Kriegsspiel.

Humoristische Plauderei von Freiherrn v. Schlicht.
in: „Düna-Zeitung” vom 25.10.1896,
(unter dem Titel: „Der kluge General und der pfiffige Lieutenant”),
in: „Das Kleine Journal” Nr. 296 vom 26.Okt. 1896,
in: „Majas Viesa” vom 30.10.1896 (in lettischer Sprache - unter dem Titel „Gudrais generalis un pfifigais leitenants”),
in: „Westdeutsche Zeitung” vom 2.11.1896,
in: „Rheinische Volksstimme” vom 3.11.1896,
in: „Märkischer Sprecher” vom 3.11.1896,
in: „General-Anzeiger für Dortmund und die Provinz Westfalen” vom 3.Nov. 1896
in: „Hamburger Nachrichten” vom 3.11.1896,
in: „Hamburger Anzeiger” vom 3.Nov. 1896
(unter dem Titel: „Der kluge General und der pfiffige Lieutenant”),
in: „Mayener Volkszeitung” vom 4.11.1896,
in: „Dortmunder Zeitung” Morgen-Ausgabe II. vom 4.11.1896,
in: „Mülheimer Zeitung” vom 7.11.1896,
in: „Märkisches Tageblatt” vom 7.11.1896,
in: „Sonntagsblatt”, Beilage zum Greifswalder Tageblatt vom 8.Nov.1896,
(unter dem Titel: „Der kluge General und der pfiffige Lieutenant”(**)),
in: „Leitmeritzer Zeiung” vom 11.11.1896
(unter dem Titel: „Der kluge General und der pfiffige Lieutenant”),
in: „Mährisches Tagblatt” vom 13.11.1896
(unter dem Titel: „Der kluge General und der pfiffige Lieutenant”),
in: „Gladbacher Volkszeitung” vom 14.11.1896,
in: „Grazer Volksblatt” vom 15.11.1896
(unter dem Titel: „Der kluge General und der pfiffige Lieutenant”),
in: „Reichspost” vom 19.11.1896 (unter dem Titel „Das Geheimniß der Flußbreite”),
in: „Freie Presse für Texas” (San Antonio) vom 25.11.1896
in: „Indiana Tribüne vom 29.11.1896 (unter dem Titel: „General und Lieutenant”),
in: „Der deutsche Beobachter” vom 2.12.1896 (unter dem Titel: „General und Lieutenant”),
in: „Teplitz-Schönauer Anzeiger” vom 9.12.1896 (unter dem Titel: „Beim Kriegsspiel”(*)),
in: „Nebraska Staats-Anzeiger” vom 10.12.1896 (unter dem Titel: „Der kluge General und der pfiffige Lieutenant”),
in: „Abendblatt”, (Chicago Ill.), vom 26.12.1896,
in: „New Orleans Deutsche Zeitung” vom 3.1.1897 (unter dem Titel „Zwei Kluge”),
in: „Grand Island Anzeiger und Herold” vom 19.2.1897,
in: „Volkswacht” (Bielefeld) Beilage, vom 13.3.1897,
in: „Preßburger Zeitung” vom 15.5.1897 (unter dem Titel: „Der kluge General und der pfiffige Lieutenant”),
in: „Echo der Gegenwart” (Aachen) vom 6.2.1900,
in: „General-Anzeiger für Duisburg, Ruhrort und Umgegend” vom 8.10.1904,
in: „Mülheimer Volkszeitung” (Köln) vom 5.5.1908 (unter dem Titel „Das Entfernungsschätzen”),
in: „Aus der Schule geplaudert”


Den Offizieren ist das Spielen bei Strafe der Dienstentlassung verboten, trotzdem werden sie von ihren Vorgesetzten angehalten, diesem Laster zu fröhnen, sie müssen spielen, öfter, als sie Lust und Neigung verspüren, noch dazu ein Spiel, das ihnen in der tiefsten Seele verhaßt und unsympathisch ist. Und dieses Spiel ist das Kriegsspiel.

