Der Kolker

Von Freiherr von Schlicht
in: „Die Zukunft”, 28.Band, S. 337-341,
in: „Der Deutsche Correspondent” vom 24.9.1899,
in: „Neue Hamburger Zeitung” vom 16.12.1899 und
in: „Ein Adjutantenritt”

Das Rekruten-Exerziren ist zu Ende. Das Compagnie-Exerziren hat begonnen. Nur Thoren können behaupten, daß darin absolut kein Unterschied zu finden und Beides gleich langweilig sei; es giebt bekanntlich auf der ganzen Welt nicht zwei Dinge, die einander ganz gleich sind, folglich können auch die beiden Exerzirperioden nicht gleich langweilig sein: eine muß nothwendig langweiliger sein als die andre; oder mit andern Worten: die andre ist geistreicher als die eine. Leider schwört, wer die „eine” kennen gelernt hat, immer auf die „andre”, – und umgekehrt.

Kein Mensch ist mit seinem Schicksal zufrieden, also auch kein Soldat.

Das Compagnie-Exerziren hat begonnen, noch nicht en gros, sondern nur en détail. Man exerzirt in Rotten, dann in Sektionen, in Halbzügen und in Zügen; und erst, wenn Das klappt, nimmt der Herr Hauptmann persönlich die Sache in die Hand, um seinen Leuten einmal zu zeigen, was eine Harke ist.

Vorläufig aber ist es noch nicht so weit – daß es in Pasewalk auch noch nicht so weit ist, versteht sich von selbst –, vorläufig kommt der Hauptmann nur zum Dienst, um sich anzusehen, was seine Lieutenants machen.

Selbstverständlich, nach seiner Meinung, nichts als Unfug. Was sollte auch aus der preußischen Armee werden, wenn ein Lieutenant oder überhaupt ein Untergebener einmal Etwas richtig machte? Dann brauchte man ja gar keine Vorgesetzten mehr.

Na, und ohne Vorgesetzten geht es nicht, das muß selbst ein Stummer sagen.

Auf dem Kasernenhof wird exerzirt, und der Herr Lieutenant hat die Sektionen vertrauensvoll den Unteroffizieren in die Hand gelegt, die zusehen mögen, wie sie selig werden, und wie sie den Leuten die Geheimnisse des Reglements beibringen.

Er selbst kümmert sich nicht um seine „Kerls”, ihm hängt die Sache zum Hals heraus. Er thut nun schon sieben Jahre Frontdienste: da kann ihm der Anblick der exerzirenden Leute wenig oder gar nichts Neues bieten. Na, und immer dasselbe zu sehen, wird auf die Dauer langweilig; und wenn er danach hinsähe, würde er sich doch nur ärgern, und ärgern will er sich nicht. Ihm geht es so wie so heute schlecht genug. Er fühlt sich gar nicht so recht extra. Und Das hat seinen guten Grund.

Er hat vergessen, von gestern auf heute zu Bett zu gehen.

Wie kann man aber auch so vergeßlich sein? Er begreift es selbst nicht.

Er hat einen Jammer, der nicht von schlechten Eltern ist, und keinen sehnlicheren Wunsch als den nach einer Salzgurke und einem kleinen Glas Pilsener Bier. Es könnten aber auch zwei große sein.

Im Geist labt er sich an dem Anblick dieser beiden Pilsener. Er schließt die Augen, damit die grausame Wirklichkeit ihm das Bild nicht zerstöre; dabei stützt er die Hände auf den Säbel und hängt ganz seinen Träumen nach.

„Hoppla.” Mit einemmal fährt er in die Höhe . . . Er war im Stehen eingeschlafen, und langsam hatte sich sein Körper nach vorn geneigt, bis er mit der Nasenspitze die Brust seines vor ihm stehenden Hauptmannes berührte.

Erschreckt taumelt er zurück, – es ist die alte Geschichte: die Vorgesetzten sind immer gerade dann da, wenn man sie am Wenigsten brauchen kann. Braucht man sie, so sind sie schon deshalb nie da, weil man sie nie braucht.

„Herr Lieutenant,” donnert der Hauptmann, „wie können Sie es wagen, im Königlichen Dienst zu schlafen?”

Auf jede direkte Frage gehört eine Antwort, weiß man beim Militär aber nicht, was man sagen soll, dann sagt man: „Zu Befehl!” Das paßt unter tausend Fällen tausend- und einmal. Und für einen Augenblick denkt der Lieutenant denn auch daran, die Neugier des Vorgesetzten mit den beiden Zauberworten zu befriedigen.

