was ihnen bevorsteht — ihnen wird noch schwächer und einer Stiefelsohle wird sogar so schwach, daß sie sich nicht mehr an dem Oberleder festhalten kann, sondern hintenüber fällt.

Ein Hauptmann sieht plötzlich voller Schrecken, daß einer seiner Kerls eine Stiefelsohle verloren hat und selbstverständlich bekommt der Mann einen mächtigen Anschnauzer, daß er die Stiefel gestern nicht noch zum Schuster geschickt hat.

Aber dieser Tadel ist, wie so mancher andere, gänzlich unverdient, denn gestern abend saß die Sohle noch ganz fest und daß sie sich löste, ist lediglich Schuld des bevorstehenden Parademarsches.

Der Oberst liest in den Gesichtern der berittenen Offiziere den Schrecken, den die Ankunft der Kapelle hervorruft und er beeilt sich, die Gemüter wieder zu beruhigen: „Fürchten Sie nichts, meine Herren, ich habe die Musik nur herausbestellt, um den Leuten auf dem Rückmarsch in die Kaserne eine Freude zu machen. Es marschiert sich bekanntlich nach den flotten Klängen der Musik tausendmal leichter und auch die Leute in der Stadt freuen sich, wenn die Truppe mit klingendem Spiel durch die Straßen zieht.”

Die Untergebenen sehen sich verwundert an. Glaubt der Oberst wirklich selbst, was er da sagt? Möglich ist es ja immerhin, denn ein Vorgesetzter bringt die schwierigsten Sachen fertig. Sie selbst aber glauben von dem, was ihnen da vorgeredet wird, nicht einen Ton.

Und wie recht sie damit tun, wird ihnen klar, als der Kommandeur nach einer halben Stunde seine Offiziere wieder zu sich bittet: „Meine Herren, wie ich Ihnen schon vorhin sagte, war es ursprünglich keineswegs meine Absicht, und ich betone das Wort „keineswegs” ganz besonders, also ich meine: Nichts lag mir ferner, als heute Parademarsch üben zu lassen, aber da die Musik nun einmal da ist und da ist sie ja, da meine ich, wozu ist sie eigentlich jetzt schon da, wenn wir uns das nicht zu nutze machen wollen. Nicht wahr, meine Herren?”

Auf sogenannte rhetorische Fragen erwartet man selbst beim Zivil keine Antwort, beim Militär erwartet man sie aber selbst auf direkte nur in den allerseltensten Fällen und zwar aus dem sehr einfachen Grunde, weil sie meistens ganz anders lauten würden, als sie lauten sollen.

Und die Untergebenen halten auch schon deshalb das Maul, um sich durch ihre Antwort nicht die Zunge zu verbrennen.

Der Oberst liest in den Gesichtern seiner Offiziere ganz deutlich, daß diese meilenweit davon entfernt sind, ebenso zu denken, wie er, so sagt er denn jetzt: „Meine Herren, ich sehe es Ihnen an und merke es auch daraus, daß mir niemand widerspricht, daß Sie völlig meiner Ansicht beistimmen. Dann wollen wir uns aber auch jetzt nicht länger unnötig aufhalten, sondern die kurze Zeit, die wir noch für den Parademarsch haben, gehörig ausnützen. Für den Vorbeimarsch selbst möchte ich Sie nur auf eins aufmerksam machen: Ich lege den allergrößten Wert darauf, daß der Abstand von zweiundzwanzig Schritt auf das allergenaueste innegehalten wird. Kein Schritt zu viel und noch weniger ein Schritt zu wenig, das bitte ich haarscharf zu beobachten.”

Gleich darauf baut sich das ganze Regiment zum Parademarsch auf. Nur der Mann, dessen Stiefelsohle vorhin losging, braucht nicht mitzumachen, sondern kann aus weiter Ferne dem militärischen Schauspiel zusehen.

Der Kapellmeister hebt den Taktstock, die Musik beginnt und die erste Kompagnie tritt an, der folgt die zweite, dieser die dritte und so geht das weiter.

Und wenn sie dran ist, wird auch die Königliche(2) Zehnte antreten.

Vorläufig hat sie noch viel Zeit, aber trotzdem ist der Hauptmann schon jetzt sehr nervös und unruhig. Der ist ein wirklich tüchtiger Offizier, aber er hat den großen Fehler, sobald die Vorgesetzten in der Nähe sind, vollständig den Kopf zu verlieren.

Wenn er nachher nur den richtigen Abstand hält!

Die Angst wird er schon jetzt nicht los und obgleich die vorderen Kompagnien noch gar nicht daran denken, anzutreten, und noch aus langer Weile Daumen drehen, ruft der Hauptmann dem Offizier am rechten Flügel zu: „Daß Sie mir nachher ja ganz genau zählen, Herr Leutnant, und zwar so laut, daß ich es hier deutlich hören kann.”

„Zu Befehl, Herr Hauptmann!” lautete die Antwort.

Für einen Augenblick ist der beruhigt, aber dann bekommt er es doch wieder mit der Angst. So ruft er denn dem rechten Flügelmann, der neben dem Leutnant steht, zu: „Hansen, zählen Sie nachher mit dem Herrn Leutnant zusammen, aber so laut, daß ich es hier hören kann.”