Krieg wird immer gespielt: im Frühjahr sind die kleinen Felddienstübungen in den Kompagnien, dann kommen die größeren Uebungen im Bataillon und im Regiment, und ist des Landmanns Segen eingeheimst, dann zieht der rauhe Krieger ins Gelände, um einmal ordentlich Krieg spielen zu können. Ist das Manöver beendet, sind die Mannschaften entlassen, neue Rekruten eingestellt, die von dem Gebrauch ihrer Gliedmaßen und ihrer Waffen keinen blassen Dunst haben, ist die Erde mit Wintersaat bedeckt, so ist das Kriegsspiel in der freien Natur vorläufig vorüber. Leider hat es an allen Orten zu allen Zeiten Menschen gegeben, die ihre überflüssige Zeit benutzen, um auf blödsinnige Gedanken zu kommen. Wenn der Mensch ganz verrückt ist, was sich bekanntlich zuerst im Kopf des Betreffenden äußert, legt er sich auf das Erfinden. Je nach dem Grad der Verrücktheit des Erfinders wird auch die Erfindung verrückt; so entstand das Kriegsspiel, das darin besteht, daß man anstatt im Gelände auf der Karte, anstatt mit Menschen mit Steinchen, die alle möglichen Truppenkörper bezeichnen, manövrirt.

Einem jeden Kriegsspiel liegt ebenso wie jedem Gefecht eine Idee zu Grunde. Es giebt gute, schlechte und blödsinnige Ideen. Zu welchen gehört die folgende?

„Die Königin von Abessynien hat dem Papst einen Heirathsantrag gemacht. Der Zar, welcher fürchtet, daß durch diese Vereinigung seinen Absichten in Bezug auf die Schweiz ein- für allemal ein jähes Ende bereitet wird, wendet sich durch den Präsidenten Faure telegraphisch an den Präsidenten Krüger mit der Bitte, den König Oskar von Schweden anzutelephoniren (Amt VII, 1245) und diesen zu bewegen, bei dem deutschen Kaiser dahin wirken zu wollen, daß der König Alphons von Spanien diese geplante Verbindung nicht zuläßt. (1)Herr v. Plötz wird von Sr. Majestät beauftragt, Allerhöchstdemselben über die Sachlage Vortrag zu halten, bei der zu diesem Zweck anberaumtem Audienz den Bund der Landwirthe aber nicht mitzubringen. Angesichts der schwierigen politischen Lage kündigt Ahlwardt seinen Wählern an, daß er sich auf einen Dampfer eingeschifft habe und sofort zurückkehre. Herr Direktor Sigmund Lauenburg veranstaltet zum Besten der aus Anlaß von Ahlwardt's Scheiden in Amerika „traurig Hinterbliebenen” im Neuen Theater eine Wohlthätigkeits-Matinee, zu der „Das Kleine Journal” Herrn Max Schoenau als Berichterstatter entsendet.

Angesichts dieser politischen Lage erhalten Sie, Herr Hauptmann von Dingsda, folgenden Auftrag:

Sichern Sie mit Ihrer Kompagnie die Eisenbahnbrücke bei Dresden gegen etwaige Angriffe von Süden.”

„Zu Befehl, Herr Oberstlieutenant.”

„Darf ich Sie bitten, kurz den Auftrag zu wiederholen?”

„Zu Befehl, Herr Oberstlieutenant. Die Kriegslage ist folgende: Der König Alphons von Spanien will sich absolut von der Königin von Abessynien scheiden lassen. Als selbst die Versöhnungsversuche des Papstes erfolglos bleiben, wendet sich König Oscar von Schweden (2) durch Vermittlung des Herrn Direktor Sigmund Lautenburg, der gerade damit beschäftigt ist, ein neues, von Herrn Max Schoenau übersetztes französisches Sittenstück einzuüben, an Herrn Präsidenten Krüger, der Ahlwardt hat festnehmen lassen, weil infolge seines Auftretens in Transvaal keine Eier, weder frische noch faule, zu haben sind. Präsident Faure erbietet sich, der bevorstehenden Hungersnoth in Transvaal dadurch abzuhelfen, daß er die Reste des Zarendiners nach dort sendet, und bittet Herrn v. Plötz — Herrn v. Plötz — was sollte doch noch Herr v. Plötz? Herr Oberstlieutenant, das habe ich nicht ganz genau verstanden?”

„Sie scheinen überhaupt von der ganzen Sachlage nichts verstanden zu haben, Herr Hauptmann; ich muß doch sehr bitten, daß die Herren mehr aufpassen.”

Verlorene Liebesmüh.

Noch nie hat ein Mensch beim Kriegsspiel aufgepaßt, nie paßt einer auf, nie wird einer aufpassen und nie wird einer aufgepaßt haben — ein Satz, mit dem ich bis zur Evidenz bewiesen habe, daß ich tadellos konjugieren kann.

