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Der selige Knigge.

in: Die Zeit (Wien) vom 16.Oktober 1902.


Feuilleton.
Der selige Knigge.

Von Freiherrn v. Schlicht.

Heute sind es hundertundfünfzig Jahr her, daß Knigge geboren wurde, der sich als einer der ersten der undankbaren Aufgabe unterzog, ein Buch über den Umgang mit Menschen zu schreiben. Bücher zu schreiben ist eo ipso ein undankbares Geschäft, man kann es keinem rechtmachen. Um wieviel weniger kann man das, wenn man den Mut hat, ein Buch zu schreiben, in dem man sich erdreistet, anderen Leuten gute Lehren geben zu wollen. Schon ein Bube von acht Jahren wird trotzig und bockbeinig, wenn sein in Ehren noch nicht grau gewordener Vater ihm sagt, daß man dieses thut, jenes aber besser unterläßt. Dann wird der kleine Bengel zum Revolutionär und sagt sich: Wie kommt der Mann, der das Glück hat, mein Vater zu sein, dazu, mir gute Ratschläge geben zu wollen — ich weiß ganz alleine, wie ich mich zu benehmen habe.

Ich glaube, es gibt wenige Menschen auf der Welt, die den seligen Knigge nicht dem Namen nach kennen. Aber ob auch alle den Knigge gelesen haben? Darauf antworte ich mit einem lauten, vernehmlichen „Nein”.

Und doch verdient er es auch in der heutigen Zeit noch, nicht nur bei Confirmationen, Geburtstagen und ähnlichen frohen Familienfesten verschenkt, sondern auch gelesen zu werden. Von dem Zahnstocher, von dem Essen mit dem Messer, dem Ausspucken im öffentlichen Restaurant, von dem Gebrauch der Finger während des Diners und derartigen gesellschaftlichen Untugenden spricht Knigge nicht, und deshalb hatte jene Mutter unrecht, die ihrem sechzehnjährigen Jungen, der sich mit dem Zeigefinger in der Nase bohrte, obgleich er zur Confirmation den Knigge erhalten hatte, eine Ohrfeige gab. Eine „Watschen” hatte der Bengel sicher verdient, aber im Knigge steht nicht, daß man so etwas nicht thun darf. Knigge lehrt Lebensweisheiten, er gibt die Erfahrungen, die er an sich selbst gemacht und an anderen beobachtet hat, zum besten, er will, wenn ich mich so ausdrücken darf, dem inneren Menschen den nötigen Schliff geben. Dadurch unterscheidet sich sein Buch von allen anderen Büchern dieser Art, die mehr darauf bedacht sind, den äußeren Menschen zu erziehen. Ich selbst habe es auch einmal versucht, als ich vor einigen Jahren mit meiner Frau zusammen „Das goldene Buch der Sitte” schrieb. Es war eine Riesenarbeit, aber noch größer war die Arbeit, alle Briefe zu lesen, die das Buch mir einbrachte und in denen nur Grobheiten standen. „In meinen Kreisen essen alle Damen den Fisch mit dem Messer,” schrieb mir eine Amazone, „und wenn Sie behaupten, daß wir deshalb alle ungebildet sind, dann sind Sie ein ganz dummer, eingebildeter Hans Narr. Wer gibt Ihnen überhaupt den Mut, anderen Leuten Vorschriften machen zu wollen, Sie oller Quatschkopf?” So ging das weiter, tage- und wochenlang. Ich habe in meinem Leben schon viele Bücher geschrieben und werde wohl noch einige dazu schreiben, aber ein goldenes Buch der Sitte schreibe ich nie wieder, nicht einmal ein silbernes, ich habe verschiedene Haare darin gefunden.

„Jeder Mensch gilt in dieser Welt nur so viel, als er sich selbst geltend macht.” Fettgedruckt setzt Knigge diese Worte seinem ersten Capitel voran, und wenn Knigge sein Buch heute schreiben würde, könnte er kein besseres Wort finden. Wir leben jetzt mehr als je in einer Welt des Scheins. Wer es versteht, etwas aus sich zu machen, steigt empor, die anderen werden elendiglich mit Füßen getreten. Je frecher einer ist, desto weiter kommt er. Ein armer Bettler, der zu einem Reichen kommt und ihn um hundert Mark anborgt, würde wahrscheinlich wegen Größenwahnsinn in die Irrenanstalt gebracht werden. Madame Humbert aber, die weiter nichts besaß als einen eisernen Geldschrank, der nichts als Luft enthielt, bekam Millionen und Abermillionen geliehen. Nur nicht schüchtern sein, nur immer Mut. Vor einigen Tagen ist ein Geistlicher verhaftet worden, weil er vor drei Jahren drei Morde und einen Straßenraub begangen hat, aber das hinderte den Edlen nicht, seines Amtes ruhig weiter zu walten. Je weniger einer hat, je weniger er ist, umsomehr bläst er sich auf und die Menge beugt ihr Knie und sagt: „Seht, welch ein Mann.” Beim Militär hat man in Preußen ein Wort, das lautet: „Er ersetzt den gänzlichen Mangel an geistigen Fähigkeiten durch eine stramm militärische Haltung.”  „Bei's Civil” ist es ebenso, nur daß die stramme Haltung durch äußerst chike Lackstiefel und eine Ueberbrettl-Cravatte ersetzt wird. Viele Herren verdanken ihre Carriere nur ihrer Toilette. Ich kenne einen Herrn in Berlin, der seine Beinkleider stets nach London schickte, um sie dort aufbügeln zu lassen. Der tadellose Kniff der Beinkleider erregte die Aufmerksamkeit seines Ressortchefs, und heute ist der Herr mit den in London geplätteten Hosenfalten ein hohes Thier, das fest davon überzeugt ist, es verdanke seine glänzende Carriere lediglich seinen geistigen Fähigkeiten.

