Kleinstädter in der Großstadt.

Von Graf Günther Rosenhagen.

In „Deutsche Lesehalle”
Sonntags-Beilage zum Berliner Tageblatt
vom 18. September 1892,
in: „Pittsburger Volksblatt” vom 16.1.1893,
in: „Pittsburger Volksblatt” vom 19.1.1893,
auch in: Kleine Geschichten.


Es war ein köstlicher Sommerabend. Wir hatten am offenen Fenster des Café Bauer Platz genommen und schauten mit Interesse auf das rege Leben und Treiben unter den Linden. Zahlreiche Equipagen, schnelle Droschken jagten hin und her, Fußgänger jeglichen Alters und Standes gingen lachend und plaudernd auf und ab, Alles beleuchtet von dem Schein des elektrischen Lichtes: es war ein so wundervolles Bild, wie nur eine Großstadt, wie nur Berlin es zu bieten vermag. Wir tauschten unsere Bemerkungen über diesen und jenen Spaziergänger, sahen aber bald wieder schweigend auf das Gewühl. An der Ecke der Linden und der Friedrichstraße stauten sich die Wagen und die Menschen, der Schutzmann senkte seinen erhobenen Arm, und einen Augenblick später fluthete der Strom weiter.

„Herrgott, werden meine gute Tante und meine kleinen Cousinen aber Augen machen, wenn sie morgen Abend hier sitzen,” sagte endlich mein Freund.

„Welche Tante?” fragte ich. „Soviel Du mir bisher aus Deinem Leben erzählt hast, besitzest Du gar keine Verwandten.”

„Du hast Recht, auch ich erfuhr erst heute Nachmittag von dem Vorhandensein jener sogenannten Tante. Man erinnert sich meistens seiner Verwandten ja nur dann, wenn man in Noth ist; und so hat auch jene liebenswürdige Tante, die aus einem ganz kleinen Nest morgen zum ersten Mal nach Berlin kommt, sich plötzlich meiner erinnert und bittet mich, morgen ihr treuer Begleiter sein zu wollen.”

„Thue es nicht,” fuhr ich entsetzt empor, „um Gotteswillen, thue es nicht. Du weißt noch nicht, was Dir bevorsteht, aber ich, ich habe es einmal durchgemacht, ein Mal und nicht wieder. Ich habe es erfahren, was es bedeutet, Kleinstädter in der Großstadt herumzuführen.”

„Aber ich begreife Dich gar nicht,” unterbrach mich mein Feund, „was versetzt Dich denn plötzlich in solche Aufregung?”

„Wirst es gleich erfahren, gedulde Dich nur, bis der Kellner uns zwei neue Sherry-Cobler gebracht hat und ich mir eine neue Cigarre angezündet.” —

„Vor einigen Jahren, ich war damals noch Offizier und so stolz auf meine Uniform wie nur Einer, erhielt ich eines Tages von einer mir nur sehr oberflächlich bekannten Tante eine Karte etwa folgenden Inhalts:

‚Na also, lieber Hugo, ich habe mich endlich entschlossen, nach Berlin zu kommen, um den berühmten Professor N. wegen meines alten Magenleidens zu konsultieren. Line und Mine, das sind Deine beiden bildhübschen Cousinen, begleiten mich. Na also, lieber Hugo, morgen Mittag 1 Uhr 20 erwarten wir Dich Bahnhof Friedrichstraße, damit Du uns Berlin etwas zeigst.‘

Pünktlich stand ich zur befohlenen Zeit auf dem Perron. Ich hatte mir meine schönste Uniform angezogen, ich wollte Eindruck machen auf die Herzen meiner Verwandten. O, daß ich doch an jenem Tage das ruhige, weniger auffällige Gewand eines friedlichen Bürgers angelegt hätte! Endlich hielt der Zug. Mit zahllosen Kisten bewaffnet entstiegen meine zärtlichen Verwandten, die ich nur schwer nach alten Photographien wieder erkannte, dem Coupé.

‚Na Hugo,‘ begann meine Tante, nachdem sie mich zum Ergötzen der Zuschauer gehörig abgeküßt hatte, ‚das ist nett von Dir, daß Du gekommen bist. Nun nimm mir 'mal meine Pakete ab.‘

Ich winkte einen Dienstmann herbei und wollte ihm die Sachen einhändigen. Aber wie eine Löwin ihr Junges, so verteidigte die alte Dame ihre Schachteln.