Bei Beginn eines Kriegsspielabends werden zwei Parteiführer ernannt, die ihre Aufträge erhalten und sich dann ihre Unterführer wählen.

Dann geht's los, und zwar beginnt das Spiel damit, daß die eine Partei gebeten wird, vorläufg auf einen Augenblick hinauszugehen. Das thut man mit dem größten Vergnügen, man bestellt sich bei der Ordonnanz Bier und Cigarren, spielt eine Partie écarté

„Nicht zu niedrig, nicht zu knapp,
Denn es heißt berapp, berapp.”

Der Augenblick wird etwas länglich — nach einer Stunde öffnet sich die Saalthür: „Die Herren von der Südpartei bitte ich, hereinzukommen, die Herren von der Nordpartei bitte ich, für einen Augenblick hinauszugehen.”

Auf deutsch nennt man das: changez.

Die Südpartei tritt an den hundert Kilometer langen Tisch, der von oben bis unten mit Meßtischblättern, das sind Karten im Verhältniß von 1:25 000(3), bedeckt ist.

Der Herr Oberstlieutenant, der das Kriegsspiel leitet, ergreift das Wort.

„Darf ich Sie bitten, mir Ihre Anordnungen mitzutheilen?”

„Zu Befehl, Herr Oberstlieutenant.”

Andächtig lauscht der Vorgesetzte den Worten seines Untergebenen: „Schön, sehr schön. Um sieben Uhr treten Sie an, nicht wahr, so sagten sie?”

„Zu Befehl, Herr Oberstlieutenant, um sieben Uhr trete ich nach dem Dorfe Adorf an.”

„Sehr schön, wann treffen Sie dort ein?”

Die Entfernung wird gemessen, es sind zehn Kilometer, der Soldat marschiert am Kilometer, wenn er nicht unterwegs umfällt, zwölf Minuten. Zwölf mal zehn sind, na, wie viel sind es doch gleich, ach so, hundertund dreißig —”

„Hundertundzwanzig,” tönt es im Hintergrund.

„Na, der Fähnrich muß es ja wissen, der kommt ja eben von der Kriegsschule, also hundertundzwanzig Minuten, das ist eine Stunde und — hundertzwanzig — sechzig davon ab, bleiben nochmals sechzig, also eine Stunde und sechzig Minuten.”

„Sagen wir zwei Stunden.”

„Zu Befehl, Herr Oberstlieutenant, sagen wir zwei Stunden, dann bin ich also um neun Uhr in Adorf.”

Der Oberstlieutenant wendet sich an den Adjutanten, der die Zeiten aufschreibt — da dieser für beide Parteien Buch führt, muß er die doppelte Buchführung können.

„Bitte, notieren Sie — Südpartei um neun Uhr mit der Spitze in Adorf. Wer hat die Spitze?”

Todesschweigen.

Der Führer der Südpartei blickt im Kreise herum.

„Herr Lieutenant Itzenplitz, dürfte ich Sie bitten, die Spitze zu übernehmen?”

„Ich führe die Artillerie, Herr Hauptmann.”

„Ach so — pardon — Herr Lieutenant von Rodenstein —”

„Ich kommandire die Trains.”

„Ach so — pardon — ach Fähnrich, übernehmen Sie die Spitze, wir nehmen an, daß der Offizier, der die Spitze hatte, wie das im Ernstfall ja oft genug vorkommt, abgeschossen ist.”

„Zu Befehl, Herr Hauptmann.”

Dem Fähnrich, der ganz sicher war, keinen Auftrag zu bekommen, und der keinen Schimmer hat, was los ist, schlottern die Kniee.

„Na, Fähnrich, machen Sie nur etwas schnell.”

Der Gerufene tritt aus dem Hintergrund in den Vordergrund, Aller Augen ruhen auf ihm.

„Also Fähnrich,” spricht der Herr Oberstlieutenant, „Sie kommen mit der Spitze, die wie stark ist?”

„Acht Mann, Herr Oberstlieutenant.”

„Also Sie kommen mit Ihrer Spitze um neun Uhr in Adorf an, da sehen Sie, daß die Brücke, die hier über den Bach führt, von abgesessener Kavallerie besetzt ist.”

„Was machen Sie?”

„Ich eröffne das Feuer und schicke Meldung an die Kompagnie.”

„Sehr einverstanden. Wie lautet Ihre Meldung?”

„Meldung von der Spitze:” Der Fähnrich stockt, weiter weiß er nicht, ein Fähnrich kann ja auch nicht Alles wissen.

