Können Sie mir nicht —?

(Harmlose Plaudereien über Zeit- und Unzeitgemäßes)

Von Freiherr v. Schlicht
in: Weimarisches Sonntagsblatt, Unterhaltungs-Beilage zur
Allg. Thür. Landeszeitung Deutschland vom 13.Sept. 1925

Das knappste Trikot ist eine meilenweite Pluderhose im Vergleich mit der jetzigen Geldknappheit. Selbst die ältesten Zeiten, die ich letzthin auf einer meiner Reisen traf und mit denen ich mich lange darüber unterhielt, können sich nicht darauf besinnen, schon jemals Ähnliches erlebt zu haben. Die berühmtesten Geldschrankknacker haben sich zur Ruhe setzen und ihr Handwerk aufgeben müssen, so daß sie jetzt Arbeitslosenunterstützung beziehen, da es für sie nichts mehr zu knacken gibt, wenn sie nicht gerade aus Langerweile ihre Finger in den Gelenken knacken lassen. Je diebessicherer die Geldschränke sind, desto leerer sind sie. Und auf den Banken werden selbst bei hellichtem Tage alle Schutzvorrichtungen in Tätigkeit gesetzt und heruntergelassen, wenn sich ein Kunde nähert, der Geld abheben will, während andererseits im Privatkontor des Herrn Direktors stets der Frackanzug bereit hängt, um in diesem jeden zu empfangen und zu begrüßen, der auch nur fünfzig Mark einzahlt. Bei Einzahlung größerer Beträge erscheint der ganze Aufsichtsrat zur Begrüßung des Kunden, der, wenn er tausend Mark und darüber bringt, auf Kosten der Bank dre Tage lang festlich bewirtet wird.

Kein Mensch weiß heute noch, wovon er eigentlich lebt. Von dem, was er hat, ganz gewiß nicht, denn er hat ja nichts. Die meisten zehren von der Erinnerung dessen, was sie einst besaßen. Dunkel erinnert man sich, daß es auch einmal Zeiten gab, in denen man nicht nur etwas verdienen konnte, sonden auch tatsächlich etwas verdiente, obgleich allerdings auch schon damals diejenigen am meisten verdienten, die es am wenigsten verdienten. Das Wort „Morgenstunde hat Gold im Munde” gilt heute nur noch für den, der sich früh am Tage seine Goldzähne putzt, denn wer schon morgens um 6 Uhr mit seiner Arbeit beginnt, hat abends um 6 Uhr genau so wenig verdient, wie einer, der sein Geschäft erst eine Minute vor Ladenschluß öffnet, um es dann sofort wieder zu schließen. Die einzige Tätigkeit, die sich heutzutage noch bezahlt macht, nur daß sie nicht bezahlt wird, ist das Nichtstun, und dabei kann man auch etwas ersparen, wenn auch nur Kräfte und Nerven.