Knigge kannte die Welt, in der er lebte, und trotzdem über hundert Jahre vergangen sind, haben sich die Menschen verzweifelt wenig verändert. Die Gewohnheiten sind anders geworden, das äußere Milieu, in dem wir leben, hat sich verändert, aber die Menschen blieben dieselben und fast alles, was Knigge vor über hundert Jahren sagte, paßt auch heute noch. Ich blättere auf gut Glück in dem Buche und lese in dem Capitel über den Umgang mit Schriftstellern und Künstlern: „Eine andere Art von Ungerechtigkeit gegen Schriftsteller und Künstler begeht man, wenn man von ihnen erwartet, sie sollen auch im gewöhnlichen Leben nichts als Denksprüche reden, nichts als Weisheit und Gelehrsamkeit predigen.” Ist das nicht heute noch genau ebenso? Wer heute einen bekannten Schriftsteller zu Fasanen mit Sauerkraut und Austern einladet, verlangt dafür als Gegenleistung, daß der Mann während des ganzen Diners seinen Geist leuchten läßt — für nichts, ist nichts.

Ich glaube, der selige Knigge würde sich sehr wundern, wenn er heute wieder einmal auf die Welt käme und sähe, wie die meisten Menschen leben. Er würde sie fragen: „Kennt Ihr denn nicht das zweite Capitel meines Buches, das da handelt: Ueber den Umgang mit sich selbst?” Und ich glaube, er würde zur Antwort bekommen: „Verehrtester, wir haben so viel damit zu thun, uns um die anderen zu kümmern, von denen unser Wohl und Wehe abhängt, daß wir überhaupt keine Zeit hagben, uns mit uns selbst zu beschäftigen.” Aber wer den Knigge besitzt oder sechzig Kreuzer hat, um ihn sich zu kaufen, der lese die Worte: „Hüte dich, deinen treuesten Freund, dich selbst, zu vernachlässigen, daß dieser treue Freund dir den Rücken kehre, wenn du seiner am nötigsten bedarfst. Es kommen Augenblicke, in denen du dich selbst nicht verlassen darfst, wenn dich auch jedermann verläßt, Augenblicke, in denen der Umgang mit deinem „Ich” der einzige tröstliche ist.” Wer da glaubt, daß er nun die sechzig Kreuzer sparen kann, weil ich zwei Sätze von den vielen abschrieb, der irrt sich. Knigge will gelesen sein, und zwar wirklich gelesen, nicht so, wie junge Mädchen es thun. Kürzlich in Karlsbad, beim Frühstück, sah ein junges Mädchen das Buch vor mir liegen und bat mich, es ihr zu leihen. Da meine Reisecasse es mir erlaubte, mir das Buch zum zweitenmal zu kaufen, sagte ich natürlich mit Freuden „ja”, aber schon nach einer halben Stunde erhielt ich den Knigge zurück: „Haben Sie das Buch schon ausgelesen?” sagte ich und erhielt die Antwort: „Wozu brauche ich es zu lesen? Was da drinnen steht, weiß man ja alles, ich habe mir das Buch ganz anders gedacht. Ich glaubte, da stünde so was drinnen über Mode und ob man auch links herum tanzen dürfe, wie mein Vetter Fritz immer sagt, und ob ich das wirklich nötig habe, jeder älteren Dame beständig die Hand zu küssen, wie Mama immer behauptet.”

Armer Knigge! Jedoch ich sagte ja schon, man kann es als homo scribens niemandem rechtmachen. Aber in einer Weise hat Knigge es doch recht gemacht: er hat die guten Lehren, die er gab, ganz allgemein gehalten, und die Damen werden dem seligen Knigge heute noch in dem beistimmen, was er vor hundert Jahren sagte: „Was aber die Verwaltung der Gelder betrifft, so kann ich die Weise der meisten Männer von Stande nicht billigen, welche ihren Gemahlinnen eine gewisse Summe geben, mit der sie auskommen müssen, um damit den Haushalt zu bestreiten. Dadurch entsteht getheiltes Interesse, die Frau tritt in die Classe der Bedienten, wird zum Eigennutz verleitet, sucht zu sparen, findet, daß das Menu zu lecker ist, macht schiefe Gesichter, wenn er einen guten Freund zur Tafel einladet, der Mann dagegen meint leicht, er speise für sein theures Geld zu schlecht, aber wagt es aus übertriebener Zurückhaltung nicht, ein Gerichtchen mehr zu fordern, um seine Gattin nicht in Verlegenheit zu setzen.” (Knigge muß ein sehr rücksichtsvoller Ehemann gewesen sein, ich bin leider anders. Schlicht.) „Gib also deiner Hausfrau eine Summe Geldes, die deinen Umständen angemessen ist, zum Ausgeben! Wenn diese verwendet ist, so komme sie und fordere mehr von dir!!!”

So spricht Knigge. Ob der Mann wirklich verheiratet war? Ich fange an, daran zu zweifeln. Ich wünsche sogar, daß Knigge ledig war, im Interesse aller Ehemänner, deren Frauen diese Zeilen lesen, und die nun, unter Berufung auf Knigge, dessen Lehren jeder gebildete Mann befolgen soll, unbegrenztes Wirtschaftsgeld fordern.


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