‚Nein, Hugo, auf keinen Fall, man kann nie vorsichtig genug sein, wer weiß, ob dieser als Dienstmann gekleidete Mensch nicht ein verkleideter Dieb ist.‘

‚Nanu, die Olle hat wohl einen Vogel,‘ brauste der Dienstmann auf.

‚Aber beste Frau Tante, wie können Sie nur so etwas denken,‘ bemerkte ich.

‚Na Hugo,‘ sie begann fast alle Sätze mit dem Worte ‚na, — wenn Du Dich genirst, dann gieb man die Sachen wieder her.‘

Dabei entriß sie mir die Schachteln und belud damit sich und die beiden Cousinen, die verlegen kicherten und, sich heimlich mit dem Ellenbogen anstoßend mich bisher gemustert hatten. Endlich gelang es mir, die Tante zu versöhnen, die Kasten wanderten wieder auf meinen Arm, und beladen wie ein Packesel trottete ich hinter den Damen her.

Ein Wagen nahm uns auf und führte uns zu dem Hotel.

‚Na Hugo, das ist ja ein ganz niedliches Haus, wenigstens von außen, aber wer weiß, wie es innen aussieht.‘

Der Portier erschien und fragte nach unserem Begehr.

‚Ich möchte ein Zimmer mit drei Betten haben,‘ sagte meine Tante.

‚Thut mir sehr leid, ein Zimmer mit drei Betten haben wir nicht.‘

‚Was, das haben Sie nicht?‘ fing nun die Tante an. ‚Was, in solch einem großen Hause nicht 'mal ein Zimmer mit drei Betten? Na Hugo, Du scheinst uns ja in ein recht nettes Haus geführt zu haben. Ich sag' es ja immer, in den großen Städten ist Alles Schwindel, Alles nur auf den Schein berechnet. Nicht 'mal ein Zimmer mit drei Betten! Sagen Sie 'mal, wo schläft denn eine alte Dame, die mit ihren beiden Töchtern das Hotel aufsucht?‘

Ich stand wie auf Kohlen, müßige Kellner und Zimmermädchen hatten sich eingefunden und lauschten mit Vergnügen dem Redestrom der alten Dame. Vergebens suchte ich sie durch Zeichen und Winke zum Schweigen zu bringen.

‚Nein, Hugo, laß nur, das schadet gar nichts, wenn eine alte Frau ihrem Herzen Luft macht und die Übelstände hier im Hause aufdeckt.‘

Inzwischen nahte, durch den Lärm herbeigelockt, der Herr Oberkellner. Er wurde von dem Wunsche der Dame benachrichtigt und beeilte sich, denselben zu erfüllen.

Aber auch das war meiner Tante nicht recht: ‚Nein, ich wünsche gar nichts, denn ich glaube, daß ich etwaige Wünsche sehr theuer werde bezahlen müssen.‘

‚Ja, meine Dame,‘ meinte der Oberkellner, ‚dann bleibt weiter nichts übrig, als daß Sie sich in die zweite Etage bemühen. Ich habe dort zwei Zimmer neben einander, die ich Ihnen billig überlassen kann.‘

‚Na, denn man zu Kinder! Hugo, faß mal wieder an!‘

Die Hilfe des Hausknechts ablehnend, belud meine Tante mich wieder, und in der glühendsten Hitze stiegen wir die Treppen in die Höhe. Der Kellner öffnete die Thüren und wies den Damen zwei hübsche Zimmer an.

‚Nicht übel, geht so, was kosten die Zimmer?‘

‚Drei Mark pro Tag,‘ lautete die Antwort.

‚Selbstverständlich beide,‘ meinte die vorsichtige Verwandte.

‚Thut mir sehr leid, aber so billig können wir es nicht lassen. Jedes Zimmer kostet drei Mark.‘

‚Aber Hugo, das ist ja entsetzlich theuer. Jedes Zimmer drei Mark! Aber dann selbstverständlich mit Kaffee und Gebäck?‘

‚Auch das nicht, meine Dame. Übrigens, wenn Ihnen das auch noch zu theuer ist —‘

Ich winkte dem allmählich ärgerlich gewordenen Kellner, das Zimmer zu verlassen.