„Nun, Fähnrich?”

„;Meldung von der Spitze:” wieder stockt er, da ertönt im Hintergrund eine Stimme:

„Meldung von der Spitze,
Bei dieser großen Hitze,
Erscheint der Feind in Mütze.”

Dieser Witz ist so alt, daß die Amme von Noah's Kindern aus der Arche herausgeworfen wurde, als sie denselben eines Abends, als es wie gewöhnlich schauderhaft regnete und man sich aus Langeweile Geschichten erzählte, als „Novität” zum Besten gab.

„Meine Herren, ich muß doch sehr bitten, Witze und noch dazu derartige Witze zu unterlassen. Also, Fähnrich, wie lautet Ihre Meldung?”

Ein junger Offizier hat inzwischen dem Armen die Meldung zugeflüstert, die Beifall findet.

„Herr Hauptmann, was machen Sie?”

„Ich verstärke die Spitze durch einen Zug und gebe den Befehl: Stürmen Sie die Brücke. Ich selbst folge.”

Das ist nun aber nicht nach der Absicht des Leitenden, der sich die Sache eigentlich anders gedacht hat.

„Glauben Sie, Herr Hauptmann, daß der Sturm gelingen wird?”

„Er muß gelingen.”

„Aber Sie wissen ja gar nicht, wie stark die Brücke besetzt ist?”

„Gerade deshalb stürme ich, um die Situation zu klären.”

„Und wenn der Angriff abgeschlagen wird?”

„Er wird nicht abgeschlagen, Herr Oberstlieutenant.”

Der Herr Oberstlieutenant will sich ob solchern Bockbeinigkeit seines Unterthanen die Haare raufen, im letzten Augenblick fällt ihm aber ein, daß er keine mehr hat.

„Ich sage Ihnen, der Angriff wird abgeschlagen,” donnert er, „was thun Sie nun?”

„Ich stürme so lange, bis der Angriff gelingt, die Brücke muß ich haben.”

„Aber Sie bekommen sie doch nicht,” kreischt vor Erregung der Herr Etatsmäßige, „ein Bataillon kommt im Laufschritt zur Unterstützung der abgesessenen Kavallerie herbei und eröffnet auf Sie ein lebhaftes Feuer. Gleichzeitig beginnt die feindliche Artillerie, die schon fünf Minuten vor neun Uhr auf Höhe 22 aufgefahren ist, zu feuern. Was thun Sie?”

„Ich lasse meine Artillerie auffahren.”

„Wer führt Ihre Artillerie? Bitte, Herr Lieutenant, wo fahren Sie auf?”

Der Lieutenant hat das in jedem Jahr so einzurichten gewußt, daß er die Artillerie führt, er hat infolgedessen für Artillerie­stellungen ein geübtes Auge. Ohne Zögern bezeichnet er auf der Karte den richtigen Punkt und schickt sich an, seine Geschütze dort aufzubauen. Aber der Oberstlieutenant hält ihn zurück.

„Bitte sehr, so weit sind wir noch nicht. Ich will Ihnen zugeben, daß Sie mit Ihrem Trompeter vorausgeritten sind, um sich im Gelände umzusehen, aber Sie müssen doch erst Ihre Batterie herbeiholen. Das dauert einige Zeit. Wann können die Geschütze hier sein?”

Schon(4) um neun Uhr acht Minuten fahren Sie hier auf! Worauf schießen Sie? Welches Ziel, welche Entfernung, welche Feuerart?”

So, nun ist die Schlacht in vollem Gange. Der Führer der Südpartei entwickelt auch seine anderen Truppen und baut sie im Gelände auf. Dann wird die Südpartei wieder gebeten, auf einen Augenblick hinauszugehen, und die Nordpartei wird wieder hereingelassen. Zuweilen spielt man auch mit einer Ost- und Westpartei, das ist, wie man zu sagen pflegt, dasselbe in Grün.

Haben die beiden Parteien abwechselnd ein bis zwei Stunden an dem mit Karten bedeckten Tisch gestanden, dann wird Schluß gemacht und nach mehrerenTagen wird das Spiel weiter fortgesetzt.

Ist das Kriegsspiel beendet, so wird im Kasino maßlos viel Bier getrunken, denn das ist, wenigstens nach Ansicht der Herren Lieutenants, das einzig Richtige bei der ganzen Geschichte, das Andere ist nach ihrer Meinung doch mehr oder weniger Mumpitz.

