Satire von Freiherr von Schlicht,
in: „Parade-Haare”
Der Urlaub war zu Ende. Ein ganzes Jahr hatte der Oberleutnant in Berlin zubringen dürfen, um sich auf das Dolmetscherexamen vorzubereiten, das orientalische Seminar zu besuchen und Vorlesungen aller Art zu hören. Diese Beurlaubung, noch dazu mit vollem Gehalt, war eine große Auszeichnung gewesen; einflußreiche Verbindungen hatten sie ihm verschafft, nicht in letzter Linie seine glänzende Konduite. Er war ein ausgezeichneter Offizier, er hatte die Kriegsakademie mit sehr gutem Erfolg besucht, und wenn er trotzdem noch nicht im Generalstab, in der „großen Bude” saß, so sprachen da allerlei andere Gründe mit. An seinen militärischen Fähigkeiten lag es nicht.
Das Jahr in Berlin war zu Ende. Es war im Fluge vergangen. Mit wieviel Hoffnungen war er damals nach der Residenz gefahren. Er war felsenfest davon überzeugt gewesen, sein ganzes Leben würde sich fortan anders gestalten. Er hatte das große Etwas für sich erhofft, das nach unserer Meinung für uns alle in der Luft liegt, das wir täglich und stündlich erwarten und erhoffen, und das den wenigsten jemals zuteil wird.
Und nun? Eine Zeit, reich an schönen Erinnerungen, lag hinter ihm. Er hatte seine Kenntnisse bereichert, sein Wissen vermehrt, sein Blick hatte sich im Verkehr mit klugen Angehörigen der verschiedensten Berufszweige geweitet, aber das große Etwas, das sein Leben anders gestalten sollte, war ausgeblieben.
Im ewigen Einerlei des Dienstes würden die Tage und Wochen, die Monate und die Jahre nun wieder dahingehen.
Er war Soldat mit Leib und Seele, aber trotzdem schauderte er jetzt bei dem Gedanken an die Zukunft zusammen, als er nun, in die Kissen seines Coupés zurückgelehnt, seiner Garnison entgegenfuhr.
Er sah die kleine Stadt im Geiste vor sich. Die war so stolz darauf, mit ihrer Einwohnerzahl bereits das zwanzigste Tausend überschritten zu haben. Zwanzigtausend Menschen, die sich fast alle gegenseitig kannten, von denen kaum einer ein höheres Interesse hatte als das Tun und Treiben der lieben Nächsten. Die öden, leeren Straßen tauchten vor ihm auf, die altmodischen Häuser, die armselige Beleuchtung, die abends um 6 Uhr schon halb ausgelöscht wurde, das kleine Provinzialtheater, in dem die Vorstellungen zu gut waren, um ausgelacht, und doch nicht gut genug, um ernst genommen zu werden. Dann die Restaurants. Das Offizierskorps verkehrte nach alter Sitte nur in zwei Lokalen. Ging man nicht in das eine, dann ging man in das andere; in eines ging man sicher. Wie wollte man auch wohl sonst die langen Abende verbringen? Gesellschaften gab es fast keine, nur die üblichen Peccos: Bouillon in Tassen, Kalbsrücken mit Beilage, Butter und Käse. Dazu aus dem Kasino der billigste Mosel, kalter schlechter Rotwein, Kommißunterhaltung, tödlichste Langeweile!
Dann die Kameraden! In der Hauptsache brave, liebe Menschen, aber meistens im Kadettenkorps groß geworden, einseitig gebildet, ohne Interessen, ohne Verständnis dafür, daß es außerhalb des Kasernenhofes auch noch eine Welt gäbe. Was wußten sie auch von der! Bekam einer Urlaub, dann fuhr er zu den Eltern und auf dem Rückwege ein oder zwei Tage nach Berlin. Arkadia-Säle, Moulin roge, das waren die Erinnerungen, die sie mitbrachten, von denen sie monatelang zehrten, von denen sie nicht müde wurden, Abend für Abend im Kasino zu erzählen. Neugierig und voller Spannung lauschte dann die Jugend, die Berlin noch nicht kannte. Gab es wirklich solche Herrlichkeiten auf der Welt? Die Schilderungen und der Schaumwein erhitzten die Phantasie, die Köpfe glühten, die Begierde wurde erweckt, man empfand das Leben in der Kleinstadt doppelt und dreifach schwer.