‚Na, Hugo, dann laß uns nun eine halbe Stunde allein, damit wir uns umkleiden können. Dann holst Du uns zum Frühstück ab.

Pünktlich fand ich die Damen zum Ausgehen bereit. Wir gingen die Friedrichstraße hinauf und betraten das Pschorr, denn meine Verwandten wollten einen der großen Bierpaläste kennen lernen. Das Lokal war wie immer mit Gästen überfüllt.

‚Die Luft, diese Luft bring uns um,‘ riefen auf einmal drei Stimmen.

‚Gut, laßt uns wo anders hingehen.‘

‚Ja, nur fort von hier!‘

Unter dem Gelächter der uns nahe sitzenden Gäste verließen wir das Restaurant und gingen zu Sedlmayr.

‚Nein, hier bleibe ich keine Sekunde, die Luft tödtet mich.‘

‚Nimmm es mir nicht übel, liebe Tante,‘ erlaubte ich mir zu bemerken, ‚Du mußt bedenken, daß es Dein ausdrücklicher Wunsch war, in ein Bierlokal geführt zu werden, und daß hier, wo beständig geraucht wird, die Luft natürlich nicht sehr gut sein kann.‘

Für einen Augenblick schien ich Recht zu bekommen, wenigstens gelang es mir, die Damen an einen Tisch zu führen.

‚Laßt uns hier Platz nehmen,‘ bat ich.

Wir setzten uns nieder. Gerade als ich bei dem Kellner bestellte, stand meine Tante plötzlich auf.

‚Nein, auf keinen Fall, an diesem Tisch bleibe ich nicht sitzen. Das Gesicht mißfällt mir,‘ und sie zeigte auf einen harmlosen Bürger, der in die Lektüre seiner Zeitung vertieft dasaß, ‚sieh Dir einmal den Mann genauer an, der hat keinen guten Blick.‘

‚Aber, liebe Tante,‘ wagte ich schüchtern zu bemerken.

‚Laß nur, Hugo, ‘ unterbrach sie mich, ‚ich habe mich noch nie in einem Menschen geirrt.‘

Sie raffte die verschiedenen Schirme zusammen und verließ ihren Platz. Was blieb uns weiter übrig, als ihr zu folgen? Endlich hatte sie eine Ecke gefunden, in der sie vor bösen Blicken sicher war. Ich bestellte das Frühstück, und wenige Minuten später kam das schöne Bier.

‚Aber, Hugo, das ist ja gar kein Spatenbräu. Ich trinke nun schon seit einem Jahr, nein, was sag' ich, seit Jahren immer Spatenbräu zu Hause, aber das schmeckt ganz anders.‘

‚Ja, Tante,‘ erwiderte ich, ‚dann ist es doch wohl viel wahrscheinlicher, daß Du hier das echte bekommst und in Deiner kleinen Stadt das nachgemachte, als umgekehrt.‘

Aber meine liebe Verwandte ließ sich ihren Glauben nicht nehmen. Polternd und scheltend, daß sie überall schlecht bedient werde, verließ sie das Lokal. Meine beiden Cousinen machten den Versuch, sich meiner anzunehmen, aber sobald die jungen Mädchen den Mund öffneten, um ein Wort zu meiner Vertheidigung zu sagen, hielt meine Tante ihnen den Mund zu.

Das Frühstück hatten wir nur halb eingenommen, ‚also nun man fixings Mittag essen und dann die Stadt besehen.‘

Wir gingen in ein Weinrestaurant. Der Hunger und Durst überwanden, Gott sei Dank, alle anderen Bedenken meiner Verwandten, und das Diner wurde aufgetragen.

‚Es ist natürlich selbstverständlich, lieber Neffe, daß Du heute Mittag mein Gast bist.‘

‚Erlaube aber,‘ unterbrach ich meine Tante, ‚selbstverständlich ist nur, daß ich Alles thue, was in meinen Kräften steht, um Euch hier den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen und da nach meiner Meinung eine gute Tafel dazu beiträgt, so —‘

Davon wollten nun aber wieder die Verwandten nichts wissen, und schließlich einigten wir uns dahin, daß sie das Couvert, ich aber den Wein bezahlen sollte.