Aber in der letzten Sekunde gelangt er zu der Ueberzeugung, daß eine andre Antwort vielleicht richtiger sei, und so sagt er: „Ich weiß es nicht, Herr Hauptmann.”

Eine solche Entgegnung ist unmilitärisch, denn der Untergebene muß imstande sein, jedem Vorgesetzten auf jede Frage eine befriedigende Auskunft zu geben.

Die Worte: ,Ich weiß es nicht' giebt's nicht. Das wäre noch schöner!

Eine Sekunde mustert der Hauptmann seinen Lieutenant mit einem vernichtenden Blick; dann sagt er: „Ich will mir die Leute Ihres Zuges ansehen . . . wenn Sie sich nicht um die Leute kümmern, muß ich es ja thun.”

„Dieser Nachsatz ist erstens ungenau und zweitens überflüssig,” denkt der Lieutenant. „Deine Pflicht bleibt es immer, Dich um Deine Leute zu kümmern, auch dann, wenn ich es nicht thue, folglich . . .”

Und laut sagt er diesmal wirklich: „Zu Befehl!”

Das hört der Hauptmann mit Freuden, denn diese Worte bedeuten die Unterordnung des eigenen Willens unter den des Vorgesetzten. Auf deutsch heißt Das: Subordination, und zwar versteht man darunter bekanntlich das Bestreben, stets dümmer zu erscheinen, als der Vorgesetzte wirklich ist.

Der Lieutenant beeilt sich, die nöthigen Anordnungen und Befehle zu geben . . . Lieber wäre es ihm, wenn der Hauptmann jetzt die Leute nicht besichtigen wollte. Bei einer Besichtigung kommt selten etwas Gutes heraus, – daß jetzt sogar etwas sehr Schlechtes herauskommen wird, davon ist der Lieutenant felsenfest überzeugt. Ihm schwant nichts Gutes, und wehmüthig seufzt er: „Ist denn kein Stuhl da für meine Hulda?”

„Miserabel!” knurrt der Hauptmann plötzlich.

Der Lieutenant hat keine Ahnung, was der Vorgesetzte meint, ob das schlechte Wetter, seine eigene Stimmung, die Leistung irgend eines Mannes oder das Fallen irgend eines exotischen Staatspapieres.

„Hundsmiserabel!” knurrt da der Hauptmann.

„Na, na, nur sacht,” denkt der Lieutenant, „so schlimm wird es wohl nicht sein.” Laut aber sagt er: „Zu Befehl!”

Die Armee müßte dem Mann, der diese beiden Wörter erfand, aus den Mitteln Aller, die nicht Soldaten werden, ein Denkmal setzen.

Der Hauptmann läßt inzwischen seine Blicke von dem rechten Flügelmann auf den zweiten Mann im Gliede schweifen. Der Flügelmann ist mit dem Wort „Hundsmiserabel” genügend kritisiert; nun kommt der zweite Mann.

Der Häuptling besieht sich den Jüngling eine ganze Zeit, dann sagt er zu seinem Offizier: „Herr Lieutenant, fällt Ihnen an dem Manne nichts auf?”

Der Lieutenant sieht sich nun auch den Jüngling an. Der steht da, wie das Gesetz es befiehlt: die Fußspitzen gleichmäßig so weit auseinandergenommen, daß sie nicht ganz einen rechten Winkel bilden, Hacken zusammen, Knie leicht nach hinten durchgedrückt, Bauch herein, Brust heraus, Schultern zurück, Kopf in die Höhe, Nase gerade über der Knopfreihe, die beiden Ohren in gleicher Höhe, – Alles ist in schönster Ordnung. Dabei ist der Kerl gewachsen wie ein junger Gott . . . Es ist eine wahre Freude, diesen Vaterlandsverteidiger anzusehen.

„Fällt Ihnen an dem Manne nichts auf?” wiederholt der Vorgesetzte.

„Nein, Herr Hauptmann,” lautet die Antwort.

„Ihr Blick scheint durch das viele Schlafen in und außer Dienst getrübt zu sein,” klingt es zurück . . . und nach einer kurzen Pause: „Der Mann ist vollständig schief und krumm.”

„Das ist nun ganz gewiß übertrieben,” denkt der Lieutenant. Und nun Sonne, steh still im Tale Gideon! Und nun Hulda, setz dich auf den Stuhl, den ich Dir bringe! Die Welt geht unter –: der Lieutenant sagt, was er denkt, obgleich er der Untergebene ist.

Er öffnet den Mund und beginnt seine Rede: „Verzeihen der Herr Hauptmann, daß ich widerspreche, nach meiner Meinung . . .”

