Von Freiherrn v. Schlicht.
in: „Meine Kabarettgeschichten”
Ausschnitt aus: „Winterarbeit”
In einem Regiment hatte ein Oberleutnant den Auftrag erhalten, anstatt der Winterarbeit einen freien Vortrag im Kasino zu halten. Es war ein verteufelt schweres Thema — aber mit Hilfe der Post gelang es ihm, in der Armee einen Kameraden ausfindig zu machen, der das Thema vor Jahr und Tag schon bearbeitet hatte.
Wer war glücklicher als der Herr Ober?
„Bitte, schicke mir die Arbeit,” schrieb er und erhielt die Antwort: „Augenblicklich schreibt sie hier im Regiment noch jemand anders ab, sobald sie fertig ist, steht sie Dir zur Verfügung.”
Ein Tag verrann nach dem anderen, endlich waren es nur noch achtundvierzig Stunden bis zum Vortragsabend, die Arbeit war noch nicht da und er mußte sie noch auswendig lernen.
Der Herr Ober lieh sich einen Taler und nun ging das Telegraphieren los.
„Bin in tödlichster Verlegenheit. Wo bleibt die Arbeit?”
„Vor drei Tagen an Dich abgesandt.”
„Nicht erhalten.”
„Recherchiere, es wollen sie auch noch Andere abschreiben.”
Das Letztere war dem Herrn Oberleutnant völlig gleichgültig, aber er begann zu recherchieren. Er stürzte zum Postdirektor: „Mein Blut komme über Euch und Eure Kinder,” schrie er dem Beamten an, dann setzte er ihm auseinander, um was es sich handelte.
Fünf Minuten später spielte — dieses Mal auf Staatskosten — der Telegraph nach allen Richtungen der Windrose. Vierundzwanzig Stunden der tödlichsten Aufregung verliefen, es wurde so viel telegraphiert, daß die Elektrizität auf Erden knapp zu werden begann — und das Resultat war, daß die Arbeit war, wo sie war, nur nicht da, wo sie sein sollte.
Und Abends sollte der Vortrag gehalten werden. Da faßte der Herr Oberleutnant einen wahrhaft großen Entschluß, er ging auf das Regimentsbureau und bat den Herrn Oberst um acht Tage Aufschub, da es ihm bei der äußerst knapp bemessenen Zeit nicht möglich gewesen sei, mit der Arbeit fertig zu werden.
Zuerst bekam er einen ganz kolossalen „Anpfiff”, weil er sich erlaubte, die ihm von dem Herrn Oberst und Regimentskommandeur gegebene Zeit als „äußerst knapp” zu bezeichnen, und dann erhielt er Bescheid auf seine Bitte: „Ein Aufschub sei unmöglich, da der Herr General sein Erscheinen für den Abend zugesagt habe, das Einzige, was er, der Herr Oberst, gestatten und vor dem Herrn General verantworten wolle, sei, daß der Vortrag vorgelesen werden könne. Das sei doch schon eine enorme Erleichterung.”
Gewiß, ja, aber ob man einen Vortrag, von dem man das Manuskript nicht hat, auswendig lernt oder abliest, ist genau dasselbe — beides ist unmöglich.
Als der Herr Oberleutnant nachmittags um sechs Uhr zu Tisch kam, war der Brief noch nicht da — um acht Uhr war der Vortrag.
Dem Herrn Oberleutnant klapperten die Zähne; die Gefühle, die der Delinquent empfindet, wenn der Herr Scharfrichter über seinen Nacken das Henkerbeil schwingt, sind Wollustschauder, verglichen mit den Qualen, die der Herr Oberleutnant ausstand.
Allen standen die Haare zu Berge, wie sollte das enden?
Da, in zwölfter Stunde, kam der Brief, der Gott weiß wo in der Welt herumgeirrt war.
Ein Schrei der Erlösung rang sich von des Gequälten Lippen. „Der Briefbote soll sich auf meine Kosten bis zur Bewußtlosigkeit betrinken,” rief er. Er selbst wollte das Manuskript ein paar Mal durchlesen. Da erschien der Herr Oberst.
Allgemeines Entsetzen.
„Nun, ist die Arbeit fertig?”
„Zu Befehl, Herr Oberst.”
„Wie lange wird der Vortrag denn dauern?”
Der Herr Ober hatte noch nicht einmal das Kuvert geöffnet, so log er denn auf gut Glück: „Ungefähr eine halbe Stunde.”
Fünf Minuten vor acht Uhr erschien der Herr General, und mit dem Glockenschlag acht Uhr bestieg der Herr Oberleutnant die Rednertribüne.
Als er das Manuskript nun zum allererstenmal auseinanderschlug, um es sofort möglichst fließend vorzulesen, taumelte er mit dem Kopf gegen die Wand, daß es krachte.
Und das hatte seinen guten Grund, die Arbeit war stenographiert!