Alles athmet erleichtert auf, wenn die Ordonnanzen die Karten hinaus- und dafür kalte Speisen aller Art hineingetragen haben, nicht zum wenigsten der Herr Oberstlieutenant. Ein Kriegsspiel zu leiten, ist nicht so einfach, wie es aussieht. Auch dabei bewahrheitet sich das Wort: Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt.

In einem Regiment leitete während der Erkrankung des Herrn Oberstlieutenant einmal ein Major, dem die Sache völlig schleierhaft war, das Kriegsspiel. Zu seinem Glück war der Herr Oberst an jenem Abend dienstlich verhindert, im Kasino zugegen zu sein.

Nachdem die Schlacht ungefähr eine Stunde getobt hatte, wurden beide Führer in den Saal gerufen, um die Sache zur Entscheidung zu bringen, und der Herr Major nahm das Wort:

„Meine Herren, Sie sehen aus den aufgebauten Steinen, wie die Gefechtslage ist. Der Herr Führer der Südpartei, was machen Sie?”

„Ich warte ab, was der Führer der Nordpartei macht.”

„Und was machen Sie, der Herr Führer der Nordpartei?”

„Ich bitte sehr um Verzeihung, Her Major, aber angesichts des mich belagernden Feindes glaube ich, daß ich der Stärkung bedarf, und trinke deshalb einen Cognac.”

„Dann trinke ich auch einen Cognac,” rief die Südpartei und die Nordpartei rief: „Prosit!”

„Aber meine Herren,” bat der Herr Major — „die Zeit ist inzwischen verstrichen, es sind zehn Minuten vergangen, was macht die Südpartei nun?”

„Sie wartet.”

„Und was die Nordpartei?”

„Sie trinkt noch einen Cognac.”

„Ja, aber wie lange will die Südpartei denn noch warten?”

„Bis die Nordpartei keinen Cognac mehr trinkt.”

„Das kann noch lange dauern,” ertönte eine Stimme im Hintergrund, denn der Führer der Norpartei war ein seßhafter Mann, der nicht zum Spaß zu trinken pflegte.

Da gab der Herr Major die Schlacht auf und er ließ den Knobelbecher, wie es beim Kriegsspiel usus ist, wenn keine Partei sich verloren geben will, entscheiden, wer den Sieg davongetragen.

Wenn der Leitende aber seine Sache versteht, kann den Spielern dabei ganz niederträchtig auf den Zahn gefühlt werden und Mancher bekommt dann plötzlich Zahnschmerzen, obgleich er ein Gebiß trägt.

Die Geschichte, die ich für die obige Wahrheit in petto habe, ist für heute zu lang, die erzähle ich lieber ein anderes Mal.(5)

Ich möchte heute lieber eine andere kurze, lehrreiche Geschichte erzählen(6), die sich einmal zutrug, als auch Krieg gespielt wurde, zwar nicht im Zimmer, sondern in Gottes freier schöner Natur.

Die Vorgesetzten haben bekanntlich immer Recht, weil sie Alles besser wissen als ihre Untergebenen.

Die nachfolgende Geschichte lehrt — nein, was sie lehrt, das sage ich nicht.

Es(6a) war in einem Manöver irgendwo im schönen deutschen Vaterland. Das Detachement der Nordpartei hatte unter der Führung seines Generals einen großen Fluß zu überschreiten. Schon von Weitem merkte man dem Herrn General eine gewisse Unruhe an, man konnte ihm das schließlich nicht verdenken, denn der Fluß war breit und tief, und wenn die eiserne Brücke brach, dann konte ihm die Sache schlecht bekommen, sintemalen er für das Leben seiner Unterthanen veratwortlich war.

Der Herr General setzte seinen Gaul endlich in Galopp und ritt voran, um sich persönlich von der Beschaffenheit der Brücke zu überzeugen, und als das Detachement herankam, sah man den Herrn General im eifrigen(7) Gespräch mit dem Brückenwärter.

Die Befürchtungen des Herrn General erwiesen sich als grundlos, die Brücke hielt und wohlbehalten langte das Detachement auf dem jenseitigen Ufer an.

Da ließ der Herr General plötzlich halten und berief die Herren Offiziere zu sich.

