Humoreske von Frhrn. v. Schlicht.
in: „Hamburger Fremdenblatt” vom 12.März 1896,
in: „Stralsundische Zeitung”, Sonntagsbeilage vom 5.7.1896,
in: „Dagens Press” vom 20.3.1920 unter dem Titel „Knuten på näsduken” und
in: „Meine kleine Frau und ich”.
Ich bin die Solidität selbst — auch meine Feinde, deren ich sicher mehr habe, als ich glaube, werden mir dieses Zeugniß nicht vorenthalten können. Trotzdem bilde ich mir ein, absolut kein Philister zu sein, und die schönste Thätigkeit, die ich mir denken kann, besteht darin, sich im Freundeskreise einmal gehörig zu amusiren. Eine solche Gelegenheit hatte sich mir vor einiger Zeit einmal wieder geboten. Ein lieber Freund benutzte die Zeit seines Strohwittwerthums, ein Herren–Diner zu geben, und da er den Grundsatz hat: „möglichst wenig Gäste, dafür aber möglichst viel Gänge”, verlief die Gesellschaft bei ihm, wie stets, urgemüthlich. Vierzehn Herren, saßen wir an der festlich geschmückten Tafel vereinigt, und was es an Speisen und Getränken nur immer Exquisites gibt, wurde in Hülle und Fülle aufgetragen. Wir trennten uns erst spät in der Nacht, und als ich allein meiner Wohnung entgegenging und den Mond auf die Erde hinableuchten sah, faltete ich unwillkürlich die Hände und betete: „Lieber Mond, Du gehst so stille, spendest ja auch mir Dein Licht, drehe mir nur keine Pille, laß die Frau erwachen nicht.”
Und der Himmel erhörte mein Flehen: Engel behüteten ihren Schlummer. Am Treppenabsatz zog ich meine Stiefel aus, „Leise, leise, fromme Weise” stieg ich die Stufen empor und gelangte, ohne unterwegs angefallen zu werden und ohne, was ich befürchtete, selbst hinzufallen, in mein Schlafcabinett — des Kindes wegen schlafe ich stets im chambre separée. Die Nacht war schrecklich — ich fuhr beständig Carrousel, und zwischendurch war es mir, als ob ich in einem Ruderboot über den stillen Ozean — der aber absolut nicht still war — hinwegführe. Schrecklich war die Nacht, noch schrecklicher war das Erwachen. Als der Diener am nächsten Morgen, richtiger wäre zu sagen, nach einigen Stunden, zu mir ins Zimmer kam, um mich zu wecken, versuchte ich vergebens, meinen Kopf von dem Kissen zu erheben — ich hätte es nie für möglich gehalten, daß ein normal gebauter Schädel so entsetzlich schwer sein könne, sintemalen das Gewicht eines jeden Körpers sich doch nach seinem Umfang richtet. Der gute Georg mußte mir ansehen, was mir fehlte, Theilnehmend bot er mir seine Hülfe an — mit vereinten Kräften bekamen wir meinen Kopf und die anderen Gliedmaßen in die Höh'. Dann begann die Procedur des Waschens, und nachdem ich mir drei Eimer Wasser von vorne, Georg mir ein eben solches Quantum von hinten über meine sterblichen Gliedmaßen gegossen hatte, befand ich mich in jener Stimmung, in der man zum Sterben zu gesund, zum Leben aber zu krank ist.
Als ich nach einigen Stunden vom Dienst zurückkam, war das Schweste überstanden: Der Aufenthalt in der frischen Luft, der Genuß dreier Syphons, zweier Salzgurken und vier Glas Pilsener Bier hatten mich wieder einigermaßen auf den status quo ante gebracht. So betrat ich denn ganz vergnügt das Eßzimmer, in dem meine Frau mich mit dem zweiten Frühstück erwartete — wir sehen uns stets bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal am Tag. Ich küßte sie auf die Stirn und nahm ihr gegenüber Platz.
„Nun, gut amusirt gestern Abend?” fragte sie mich. „Wann bist Du denn nach Haus gekommen?”
„Früh,” entgegnete ich, „ich glaube, es war kurz nach Zwölf.”
„So?” klang es etwas verwundert zurück. „Bis zwei Uhr habe ich auf Dich gewartet.”