Aber weiter kommt er nicht, ein unheiliges Donnerwetter entlädt sich über seinem Haupt: „Herr Lieutenant, wo nehmen Sie den Muth her, mir zu widersprechen, und wie kommen Sie dazu, eine Meinung zu haben? Die habe ich, dafür bin ich Ihr Hauptmann und vor allen Dingen Ihr Vorgesetzter, wäre es umgekehrt, Herr Lieutenant, dann wäre es umgekehrt; aber es ist nicht umgekehrt. Das merken Sie sich, bitte, und schreiben Sie es sich gefälligst hinter die Ohren.”

In vorschriftsmäßiger Haltung, Hacken zusammen, Brust heraus, Kopf in die Höhe, Hand an der Mütze, läßt der Lieutenant die Rede über sich ergehen; aber als sie gar zu grob wird, als die ungerechten Vorwürfe sich häufen, da fällt er dem Vorgesetzten mit einem erneuten: „Verzeihen der Herr Hauptmann” mitten in die schönste Satzkonstruktion.

Dem armen Lieutenant wäre besser gewesen, er wäre nicht geboren, — denn Alles kann ein Vorgesetzter schließlich verzeihen, nur nicht, daß man ihn in seiner Rede unterbricht.

Lebte Jupiter tonans noch, so hätte er alle Ursache, auf den Hauptmann als auf seinen gefährlichsten Konkurrenten eifersüchtig zu werden.

„Herr Lieutenant,” tobt der Königliche Hauptmann und Compagnie-Chef, „Herr, die einfachste Form der Höflichkeit schon verlangt, die Subordination befiehlt es sogar, den höher Gestellten ruhig aussprechen zu lassen. Wie kommen Sie dazu, mich zu unterbrechen, mir ins Wort zu fallen, in meine Rede hineinzukolken?”

Der Lieutenant steht in tiefes Nachdenken versunken und innerlich spricht er: „Mein sehr verehrter Herr Hauptmann! Was Sie da sagen, ist ja Alles ganz gut und ganz schön, ich will sogar liebenswürdig und höflich sein und sagen: ,Es ist Alles sehr gut und sehr schön.' Mehr können Sie doch nicht von mir verlangen, nicht wahr? Na also, sagt Olga. Nun erlauben Sie mir aber, bitte, auch einmal einen Ton. Ihre Rede unterbrechen darf ich nicht; mich verteidigen, wenn Sie gesprochen haben, darf ich auch nicht; ich darf weiter nichts, als jeden Tadel ruhig hinnehmen; denn beweisen, daß Sie unrecht haben, darf ich auch nicht. Ich darf nicht, was ich will, und was ich darf, Das will ich nicht, und darum, mein sehr verehrter Herr Hauptmann, gestatten Sie mir, daß ich meine eigne Ansicht verteidige, oder daß ich, wie es nun einmal in der Soldatensprache heißt, daß ich weiterkolke.”

Und wieder fällt er mit einer nach Ansicht des Vorgesetzten „ganz ungehörigen Bemerkung” dem Hauptmann in einen wunderschönen Satzbau hinein.

Es ist nur gut, daß der Hauptmann als leidenschaftlicher Radfahrer stets eine Luftpumpe bei sich trägt: ihr allein verdankt er, daß ihm vor Entsetzen über den Widerspruchsgeist seines Untergebenen nicht die Luft ausgeht.

„Herr Lieutenant, ich verbitte mir, verstehen Sie mich, ich verbiiiiiiii–tte mir Ihr Gekolke.”

„Zu Befehl, Herr Hauptmann,” klingt es zurück, aber schlechte Eigenschaften lassen sich ebensowenig wie schlechtes Skatspiel mit einem Male „auf Befehl” abgewöhnen; und so kolkt denn der Lieutenant weiter: erstens, weil er ein Kolker ist, und zweitens, weil er im Recht zu sein glaubt.

Ich sage absichtlich: „weil er im Recht zu sein glaubt”; denn daß er sich irrt und daß er nicht recht hat und daß er einem Vorgesetzten gegenüber stets unrecht hat, ist ja ganz klar.

„Kolken” gehört zu jenen Beschäftigungen, die, wie man zu sagen pflegt, nur das Geschäft aufhalten und wenig oder gar keinen praktischen Werth haben.

Manche behaupten sogar, kolken sei entsetzlich unpraktisch, es komme nie etwas dabei heraus.

Daß die Leute, die so sprechen, Unsinn reden, muß der Lieutenant an seinem eignen Leibe erfahren.