„Meine Herren, ich habe Sie zu mir gebeten, weil ich diese uns sich so leicht nicht wieder bietende Gelegenheit benutzen möchte, um Sie darauf aufmerksam zu machen, wie schwer es ist, die Breite eines Stromes auch nur annähernd richtig zu schätzen. Ueber die Wichtigkeit des richtigen Entfernungs­schätzens brauche ich wohl kein Wort zu verlieren, Sie wissen Alle ebenso gut wie ich, daß von dem richtigen Ermitteln der Entfernung die Wahl des Visirs, der Haltepunkt und, hauptsächlich damit zusammenhängend, die Treffresultate abhängen. Ist es schon auf dem Lande sehr schwer und erfordert es dort schon große Uebung, Entfernungen richtig zu ermitteln, so wächst diese Schwierigkeit, wenn wir eine Fläche schätzen sollen, die völlig eben ist, auf der sich dem Auge keine besonderen Merkmale bieten. Darf ich Sie nun bitten, meine Herren, sich die Breite des Stromes anzusehen und mir dann zu sagen, zu welchem Resultat Sie gekommen sind? Herr Oberst, darf ich Sie zuerst fragen, für wie breit Sie den Fluß halten?”

Der Herr Oberst klemmte sich das Monocle ein und sagte nach kurzem Besinnen: „Fünfhundert Meter, Herr General.”

Ein väterlich wohlwollendes Lächeln umspielte den Mund des Vorgesetzten: „Ja, ja, Herr Oberst, das ist nicht so leicht, das bedarf großer Uebung. Herr Oberstlieutenant, wie denken Sie?”

Der Herr Oberstlieutenant, der sich bei dem Herrn Oberst mächtig „schusterte”, meinte, er wäre derselben Ansicht wie der Herr Oberst, und der Herr Oberst nickte seinem Etatsmäßigenzu, als wollte er sagen: „Wir Beide haben Recht.”

„Und wie denkt der Herr Major über die Sache?”

„Ich halte fünfhundert Meter für etwas weit, mehr als vierhundertfünfundsiebenzig sind es nach meiner Meinung kaum.”

Das klang mächtig gelehrt und „selbstüberzogen” und der Herr General hatte als einzige Antwort nur ein keineswegs väterlich wohlwollendes Kopfschütteln.

Nach dem Herrn Major kamen die Herren Hauptleute, dann die Herren Lieutenants und nun wurde darauf losgerathen: „1000 Meter, 600 Meter, 300 Meter, 1200 Meter.”

Das „meterte” sich was zurecht.

Der Herr General rang auf seinem Gaul die Hände und schüttelte sich vor Entsetzen, wenn eine Entfernung genannt wurde, als wenn er jede Sekunde einen Becher Ricinusöl einnähme.

„Aber, meine Herren, ich bitte Sie — falsch, ganz falsch — aber, meine Herren, machen Sie doch Ihre Augen auf — kann denn Niemand mir eine wenigstens annähernd richtige Schätzung angeben?”

Da trat ein ganz blutjunger Lieutenant vor und legte die Hand an den Helm.

„Sie, junger Freund?” sprach der Herr General anscheinend etwas verwundert, „da bin ich doch begierig — nun, für wie breit halten Sie den Strom?”

Und ohne Besinnen sagte der Gefragte: „Einhundert­siebenund­achtzig Meter dreiundvierzig Zentimeter.”

Ueberrascht blickte der Herr General auf, dann versank er in tiefes Nachdenken.

„Hm, hm,” machte er endlich, „Ihre Schätzung hat etwas für sich — je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu der Ueberzeugung, daß sie wohl richtig sein könnte. So würde auch ich die Breite des Flusses geschätzt haben. Darf ich Sie fragen, wie Sie die Entfernung ermittelten, welche Art Sie anwandten, um die Breite so genau zu bestimmen?”

Und ohne sich zu besinnen, sagte der junge Offizier, die Hand an den Helm legend:

„Ich habe auch den Brückenwärter gefragt, Herr General.”

Tableau.

Hat diese Geschichte etwas mit dem Kriegsspiel zu thun?

Ich sage: „Ja!”

Wer anderer Ansicht ist, werfe die erste Karte auf mich — meinetwegen alle zweiunddreißig Skatkarten auf einmal — ich spiele nicht mit — für heute passe ich.