„Na, dann war es eben etwas später,” gab ich zurück, „auf jeden Fall aber war es im Grunde genommen recht langweilig. Man kann sich doch auch eigentlich kein stumpfsinnigeres Vergnügen denken, als solch' ein Herrendiner, bei dem die Unterredung nur in der ewigen Frage besteht: „Darf ich Ihnen noch einmal einschenken?” und bei dem man sich den ganzen Abend nur damit beschäftigt, möglichst viel Wein und Spirituosen in sich aufzunehmen.” (Mein Gastfreund möge mir diese Nothlüge verzeihen — ich wäre untröstlich, wenn er mich fortan von seinen Festen ausschlösse.)
„Das Letztere scheinst Du ja reichlich besorgt zu haben,” erwiderte meine Frau auf meine Bemerkung.
„Aber Kind, wie kommst Du nur auf solche sonderbaren Vermuthungen?” fragte ich mit dem erstauntesten Gesicht, das ich nur immer aufzustecken vermochte. Da fühlte ich plötzlich, wie mir ganz sonderbar zu Muthe ward, eine Art Schwindel befiel mich, der Angstschweiß trat mir auf die Stirn, und ich zog mein Taschentuch, um mir die Schläfe zu trocknen. Aber während ich das Tuch mit einem gewaltigen Schwung aus der Tasche zog, flog mir plötzlich etwas Hartes gegen die Nase.
„Nanu, was hast Du enn da?” fragte meine Frau. „Nanu!” sagte auch ich verwundert, und gemeinsam stellten wir den Gegenstand, der unser Erstaunen hervorgerufen hatte, als einen gewaltigen Knoten fest.
Ich halte mir nach Möglichkeit alle „Knoten” fern — wie kam dieser nun gar in mein Taschentuch? Meine Frau fragte mich danach — es war klar, daß ich mir dieses Zeichen gestern Abend auf der Gesellschaft gemacht hatte, damit ich mich auf irgend etwas besinne. Aber was war dies „irgend etwas”? Ich hatte keine Ahnung, und Das ärgerte mich vor mir selbst und vor meiner Frau, der ich dadurch bewies, daß sie, wie schon oft, so auch gestern Abend die bessere Hälfte von uns Beiden gewesen war. Um den Mund meiner kleinen Frau spielte ein leises, ironisches Lächeln. Das machte mich wüthend auf mich selbst. Ich würde mir doch nicht solche Schwäche geben und doch wohl errathen können, was dieser Knoten bedeute? So stützte ich denn den Kopf zwischen beide Hände und dachte nach, dachte nach, als wenn es sich um die Errettung aus Lebensgefahr oder sonst eione wichtige Angelegenheit gehandelt hätte. „Ein vernünftiges Wesen,” so las ich einmal, „unterscheidet sich von einem vernunftlosen dadurch, daß es sich bei dem Anblick eines Gegenstandes irged etwas zu denken vermag.” Dieser Satz fiel mir ein, aber trotzdem vermochte ich mir bei dem Anblick des Knotens nicht das Leiseste zu denken.
Da gab der Himmel mir einen Gedanken ein. Stolz erhob ich mein Haupt, blickte um mich, als wenn die Welt, die ich bezwungen, mir zu Füßen läge, und sagte: „Nun hab' ich's!”
„Nun, was ist's?” fragte meine Frau.
„Ja, Das sag' ich nicht,” gab ich zurück, „nicht für die Schätze Indiens hätte ich die Frage zu benatworten vermocht.”
Aber einer solchen niederträchtigen Lüge schien mich selbst meine kleine Frau nicht für fähig zu halten — ihre Neugier war erweckt, und sie drang in mich mit Bitten, Flehen, Schmeicheln, Schmollen, Thränen und allen anderen Ueberredungskünsten, es ihr zu sagen. Selbstverständlich blieb ich taub gegen alle Bitten, und da ich sonst als guter Ehemann jeden Wunsch meiner Frau, soweit Dies in meinen Kräften steht, gleich erfülle, ließ dieser Widerstand meinerseits Großes, Ungeheures in oder vielmehr hinter dem Knoten ahnen, und dementsprechend wurden die Versuche, mich zum Sprechen zu bewegen, immer stürmischer.
Endlich erhob ich mich vom Frühstückstisch, aber als ich den traurigen Ausdruck im Gesicht meiner Frau sah, weil ich, wie sie sagte, kein Vertrauen mehr zu ihr hätte, fühlte ich doch in meiner Brust ein menschliches Rühren: „Liebes Kind,” bat ich, „dränge nicht weiter in mich, ich darf es Dir nicht sagen, aber bald, vielleicht schon heute Nachmittag, wenn ich vom Dienst komme, will ich Dich, wenn Dir so viel daran gelegen ist, in das Geheimniß einweihen.”