Der Hauptmann weiß nicht mehr, was er mit seinem Untergebenen anfangen soll. Am liebsten möchte er ihn ermorden, aber Das geht doch nicht so ohne Weiteres; denn erstens weiß man nicht, ob der Lieutenant ganz stillhalten würde, und zweitens denkt der Hauptmann mit Entsetzen an die endlosen Schreibereien, die entstehen würden, wenn er seine Blutgier befriedigte. Außerdem ist erst kürzlich wieder ein Befehl über die Vereinfachung des Schriftverfahrens gekommen; dagegen darf er nicht verstoßen: er darf keine Schreibereien verursachen, die vermieden werden können.

Mit dem Morden ist es also nichts. Schade!

Wenn die Noth am größten, ist der Geldpostbote leider nicht immer am nächsten, — selbst dann nicht, wenn man neben der Post wohnt.

Der Hauptmann hat aber einen kolossalen Dusel: als er sich nicht mehr zu helfen weiß, erscheint der Herr Major.

Der hält noch seinen Winterschlaf, und es giebt jetzt noch nicht viel für ihn zu thun. Seine Thätigkeit beginnt erst mit dem Bataillonexerziren: dann wird er den Leuten einmal zeigen, was eine Harke ist.

Je weniger der Mensch zu thun hat, desto mehr ärgert er sich darüber, daß er nicht „gar nichts” zu thun hat; das ist eine alte Geschichte. Und so ist denn auch der Herr Major schlechter Laune darüber, daß er doch ab und zu auf das Bureau gehen muß, um seinen Namen einige Male zu unterschreiben.

Der Hauptmann eilt dem Major entgegen, um ihm zu melden, — dann aber auch, um den Lieutenant zu verklagen.

Der Lieutenant sieht, wie die beiden Herrn sich eifrigst miteinander unterhalten, und ihm ahnt nichts Gutes.

Aber mit einem Male wird ihm schwach, denn der Herr Oberst erscheint auf dem Kasernenhof.

„Na, nun gute Nacht,” denkt der Lieutenant, „Der hat mir gerade noch gefehlt! Hätte ich jetzt Etwas zu sagen, so würde ich den Kommandeur sofort verabschieden.”

Aber leider hat ein Lieutenant gar nichts zu sagen.

Der Oberst müßte nicht Oberst sein, wenn er nicht sofort errathen wollte, daß nicht nur im Staate Dänemark Etwas faul ist, sondern daß auch auf dem Kasernenhof sich nicht Alles in jener tadellosen Verfassung befindet, die er, der Herr Oberst, stets und überall anzutreffen wünscht.

Der Herr Oberst, der Herr Major und der Herr Hauptmann stehen in eifrigem Gespräch bei einander.

Der Kommandeur läßt sich den nach Meinung der andern Herren sehr verwickelten Fall vortragen und giebt dann eine glänzende Probe seines scharfen, durchdringenden Verstandes, indem er gelassen das große Wort spricht: „Meine Herren, die Sache ist mehr als einfach, — ich sperre den Lieutenant drei Tage ein.”

Bums, da sitzt er.

„Sind Sie nun zufrieden, Herr Lieutenant?” fragt der Oberst, nachdem er den Offizier zu sich herangewinkt und ihm die Strafe, die er ihm zudiktiert hat, mitgetheilt hat. „Sind Sie nun zufrieden?”

„Das kann ich nun eigentlich nicht gerade behaupten,” denkt der Lieutenant, „zufrieden bin ich nicht, obgleich ich ja mehr bekommen habe, als mir zusteht, und vor allen Dingen viel mehr, als ich erwartete. Ich habe mehr als genug. Würde ich sagen: ,Nein, Herr Oberst, ich bin nicht zufrieden', so würde er sagen: ,Dem Manne kann geholfen werden!' Und die Hilfe würde darin bestehen, daß er mich nicht auf drei, sondern auf fünf, wenn nicht gar auf sieben Tage einsperrte. Und dafür danke ich. Komma, Punktum, Gedankenstrich.”

„Zu Befehl, Herr Oberst,” giebt er zur Antwort.

„Na, Das freut mich,” erwidert der Kommandeur, und er freut sich wirklich; denn wer da zufrieden ist, Der widerspricht nicht, Der kolkt nicht.

Gekolkt darf nicht werden, aber die Kolkerei besteht doch, und sie wird erst aufhören, wenn der letzte Vorgesetzte begraben sein wird.

Darauf aber kann man noch lange warten.

Freiherr von Schlicht


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© Karlheinz Everts