Seit der Erfindung der Brieftaschen sind diese noch nie so leer gewesen wie heute, aber trotzdem, so leer die eigene auch ist, es gibt merkwürdigerweise doch immer noch welche, die noch leerer sind oder die wenigstens so tum als ob sie es wären. Deshalb ist man auf einsamen Wegen auch ständig der Gefahr ausgesetzt, überfallen und seiner geringen Barschaft beraubt zu werden. In den Straßen der Stadt ist man ja aber glücklicherweise davor sicher, überfallen zu werden, dafür aber wird man wenigstens dreimal täglich auf der Straße angefallen, zwar nicht mit dem Knüppel in der Hand, wohl aber mit der Frage: „Konnen Sie mir nicht?” Natürlich kann man nicht, denn man sucht ja gerade selbst jemanden, den man mit dieser Frage anfallen könnte, aber ob man kann oder nicht, man muß. Und ehe man es sich versieht, ist man um zehn, zwanzig oder mehr Mark angepumpt und sogar für den Pumper mit Erfolg, denn der hat eine Geschicklichkeit, seinem Nächsten das Geld aus der Tasche zu ziehen, daß selbst der größte Taschendieb von ihm noch viel lernen könnte. Aber trotzdem betseht zwischen dem Dieb und dem Pumper natürlich ein großer Unterschied. Der Dieb denkt von Anfang an gar nicht daran, dem Bestohlenen das Geld jemals wieder zurückzugeben, der Pumper im Grunde seines Herzens natürlich auch nicht, aber gerade deshalb beschwört er das Gegenteil mit den heiligsten Schwüren. Wenn alle Pumper, die in der Hinsicht ihr Wort brechen, auch sonst brechen würden, dann kämen sie aus dem Brechen gar nicht heraus. Wort und Zeit sind für sie leere Begriffe. Der 1. Februar, an dem sie aufs Wort den geliehenen Betrag zurückerstatten wollen, ist bei ihnen am 1. Oktober noch nicht gewesen. Und wenn man sie dann endlich am 1. Dezember in höflicher Weise mahnt, geben sie zur Antwort: „Ich habe Ihnen die Rückzahlung doch zum 1. Februar zugesagt. Bis dahin sind es ja noch zwei Monate, warum drängen Sie mich da jetzt schon, das ist doch beinahe beleidigend.”

Wer anderen nichts borgt, ist in deren Augen ein ganz gemeiner Kerl, mit dem man eigentlich nicht weiter verkehren kann. Man tut es als anständiger Mensch aber dennoch, weil man die stille Hoffnung hegt, bei dem nächsten Pumpversuch mehr Glück zu haben und um dem anderen dadurch Gelegenheit zu geben, sich wieder zu rehabilitieren und wieder der Ehrenmann zu werden, für den man ihn bisher, wenn auch vorübergehend fälschlicherweise, hielt. Wer das geborgte Geld nicht pünktlich zurückgibt, bleibt in seinen eigenen Augen, und die sind ja glücklicherweise die allein maßgebenden, trotzdem der Ehrenmann, der er war und ist, denn selbstverständlich würde er das Darlehen zurückerstatten, wenn er es hätte. Aber er hat es ja leider selbst dann nicht, wenn er es hat, denn alles, was man hat, braucht man notwendig für sich selbst. Und wenn der andere nicht mehr hätte, als er gebraucht, hätte er doch nichts verborgen können. Und weil der andere bewiesen hat, daß er mehr hat als man selbst, erwähnt man das erhaltene Darlehen überhaupt nicht mehr. Über Geld zu sprechen, ist ja überhaupt ein Zeichen schlechter Erziehung, und man will und muß doch beweisen, daß man ein wohlerzogener Mensch mit guten Manieren ist. Und wenn man die Angelegenheit gar nicht mehr erwähnt, wenn man selbst in Jahr und Tag nicht auf sie zurückkommt, hat man später um so leichter die Ausrede, man hätte den Betrag schon längst zurückgegeben, vor Monaten schon, der andere möge nur ordentlich nachdenken, dann würde es ihm ganz bestimmt wieder einfallen. Und wenn es dem anderen dann nicht einfällt, weil es ihm, als nicht den Tatsachen entsprechend, auch nicht einfallen kann, dann ist das eine willkommene Gelegenheit zu erklären: „Ja, lieber Freund, wenn Sie ein so schlechtes Gedächtnis haben, dann müssen Sie sich den Rückempfang der kleinen ausgeliehenen Beträge aufschreiben, denn es muß doch für Sie selbst peinlich sein, einen Schuldner an eine Schuld zu mahnen, die schon seit einer Ewigkeit nicht mehr existiert. Ich persönlich nehme Ihnen Ihre Vergeßlichkeit bei unseren freundschaftlichen Beziehungen natürlich nicht übel, aber Sie könnten in der Hinsicht doch auch leicht einmal an eine falsche Adresse geraten.”