„Zu Befehl, Herr Hauptmann!”

Wieder ist der Vorgesetzte für einen Augenblick beruhigt, aber dann bekommt er es von neuem mit der Angst. Der Offizier am rechten Flügel ist noch sehr jung, wer weiß, ob er sich in einer so wichtigen Sache völlig auf ihn verlassen kann? Und der rechte Flügelmann ist zwar ein bildhübscher Kerl, aber dumm wie Bohnenstroh. Der kann ganz sicher nicht bis zweiundzwanzig zählen.

So ruft er denn dem Offizier des mittleren Zuges zu: „Ach bitte , Herr Leutnant, zählen Sie doch nachher auch mit, und zwar so laut, daß ich es hier hören kann.”

„Zu Befehl, Herr Hauptmann!”

Aber auch dieses Mal hält die Ruhe des Vorgesetzten nicht lange an. Er hat dem Leutnant des mittleren Zuges gestern in gegebener Veranlassung seine Meinung sagen müssen. Wer kann wissen, ob der nicht noch beleidigt ist und um sich zu rächen, nachher nicht absichtlich aus Versehen falsch zählt.

So wendet er sich denn an den Flügelmann des Leutnants des mittleren Zuges: „Petersen, zählen Sie nachher auch, nachher mit dem Herrn Leutnant zusammen(3) und zwar so laut, daß ich es deutlich hören kann.”

„Zu Befehl, Herr Hauptmann!”

Aber der Vorgesetzte ist immer noch nicht beruhigt, im Gegenteil, er wird um so aufgeregter, je mehr Kompagnien da vorne vor ihm antreten und je näher der Augenblick heranrückt, in der er selbst mit seiner Kompagnie antreten muß.

Je mehr Leute nachher mit zählen, desto größer ist für ihn die Gewißheit, daß nachher auch richtig gezählt wird und so bestimmt er denn fortwährend einen Mann nach dem anderen, der mitzählen soll, bis er schließlich zwanzig und mehr zusammen hat.

Und der große Augenblick kommt immer näher und näjer. Jetzt tritt die neunte Kompagnie an und in demselben Augenblick beginnt der Offizier am rechten Flügel zu zählen: „Vier, fünf, sechs, sieben.”

Der rechte Flügelmann der Kompagnie hat gedöst und es gar nicht bemerkt, daß die neunte Kompagnie antritt. Als er es jetzt merkt, ist sie schon ein paar Schritte fort. Wieviel weiß er nicht, er schätzt es auf drei und im Gegensatz zu seinem Leutnant zählt er ganz laut: „sieben, acht, neun.”

„Es sind erst acht,” schnauzt der Offizier seinen Flügelmann an, aber während dieses Anschnauzers hat die vordere Kompagnie wieder ein paar Schritte gemacht. Wieviel sind es? Der Leutnant ahnt es nicht und auf gut Glück ruft er denn jetzt laut: „Elf, zwölf, dreizehn.”

Der Leutnant des mittleren Zuges ist aber schon bei vierzehn, fünfzehn angekommen, und sein Flügelmann wäre sicher ebenso weit, wenn er nicht plötzlich das Niesen bekommen hätte. Er nießt sogar dreimal nach der Reihe. Er hat es versucht, trotz des Niesens weiter zu zählen, aber die Zahlen sind ihm beim Niesen von hinten durch den Mund in die Nase gekommen, sodaß er sogar prusten muß. Nun wiß er nicht, wieviel Schritt inzwischen die neunte Kompagnie gemacht hat. Er hat dreimal genießt und dreimal geprustet, er rechnet für jedes einen Schritt und ruft plötzlich ganz laut: „achtzehn!”

Und das macht die anderen Leute irre, sie glauben plötzlich alle, sie hätten sich verzählt und rufen mit einmal auch achtzehn, ohne daran zu denken, daß die vordere Kompagnie inzwischen weiter marschiert ist.

Der Hauptmann hört all die verschiedenen Zahlen, die ihm zugerufen werden und ihm zittern vor Angst die Gebeine.

„Zum Donnerwetter, wieviel sind es denn nun?” ruft er zurück.

„Zwanzig — Vierzehn — Neunzehn — zweiundzwanzig — Achtzehn!”

Und plötzlich ruft eine Stimme ganz laut: „Vierundzwanzig!”

Und 22 Schritt Abstand soll er nur haben, es wird also höchste Zeit, anzutreten.

„Frei weg” kommandiert er und gibt dann seinem Gaul die Sporen, um seinen Leuten voranzureiten.

Aber da „Frei weg” nur ein Befehl und kein scharfes Kommando ist, treten die Kerls nicht gleichzeitig und vor allen Dingen auch nicht gleichmäßig an — es ist kein Tritt in der Kolonne.

Der Leutnant des mittleren Zuges springt vor die Front und wirft seine Beine so hoch wie nur möglich in die Luft: „Tritt aufnehmen, Kerls, Tritt,” ruft er ihnen zu, „links — links — links.”