Und über den Kameraden die Vorgesetzten. Männer, die vom frühen Morgen bis zum späten Abend um ihre Existenz kämpften, die selbst bei Nacht den Gedanken an das ihnen allen drohende Schreckgespenst „Abschied” nicht los wurden. Keinen Tag waren sie sicher, jede Besichtigung, der geringste Zufall konnte ihnen das Genick brechen. Und was dann? Mit Weib und Kind auf die geringe Pension angewiesen, in vollster Manneskraft zur Untätigkeit verurteilt. Das Los winkt ihnen allen, früher oder später. So kämpften sie mit allen Mitteln, um für sich und die Ihrigen die Stunde der Verabschiedung soweit wie nur irgend möglich hinauszuschieben.
Allen voran sein Hauptmann, ein armer Teufel, verheiratet, eine kranke Frau, fünf Kinder, nicht einen Groschen Vermögen. Das Gehalt mußte reichen, wenn irgend möglich, mußte man noch sparen für spätere Zeiten.
Ein trauriges Los, ein beklagenswertes Schicksal, und doch hatte kaum einer im ganzen Regiment Mitleid mit ihm, so groß war die Abneigung, die alle gegen ihn hegten. Er war falsch, mißtrauisch und mißgünstig, ein Schmeichler nach oben, ein Tyrann nach unten. Er hatte nur zwei Freunde im Regiment, aber zwei mächtige: den Kommandeur und den Adjutanten, bei denen machte er sich lieb Kind; bei allen Vorstellungen schnitt er glänzend ab. Immer wieder wurde er den anderen als ein leuchtendes Vorbild hingestellt.
Seine Leute zitterten vor ihm, seinen Offizieren machte er das Leben zur Hölle. Er gab nie Anlaß zu einer Beschwerde, dazu war er zu vorsichtig, zu feige, aber mit seinem Hohn und seinem Sarkasmus, mit der grausamen Freude, sie alle seine Macht fühlen lassen zu können, peinigte er sie oft bis aufs Blut.
Heute vor einem Jahr hatte sich der Leutnant bei ihm beurlaubt gemeldet. In den graugrünen Augen des Vorgesetzten hatte es vor Neid und Mißgunst aufgeblitzt, daß dem Jüngeren eine solche Auszeichnung zuteil wurde. Der andere ging ein Jahr nach Berlin, der hatte ein sorgenfreies und frohes Jahr vor sich, er selbst mußte auf dem Kasernenhof zurückbleiben, weiter exerzieren lassen und weiter kämpfen um das tägliche Brot.
Dann hatte er dem Offizier die Hand gereicht, eine lange, schmale, weiche Hand, und dem Leutnant war es gewesen, als hätte ihn eine Natter berührt.
Allgemeine Redensarten waren gefolgt: Wie es ihn freue, daß gerade ein Offizier seiner Kompagnie ein so ehrendes Kommando erhielte, wie er sicher sei, daß er das in ihn gesetzte Vertrauen stets rechtfertigen werde, dann die Bitte, hin und wieder ein Lebenszeichen von sich zu geben, ihn nicht ganz zu vergessen.
Mit einem „Auf frohes Wiedersehen” hatte er seinen Offizier entlassen.
Morgen sollte dieses Wiedersehen nun stattfinden. Die Hoffnung des Oberleutnants, zu einer anderen Kompagnie versetzt zu werden, hatte sich nicht erfüllt. Bisher hatte er nur auf dem Papier bei der Königlich Zweiten gestanden, — wie der Bataillonsadjutant ihm schrieb, an den er sich deswegen wandte, — nun mußte er auch einmal bei ihr Dienst tun, wenigstens zwei Jahre, dann wollte man weitersehen.
Die Angst überfiel ihn, ihm graute förmlich. Und doch gab es kein Entrinnen. Mit jeder Raddrehung kam er seinem Schicksal näher und näher, unaufhaltsam fuhr er seiner Zukunft entgegen.
Nach fast zwölfstündiger Fahrt war er am Ziel. Sein Bursche erwartete ihn an der Bahn, ein Blatt Papier in der Hand: den Dienstzettel.
,Morgen früh von sechs bis sieben Instruktion über die Kriegsartikel durch die Herren Leutnants.
Von ein halb acht Uhr an Exerzieren der Kompagnie unter dem Herrn Hauptmann. Dazu sämtliche Herren Offiziere.'
Der Oberleutnant weiß: Das Wort „sämtliche” ist extra für ihn geschrieben, damit er nicht etwa glaubt, er könne sich erst noch einmal ordentlich ausschlafen, bevor er sich von seinem Urlaub zurückmeldet.