Jeder Betrag, den man sich borgt, ist eine Bagatelle, um die man nur augenblicklich in Verlegenheit ist. Entweder hat man vergessen, sich bei dem Fortgehen von Hause Geld einzustecken (hunderttausend Mark Belohnung demjenigen, der zu Hause etwas finden würde!), oder man hat gerade selbst einem armen Teufel ausgeholfen (zweihunderttausend Mark Belohnung demjenigen, der das glaubt!), oder — oder — oder — und dabei gibt es doch nur eine einzige wirkliche Oder.

Was man sich borgt, ist eine Bagatelle, was man zurückzahlen soll, eine riesengroße Summe. Es ist tausendmal leichter, einen Hundertmarkschein aus der fremden Brieftasche in die eigene zu stecken, als umgekehrt. Das Zurückzahlen ist 'ne verfluchte Geschichte, das ist der punctum saliens, oder wie Herr Raffke einmal sagte, das ist die punktierte Saliente. Und weil es der springende Punkt ist, umspringen die meisten den dadurch, daß sie ihn ganz einfach absichtlich vergessen. Du großer Gott, wer will einem heutzutage auch nur den kleinsten Vorwurf daraus machen, wenn man nicht in der Lage ist, seine Schulden zu bezahlen? Wo alles liebt, kann Karl allein nicht hassen, heißt es in Schillers „Don Carlos”, und der Pumper variiert es dahin, daß er sagt: „Wo es selbst bei Stinnes kracht, kann ich erst recht nicht zahlen.”

Als ich noch Leutnant war, lang, lang ist's her, saßen wir einmal des Abends in größerer Gesellschaft in unserer Stammkneipe, als ein blutjunger Leutnant plötzlich einen liebenswürdigen Major bat, ihm zwanzig Mark zu leihen, da er, als er eben in die Hosentasche gegriffen, die Entdeckung gemacht, daß er sein Portemonnaie nicht eingesteckt habe. Der Herr Major gab ihm mit der größten Zuvorkommenheit das Goldstück und gleich darauf holte der junge Leutnant das zu Hause vergessene Portemonnaie aus der Tasche, steckte das Goldstück hinein und machte ein mehr als verdutztes Gesicht, als wir alle in schallende Heiterkeit ausbrachen.

Der kleine Leutnant war damals wirklich in Not und hatte aus dieser Notlage heraus das vergessene Portemonnaie erfunden. Der Pumper aber pumpt, auch wenn er es gar nicht nötig hat, er pumpt gewissermaßen auf Vorrat, um für die Tage, in denen ihm ein Pump einmal nicht gelingen sollte, gesichert zu sein. Und er pumpt natürlich erst recht, wenn er einmal wirklich in Verlegenheit ist.

Zu Ehren der Pumper sei es gestanden, daß es selbstverständlich auch solche gibt, oder richtiger gesagt, geben soll, die jeden geliehenen Betrag pünktlich auf die Minute zurückerstatten. Es soll ja aber auch ganz vollkommene Frauen geben, Frauen, die nie zanken und streiten, die nie schmollen, wenn ihnen ein Wunsch abgeschlagen wird, die viel mehr an ihren Mann als an ihren Kleiderschrank denken, die gern und freudig für sich selbst auf alles verzichten, wenn sie nur das Bewußtsein haben, daß ihr Mann, ihr über alles geliebter Männe, glücklich ist, es soll — es soll —.

Und es soll ja auch einmal wieder Zeiten geben, in denen die jetzige Geldknappheit der Vergangenheit angehört, es soll sogar, wie ich letzthin einmal las, allerdings erst in dreitausend Jahren, eine Zeit kommen, in der man keine Steuern mehr zu bezahlen braucht und dann wird es vielleicht auch wieder so weit sein, daß jeder jederzeit ruhig durch die Straßen gehen kann, ohne mit der Frage angefallen zu werden: „Können Sie mir nicht?”


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© Karlheinz Everts