Endlich haben die Kerls ihre Beine in Ordnung gebracht, aber um mit dem Leutnant des mittleren Zuges wieder auf gleiche Höhe zu kommen, haben sie alle ein paar Schritte vorlaufen müssen. Und kein Mensch ahnt, wie groß nun noch der Abstand von der vorderen Kompagnie ist.

Nur soviel sehen plötzlich alle, daß sie viel zu dicht heran sind.

Nur der Herr Hauptmann merkt es nicht, einmal, weil er viel zu aufgeregt ist, um überhaupt etwas zu merken, dann aber auch, weil er seinen Leuten voranreitet und naturgemäß im Rücken keine Augen hat.

„Herr Hauptmann, wir müssen kürzer treten!” ruft der Leutnant des mittleren Zuges, der direkt hinter dem Hauptmannspferd marschiert, dem Vorgesetzten zu.

Der Hauptmann dreht sich mit seinem Gaul erschrocken um: „Warum denn? Warum denn?”

Dann kommandiert er, als der Offizier ihn auf den zu nahen Abstand aufmerksam gemacht hat: „Kürzer treten!”

Und die Kerls treten kürzer, aber es ist damit eine eigene Sache. Für den richtigen Schritt sind im Reglement achtzig Centimeter vorgeschrieben, die liegen den Kerls in Fleisch und Blut, aber wie lang sollen sie Schritte bei dem Kürzertreten machen?

Jeder tritt kürzer, aber nicht zwei treten gleich kurz. Die Kerls am linken Flügel machen mit ihren kurzen Beinen, um selbst bei demm Kurztreten mit den langen Beinen der Leute am rechten Flügel im Einklang zu bleiben, zu lange Schritte und die Kerls am rechten Flügel treten mit Rücksicht auf die kurzen Beine der Leute am linken Flügel, um mit diesen auf gleicher Höhe zu bleiben, zu kurz und plötzlich sieht die Sache so aus:

Bogen-1.jpg

Der Hauptmann sieht es mit Entsetzen, der kalte Schweiß läuft ihm von der Stirn herunter und die Zunge klebt ihm am Gaumen.

Endlich aber bekommt er sie doch wieder frei. „Zum Donnerwetter! Der rechte Flügel freier weg, der linke Flügel muß viel kürzertreten.”

Und die Kerls tun, wie ihnen befohlen ist, und plötzlich sieht die Sache gerade umgekehrt aus: und zwar so:

Bogen-2.jpg

Der rechte Flügel ist viel zu weit vor und der linke ist viel zu weit zurück.

Unterdessen ist die neunte Kompagnie ruhig weiter marschiert und kein Mensch der Zehnten ahnt etwas davon, wie groß der Abstand inzwischen geworden ist.

Aber das ist ja auch ganz einerlei, erst muß die Richtung wieder hergestellt werden.

Da kommt dem Hauptmann ein rettender Gedanke: So wird es am besten gehen.

„Der linke Flügel ganz schnell, die Mitte ganz kurz und der recht Flügel noch viel kürzer treten!”

Die Kerls tun, wie ihnen befohlen ist, und plötzlich sind die beiden Flügel auch wirklich in gleicher Höhe, aber dafür ist die Mitte viel zu weit zurück und jetzt sieht die Sache so aus:

Bogen-3.jpg

Jetzt gibt es nur noch eins, der rechte und der linke Flügel müssen stehen bleiben und die Mitte muß sich danach ausrichten.

Auch dieser Befehl wird ausgeführt.

Unterdessen marschiert die neunte Kompagnie nach den Klängen der Musik unentwegt weiter, aber der Abstand von der Zehnten vergrößert sich mehr und mehr und als diese nun endlich nicht mehr kurz tritt, sondern wieder „Frei weg” marschiert, kommt sie anstatt mit 22 Schritt mit 37 Schritt Abstand vorüber.

„Sehr hübsch, Herr Hauptmann!” lobt der Oberst voller Ironie, „wirklich sehr hübsch, ich würde Ihnen raten, das bei der Besichtigung ebenso zu machen, da sind Ihre wtwaigen Zweifel, ob Sie noch einmal Major werden oder nicht, sehr bald gelöst. Aber wissen möchte ich doch, warum Sie denn eigentlich haben kürzer treten lassen? Denken kann ich es mir allerdings auch so, Sie sind natürlich zu früh angetreten. Aber wenn Sie sich in der Hinsicht nicht auf Ihre Leute verlassen können, warum zählen Sie da nicht selbst?”

Der Hauptmann schweigt und sieht den Obersten nicht nur völlig fassungslos, sondern wie ein höheres Wesen an: „Auf den Gedanken, daß er selbst bis 22 zählen könne, ist er noch nie gekommen!”


Fußnoten:

(1) In der Fassung von „An die Gewehre” heißt es hier: „Die Parademärsche der Züge und Kompagnien”. (zurück)

(2) In der Fassung von „An die Gewehre” fehlt hier das Wort: „Königliche”. (zurück)

(3) In der Fassung von „An die Gewehre” heißt es hier: „Petersen, zählen Sie nachher auch mit dem Herrn Leutnant zusammen”. (zurück)


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