Fußnoten:

(1) In der Buchfassung fehlt das Textstück von „Herr v. Plötz” bis zum Ende des Absatzes mitt allen Bezügen auf Personen und Geschehnisse der Tagespolitik vom Herbst 1896.
Ahlwardt, Hermann, Lehrer, MdR, Antisemit (fraktionslos)
Ploetz, Berthold von, Gutsbesitzer, MdR, Deutschkonservativ
Lautenburg, Sigmund, Schauspieler, Regisseur und Theaterdirektor, 1887 - 1904 Leiter des Residenztheaters in Berlin, 1897/98 Direktion des Neuen Theaters in Berlin (zurück)

(2) Von hier ab lautet dieser Absatz in der Buchfassung:
„wendet sich König Oscar von Schweden telegraphisch an den Präsidente Faure mit der Bitte, den Präsidenten Krüger anzutelephonieren. Welche Telephonnummer hatte doch noch der Präsident Krüger, Herr Oberstleutnant, das habe ich nicht ganz genau verstanden —” (zurück)

(3) In der Buchfassung: „1:6250”. (zurück)

(4) In der Buchfassung: „Spätestens um neun Uhr acht Minuten fahren sie hier auf!” (zurück)

(5) In der Buchfassung fehlt dieser ganze Absatz. (zurück)

(6) In der Buchfassung heißt es hier: „Ich möchte eine kurze, lehrreiche Geschichte erzählen.” (zurück)

(6a) Diesen Abschnitt von der „Kenntnis der genauen Brückenlänge” hat Schlicht/Baudissin auch in seinen Band „Meine Kabarettgeschichten” aufgenommen, leicht gekürzt und den veränderten Zeitumständen angepaßt. (zurück)

(7) In der Buchfassung: „eifrigsten”. (zurück)


(*) Die Fassung im „Teplitz-Schönauer Anzeiger” und in der „Preßburger Zeitung” unterscheidet sich stärker von der Buchfassung, beschränkt sich aber auf die Szene mit dem Brückenwärter. Deshalb wird sie hier im Ganzen angezeigt:

Beim Kriegsspiel

Freiherr v. Schlicht nennt sich ein Berliner Autor, der sich seit einiger Zeit durch seine Militär-Humoresken — wirklich flotte, gut vorgetragene Humoresken — bemerkbar macht. Im „Kleinen Journal” schilderte er vor Kurzem die Vorgänge bei dem von dem Officierkorps geübten Kriegsspiel und bei dieser Gelegenheit gibt er folgende Reminiscenz zum Besten:

Ich möchte heute eine kurze, lehrreiche Geschichte erzählen, die sich einmal zutrug, als auch Krieg gespielt wurde, zwar nicht im Zimmer, sondern in Gottes freier schöner Natur.Ich möchte heute lieber eine andere kurze, lehrreiche Geschichte erzählen(6), die sich einmal zutrug, als auch Krieg gespielt wurde, zwar nicht im Zimmer, sondern in Gottes freier schöner Natur.

Die Vorgesetzten haben bekanntlich immer Recht, weil sie alles besser wissen als ihre Untergebenen.

Die nachfolgende Geschichte lehrt — nein, was sie lehrt, das sage ich nicht.

Es war in irgend einem Manöver irgendwo im schönen deutschen Vaterland. Das Detachement der Nordpartei hatte unter der Führung seines Generals einen großen Fluß zu überschreiten. Schon von weitem merkte man dem Herrn General eine gewisse Unruhe an, man konnte ihm das schließlich nicht verdenken, denn der Fluß war breit und tief und wenn die eiserne Brücke brach, dann konte ihm die Sache schlecht bekommen, sintemalen er für das Leben seiner Unterthanen veratwortlich war.

Der Herr General setzte seinen Gaul endlich in Galopp und ritt voran, um sich persönlich von der Beschaffenheit der Brücke zu überzeugen, und als das Detachement herankam, sah man den Herrn General im eifrigen Gespräch mit dem Brückenwärter.

Die Befürchtungen des Herrn Generals erwiesen sich als grundlos, die Brücke hielt und wohlbehalten langte das Detachement auf dem jenseitigen Ufer an.

Da ließ der Herr General plötzlich halten und berief die Herren Officiere zu sich.