Mein Entschluß war gefaßt: ich wollte zu dem in der Nähe wohnenden Gastfreund gehen und versuchen, von ihm oder einem anderen der Festtheilnehmer zu erfahrn, was der Knoten, der allmählich anfing, mich nervös zu machen, bedeute. Aber den Einen fand ich nicht zu Hause, der Zweite vermochte mir keine Auskunft zu geben, und der Dritte war genau so klug wie der Zweite.
So kam ich denn in recht betrübter Stimmung zu Hause wieder an und was ich gefürchtet, geschah. Kaum hörte meine Frau meine Schritte auf der Hausdiele, als sie mir entgegeneilte, ihre Arme um meinen Hals schlang und mit ihrer zartesten Stimme schmeichelte: „Nun? Darfst Du es mir jetzt sagen? Was bedeutet der Knoten?”
„Gedulde Dich noch einen Augenblick,” entgegnete ich, „ich will mich rasch umziehen, dann komme ich zum Kaffee hinunter.”
So hatte ich noch einmal eine Galgenfrist; aber wie der Verbrecher fühlte ich die Schlinge trotzdem fester und fester um meinen Hals zusammengezogen werden.
Aber wenn die Noth am größten, ist die Hülfe am nächsten. Als ich mein Ankleidezimmer betrat, meldete mir Georg, es sei ein Packet für mich abgegeben worden, er habe es versteckt, denn wahrscheinlich sei es doch wohl ein Geburtstagsgeschenk für die gnädige Frau. Gott sei Dank, ich war gerettet — wie hatte ich aber auch vergessen können, daß meine Frau in acht Tagen ihren Geburtstag feierte? Da spielte draußen auf der Straße eine Drehorgel: „Das kommt vom Sect, der macht so heiter, das Zeug, das schmeckt, man pichelt weiter.” — War Das vielleicht die Antwort auf die Frage, die ich mir selbst gestellt hatte?
Mit dem geheimnißvollsten Gesicht der Welt betrat ich wenige Minuten später das Eßzimmer und setzte mich an den Kaffeetisch.
„Liebes Kind,” begann ich, „bitte mache mir das Herz nicht unnöthig schwer und dringe nicht weiter in mich. Der Knoten bedeutet ein Geburtstagsgeschenk für Dich, über das wir uns heute Nachmittag einig geworden sind, und zwar nicht das kleinste Geschenk.”
Estwas kosten lassen mußte ich mir die Geschichte schon.
Aber, als wenn ich in ein Bienennest gestoßen hätte, schwirrte es um mich herum: „Wer ist sich einig geworden? Wer sind die wir, von denen Du sprichst? Wer schenkt mir noch etwas außer Dir? Wann hast Du es ausgesucht? Bei wem bestellt? Wie kommst Du dazu, gerade gestern Abend an meinen Geburtstag zu denken? Mit wem hast Du darüber gesprochen? Mit wem eine Verabredung getroffen? Waren nicht nur Herren der ersten Gesellschaft da? Wer von denen denkt daran, mir mit Dir zusammen etwas zu schenken?”
So ging das eine halbe Stunde fort, ich sah ein, ich hatte eine neue Dummheit begangen, ich saß fest und konnte weder vorwärts noch rückwärts. Ich opferte den Göttern in meiner Noth nach berühmtem Beispiel in Gedanken nicht nur einen Hahn, sondern auch meine sämmtlichen Hühner, über die ich mich jeden Tag ärgerte, weil sie keine Eier legten — aber trotz alledem leuchtete mir keine Rettung.
Meine Frau examinirte mich mit der Geschicklichkeit eines Untersuchungsrichters, und ich verwickelte mich dabei derartig in Widersprüche, daß ich, um nicht auch noch die Geschenke zu verrathen, die ich thatsächlich gekauft hatte, zu einer Lüge meine Zuflucht nehmen mußte.
„Also, liebes Kind,” begann ich, „wenn Du es denn absolut wissen willst, was der Knoten bedeutet, so sei es Dir hiermit gesagt.”
Ich schwieg eine Secunde, denn noch immer hatte ich keine Ahnung, was ich sagen wollte.