Am nächsten Morgen meldet er sich bei seinem Vorgesetzten. Es soll ein freundliches Lächeln sein, womit dieser den Untergebenen begrüßt, aber doch kann er die Schadenfreude nicht unterdrücken. „Nun, war es schön in Berlin? Das kann ich mir denken. Na, nun werden Sie gewiß auch wieder froh sein, Dienst tun zu können.” Gleich darauf zieht er seinen Degen: „Ich bitte die Herren einzutreten.”
Die Offiziere treten an ihre Plätze, dann heißt es stillgestanden, und gleich darauf beginnt die Korrektur. Bei dem rechten Flügelmann fängt der Hauptmann an, und an der künstlichen Ruhe, mit der der Vorgesetzte jeden einzelnen vornimmt, merkt der Oberleutnant, mit welcher Ungeduld sein Hauptmann den Augenblick erwartet, an dem er ihn vornehmen kann. Endlich ist es soweit:
„Aber Herr Leutnant, wie stehen Sie denn nur da?”
Das soll wohlwollend, nachsichtig und gütig klingen und ist doch nur schadenfroh.
„Aber mein lieber Herr Leutnant — Ja, ja, in Berlin werden Sie während Ihres Urlaubs auf solche Kleinigkeiten nicht geachtet haben; bitte, sehen Sie sich nur einmal Ihre Fußstellung an, die linke Stiefelspitze muß wenigstens einen halben Zentimeter mehr nach auswärts genommen werden, bitte, noch eine Kleinigkeit, so ist es schön. Und nun die Kopfhaltung. Das linke Ohr muß etwas tiefer und die Nase muß genau über der Knopfreihe stehen, Sie dürfen dabei aber den Kopf nicht vorwerfen. Jetzt muß das rechte Ohr wieder etwas tiefer, aber nur eine Idee, so ist es schon besser. Und das Kinn bitte ganz leicht heran an die Binde, nicht zu stark drücken, kein Doppelkinn machen und den Blick ganz frei und offen geradeaus, wie es bei dem Photographen heißt, bitte, recht freundlich.” Prüfend mustert der Hauptmann den Offizier, der da vor ihm steht, er weiß ganz genau, was in dem andern vorgeht, und das freut ihn. Warum war der so lange auf Urlaub? Da hat er so vieles verlernt, das muß er nun nachholen. Der Dienst erfordert es, und das Interesse des Dienstes geht über alles. Demgegenüber müssen alle persönlichen Wünsche und Rücksichten schweigen.
Sonst würde der Hauptmann vielleicht heute am ersten Tage dem Herrn Leutnant gegenüber noch ein Auge zudrücken, aber der Dienst macht es ihm zur Unmöglichkeit.
„Bitte, Herr Leutnant, Sie müssen ganz stille stehen. Eben hat sich Ihre Degenspitze bewegt, das ist undenkbar, das darf nie und nimmer sein. Und die beiden Ohren stehen schon wieder nicht in gleicher Höhe, das linke muß ein ganz klein wenig tiefer.”
So geht das den ganzen Vormittag weiter, und als der Dienst beednet ist, da weiß der Leutnant: Wie es heute war, wird es morgen sein und übermorgen, Tag aus, Tag ein; er wird das schöne Jahr in Berlin büßen müssen, Stunde für Stunde, so lange er bei seinem Hauptmann steht. Er kennt seine Konduite, er weiß, daß er eine tadellose Haltung hat, er will sich nicht erziehen lassen wie ein kleines Kind, er ist doch ein Mann.
Er stürmt die Treppen zum Regimentsbureau in die Höhe, aber der Adjutant, dem er sein Leid klagt, zuckt die Achseln. „Da ist nichts zu machen, lieber Freund, und ich glaube, Sie tun Ihrem Hauptmann bitter unrecht, Sie scheinen mir in Berlin etwas empfindlich geworden zu sein, das wird sich mit der Zeit schon wieder geben.”
Langsam steigt der Leutnant wieder die Treppen hinunter. Unten auf dem Kasernenhof macht er Halt und sieht sich um. Von hohen Mauern umgeben, dehnt sich der Platz dort aus, er ist jetzt ganz leer, Soldaten sind nicht zu sehen, nur der Posten mit dem Gewehr unter dem Arm geht vor dem Portal auf und ab.
Einsamkeit, Abgeschlossenheit, strengste Überwachung — durch den leeren Platz, durch die hohen Mauern, durch den Posten ist dieses alles verkörpert.
Der Leutnant schaudert zusammen: was er da vor sich sieht, ist sein Leben.
Er will aufschreien vor Sehnsucht nach dem, was er zurückließ, vor Sehnsucht nach dem, was er erwartete und erhoffte.
Aber tapfer beißt er die Zähne zusammen.
Und langsam geht er seiner Wohnung entgegen.