„Meine Herren, ich habe Sie zu mir gebeten, weil ich diese uns sich so leicht nicht wieder bietende Gelegenheit benutzen möchte, um Sie darauf aufmerksam zu machen, wie schwer es ist, die Breite eines Stromes auch nur annähernd richtig zu schätzen. Ueber die Wichtigkeit des richtigen Entfernungsmaßes brauche ich wohl kein Wort zu verlieren, Sie wissen Alle ebenso gut wie ich, daß von dem richtigen Ermitteln der Entfernung die Wahl des Visirs, der Haltepunkt und, hauptsächlich damit zusammenhängend, die Treffresultate abhängen. Ist es schon auf dem Lande sehr schwer und erfordert es dort schon große Uebung, Entfernungen richtig zu ermitteln, so wächst diese Schwierigkeit, wenn wir eine Fläche schätzen sollen, die völlig eben ist, auf der sich dem Auge keine besonderen Merkmale bieten. Darf ich Sie nun bitten, meine Herren, sich die Breite des Stromes anzusehen und mir dann zu sagen, zu welchem Resultat Sie gekommen sind? Herr Oberst, darf ich Sie zuerst fragen, für wie breit Sie den Fluß halten?”

Der Herr Oberst klemmte sich das Monocle ein und sagte nach kurzem Besinnen: „Fünfhundert Meter, Herr General.”

Ein väterlich wohlwollendes Lächeln umspielte den Mund des Vorgesetzten: „Ja, ja, Herr Oberst, das ist nicht so leicht, das bedarf großer Uebung. Herr Oberstlieutenant, wie denken Sie?”

Der Herr Oberstlieutenant, der sich bei dem Herrn Obersten mächtig „schusterte”, meinte, er wäre derselben Ansicht wie der Herr Oberst, und der Herr Oberst nickte seinem Etatsmäßigenzu, als wollte er sagen: „Wir beide haben Recht.”

„Und wie denkt der Herr Major über die Sache?”

„Ich halte fünfhundert Meter für etwas weit, mehr als vierhundert­fünfundsiebzig sind es nach meiner Meinung kaum.”

Das klang mächtig gelehrt und „selbstüberzogen” und der Herr General hatte als einzige Antwort nur ein keineswegs väterlich wohlwollendes Kopfschütteln.

Nach dem Herrn Major kamen die Herren Hauptleute, dann die Herren Lieutenants und nun wurde darauf losgerathen: „1000 Meter, 600 Meter, 300 Meter, 1200 Meter.”

Das „meterte” sich was zurecht.

Der Herr General rang auf seinem Gaul die Hände und schüttelte sich vor Entsetzen, wenn eine Entfernung genannt wurde, als wenn er jede Secunde einen Becher Ricinusöl einnähme.

„Aber, meine Herren, ich bitte Sie — falsch, ganz falsch — aber, meine Herren, machen Sie doch Ihre Augen auf — kann denn Niemand mir eine wenigstens annähernd richtige Schätzung angeben?”

Da trat ein ganz blutjunger Lieutenant vor und legte die Hand an den Helm.

„Sie, junger Freund?” sprach der Herr General anscheinend etwas verwundert, „da bin ich doch begierig — nun, für wie breit halten Sie den Strom?”

Und ohne Besinnen sagte der Gefragte: „Einhundertsiebenundachtzig Meter dreiundvierzig Zentimeter.”

Ueberrascht blickte der Herr General auf, dann versank er in tiefes Nachdenken.

„Hm, hm,” machte er endlich, „Ihre Schätzung hat etwas für sich — je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu der Ueberzeugung, daß sie wohl richtig sein könnte. So würde auch ich die Breite des Flusses geschätzt haben. Darf ich Sie fragen, wie Sie die Entfernung ermittelten, welche Art Sie anwandten, um die Breite so genau zu bestimmen?”

Und ohne sich zu besinnen, sagte der junge Officier, die Hand an den Helm legend:

„Ich habe auch den Brückenwärter gefragt, Herr General.”

Tableau.


(*)Der Text der Erzählung „Der kluge General und der pfiffige Lieutenant” in dem „Sonntagsblatt” beginnt mit einer Einleitung:

Freiherr von Schlicht nennt sich ein Berliner Autor, der sich seit einiger Zeit durch seine Militär-Humoresken — wirklich flotte, gut vorgetragene Humoresken — bemerkbar macht. Im „Kleinen Journal” schilderte er dieser Tage die Vorgänge bei dem von dem Officiercorps geübten Kriegsspiel, und bei dieser Gelegenheit giebt er folgende Reminiszenz zum Besten:

Und nun folgt die „kurze, lehrreiche Geschichte”, die den zweiten Teil der Erzählung „Kriegsspiel” bildet.



„Freie Presse füTexas” (San Antonio) vom 25.11.1896;

Kriegsspiel/Kriegsspiel-1.jpg Kriegsspiel/Kriegsspiel-2.jpg

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