„Wie Du selber am allerbesten weißt,” fuhr ich nach einer kleinen Pause fort, „ist seit langer Zeit Dein sehnlichster Wunsch —”
Aber weiter kam ich nicht, hätte auch gar nicht weiter gewußt, denn plötzlich fiel mir meine kleine Frau vor Freude gleichzeitig weinend und lachend um den Hals und rief:
„Was? Du hättest Dich wirklich entschlossen und wolltest mir thatsächlich einen solchen kleinen russischen Lackwagen schenken, wie ihn der Gesandtschaftssecretär immer fährt? Nein, Das ist wirklich zu — zu nett von Dir!”
Seit der Stunde, in der ich mich verlobte, bin ich wohl nie wieder so geküßt worden, wie in diesem Augenblick, und werde auch wohl nie wieder so geküßt werden. Ich war besiegt, der Widerstand wäre unsinnig gewesen, und so fügte ich mich in mein Geschick. Schließlich war die Lösung der Frage noch gar nicht so übel. Seitdem ein Reitpferd in meinem Stalle stand, das famos im Einspänner ging, hatte auch ich daran gedacht, mir einen kleinen Wagen zu kaufen, aber ich war stets vor den großen Kosten zurückgeschreckt. Auch jetzt graute mir vor dem vielen Geld, das ich ausgeben mußte, und den Knoten im Taschentuch nach allen Richtungen der Windrose verwünschend, ging ich schließlich in mein Zimmer. Ich wollte arbeiten — aber wer kann gegen die Natur? Der Menschheit ganzer Jammer faßte mich an, ich legte mich auf die Chaiselongue, zog die Decke über die Ohren und schlief wie ein Gerechter, der, getreu dem Wort der Schrift, heute viel hatte leiden müssen und noch litt.
Als ich endlich aufwachte, war die Uhr schon halb Neun. Ich rieb mir die Augen, schüttelte verwundert den Kopf, daß Georg mich nicht, wie sonst benachrichtigt hatte, wenn der Thee fertig war, machte etwas Toilette und ging dann in das Eßzimmer hinunter. Aber als ich die Thür öffnete, glaubte ich, der Schlag solle mich rühren, denn auf der Tafel, die sonst nur Abends ein einfaches Butterbrot trägt, standen Austern und Hummern, Wild und Geflügel, Pasteten und Fasanen. Aus den Champagner–Kühlern winkte der schlanke Hals der Wittwe Cliquot — ach, wie verehre ich diese Frau — und gelb und roth gekapselte Rothweinflaschen standen traulich daneben. Aber Das nicht allein: an der Tafel saßen sechs Herren in Frack und weißer Binde, meine Frau präsidirte, und Alle erhoben ihr Glas, als ich in das Zimmer trat, und begrüßten mich mit schallendem Gelächter.
Ich muß ein unglaublich dummes Gesicht gemacht haben, während ich mich, um Gewißheit zu erlangen, ob ich wache oder träume, in die Ohren und in die Nase kniff, denn das Gelächter verwandelte sich in stürmische Heiterkeit, deren Grund und Veranlassung ich mir nicht zu erklären vermochte.
Und nun erfuhr ich endlich, was der Knoten in meinem Taschentuch bedeutete, ich hatte am Abend vorher, als ich mich in gehobener Stimmung befand, die sechs Herren zum Souper eingeladen und damit ich ganz sicher wäre, daß ich es nicht vergäße, mir jenes ominöse Zeichen gemacht.
Pünctlich waren die Gäste erschienen: von meiner kleinen Frau mit völlig erstauntem Gesicht empfangen. Rasch aber(1) die Situation erklärt worden, unter Lachen und Scherzen wurde ein Souper improvisirt, bei dessen Herrichtung sich ein Jeder betheiligte — nur mich ließ man ruhig schlafen, man wollte sich an meiner Ueberraschung erfreuen.
Bis spät in der Nacht blieben wir in der fröhlichsten Stimmung zusammen. Aber als meine Gäste mich endlich verließen, habe ich einen Schwur gethan, den ich bis an mein Lebensende halten werde: Nie wieder mache ich mir einen Knoten in mein Taschentuch, obgleich meine kleine Frau mich oft darum bittet, wenn wir in unserem russischen Lackwagen spazieren fahren und von dem improvisirten Souper sprechen, bei dem sie sich so herrlich amusirt hat. Ihr hat die Lösung des Knotens gefallen — für sie war es das reine Wunderknäuel — aber ich habe an dem einen Knoten für alle Zeiten mehr als genug.
(1) In der Buchfassung heißt es: „Rasch aber war”. (zurück)
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