Endlich war das Diner vorüber, die Zeit drängte, der Professor, der aufgesucht werden sollte, durfte nicht warten, und ich rief den Kellner herbei, um zu zahlen. Schon vorher hatte ich mich mit dem Jünger Ganymeds verständigt.

‚Wenn die Damen das Essen bezahlen wollen, fordern Sie für jedes Couvert nur 50 Pfennig, das Übrige bezahle ich, begriffen?‘

Der befrackte Jüngling hatte mich verständnißinnig angelächelt, und keine Miene in seinem Gesicht zuckte, als er die Rechnung aufsetzte: ‚Vier Couverts à fünfzig Pfennig — zwei Mark.‘

‚Na Hugo, das ist doch endlich ein vernünftiges Restaurant, in das Du uns geführt hast, das kann ich nicht anders sagen: Suppe, Fisch, Geflügel, Braten, Eis, Butter und Käse, dafür fünfzig Pfennige, das ist nicht zu theuer.‘

Die Damen bestiegen einen Wagen, um zu dem Professor zu fahren und ich wandte mich heimwärts, denn der königliche Dienst gab mir zu thun. Es war mir unmöglich, mich am Abend und am nächsten Morgen bei der Abreise weiter um meine Verwandten zu kümmern, und offen und ehrlich gestanden, war ich herzlich froh darüber. Erleichert athmete ich am nächsten Morgen auf, als ich mir sagen konnte: ‚nun sind sie fort‘; aber es war noch nicht genug des Kummers. Wochen waren vergangen, fast hatte ich jenen Tag schon wieder vergessen, da erhielt ich eines Morgens folgenden Brief. Ich habe ihn tausendmal gelesen und weiß ihn heute noch auswendig:

‚Lieber Hugo!
Erst heute, es sind, seitdem wir uns sahen, sechs Wochen vergangen, habe ich mich von dem Schrecken, den ich Deiner Unachtsamkeit verdanke, so weit erholt, daß ich im Stande bin, die Feder zu halten. An jenem Tage, da wir uns nach dem verhältnißmäßig billigen Mittagessen getrennt hatten, besuchten wir ein Theater, dessen Name mir Gott sei Dank entfallen ist. Ahnungslos betraten wir das Haus, aber was sahen und hörten wir? Ein sogenanntes französisches Sittenbild, wie ich es nie für möglich gehalten. Ich saß wie auf Kohlen. Ob Line und Mine etwas davon verstanden haben, weiß ich nicht, bei gar zu verfänglichen Stellen hielt ich ihnen, unbekümmert um das Gelächter meiner Nachbarn, die Ohren zu. Ich aber habe Alles verstanden und mache Dir, lieber Hugo, die heiligsten Vorwürfe, daß Du nicht auf das Entschiedenste von dem Besuch des Theaters abgerathen hast. Du wirst sagen: ‚wie konnte ich wissen, daß Ihr dorthin gehen würdet‘ — aber, lieber Hugo, das ist gar keine Entschuldigung, im Gegentheil, ich mache Dir noch einen Vorwurf daraus, daß Du es nicht wußtest. Überhaupt bin ich von meiner Berliner Reise sehr wenig befriedigt heimgekehrt. Der Arzt hat mir ja allerdings geholfen, aber Alles andere war doch entsetzlich. Nur wie gesagt, das Mittagessen, das kann man selbst hier nicht billiger und besser haben. Wenn ich an meine Hotelrechnung denke, wird mir noch jetzt so schwach, daß Line mir das Riechflacon geben muß. Denke Dir, allein für Licht zwei Mark, so viel gebrauche ich hier in einem Vierteljahr nicht. Das hättest Du, als aufmerksamer Neffe, aber vorher mit dem Wirth anders ausmachen müssen. Im Übrigen grüßt Dich herzlich Deine alte Tante.”

„So, lieber Freund, nun habe ich Dich gewarnt, jetzt thue, was Du nicht lassen kannst.”

„Laß uns nicht so auseinandergehen,” rief mein Feund entsetzt aus, als er sah, wie ich mich zum Aufbruch rüstete, „gieb mir noch einen guten Rath mit auf den Weg, kann denn Keiner mir helfen?”

„Menschen können Dir nicht helfen,” antwortete ich ihm, „aber behüt' Dich Gott, das sei mein Reisesegen.”


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