Humoreske von Freiherr v. Schlicht.
in: „Hamburger Fremdenblatt” vom 24.Nov. 1896 und
in: „König Eduards Testament”.
Auf jeder Gesellschaft trifft man Menschen, die mit Ungeduld auf den Augenblick warten, wo es ihnen gelingt, die Unterhaltung an sich zu reißen, die dann das große Wort führen, gleichgültig, ob sie durch ihr Benehmen Anstoß erregen oder nicht. Zuhören ist eine schwere Kunst, die nur Wenige verstehen. Die meisten Menschen haben, während Einer erzählt, nur den einen Gedanken: „Herr Gott, wie ist Das langweilig, nimmt denn die Geschichte gar kein Ende!” und kaum hat der Sprecher geendet, so beginnen sie mit einer noch viel längeren Erzählung.
Die meisten Menschen amusiren sich nur dann, wenn sie selbst sprechen können: ich kenne eine alte, ebenso liebenswürdige, wie geistreiche Dame, die den ganzen Abend hindurch aus ihrem reich bewegten Leben zu erzählen versteht — kein Anderer kommt neben ihr zu Wort — und fragt man sie dann am nächsten Morgen, wie sie sich am Abend vorher unterhalten habe, so antwortet sie stets: „Das waren interessante genußreiche Stunden.”
Leute, die Nichts erlebt haben, suchen durch ihr Wissen zu glänzen. Ich habe einen Vetter, der eine geradezu unglaubliche Belesenheit besitzt und der reden kann, wie Demosthenes und Fritz Friedmann in einer Person. Fällt irgend ein Wort, das ihn interessirt, sagen wir das Wort: Pferd, so hält er bei Tisch von der Suppe bis zum Obst einen Vortrag über Pferde in Allgemeinen, über englische, irische, deutsche, dänische, russische, amerikanische und französische Gäule im Besonderen.
Und er ist felsenfest davon überzeugt, daß es auf der ganzen Welt nicht einen einzigen Menschen gibt, den die Sache nicht interessirte.
Wem die Redelust nicht gegeben ist, der wartet sehnsüchtig auf die Minute, da er sich an das Clavier setzen und die Gäste durch seine Vorträge unterhalten kann und doch gibt es nichts Schrecklicheres, als nach Tisch einem Dilettanten lauschen zu müssen, der auf das Tödtlichste beleidigt ist, wenn man sich, auch nur flüsternd, unterhält.
Das Recht, die ganze Gesellschaft zu unterhalten, nimmt er mit einiger Bescheidenheit für sich ganz allein in Anspruch.
Unterhalten wollen sie Alle. Der Eine liest seine neuesten Gedichte vor, der Andere erzählt stundenlang Anekdoten, der Dritte gibt humoristische Vorträge zum Besten, bei denen meistens das Beste, der Humor, fehlt, und der Vierte macht Kartenkunststücke.
Zu der vierten Species gehörte der Major a. D. v. Hollberg, Onkel Paul, wie er von seinen Neffen und Nichten kurzweg genannt wurde.
In seiner Jugend, als er noch ein frischer, lebenslustiger Lieutenant in einem Garde–Cavallerie–Regiment war, hatte er mit Vorliebe die Karte gebogen, — Das war lange gut gegangen, bis er nach einem enormen Spielverlust eines schönen Tages nach Hause fahren mußte, um sein „pater peccavi” zu stammeln. Es kam zu einer erregten Unterhaltung zwischen Vater und Sohn, die damit endete, daß der alte Herr sich bereit erklärte, seinen Sohn noch einmal loszueisen, wenn dieser sein Ehrenwort geben wolle, nie wieder zu spielen.
Dies geschah — aber ohne Karten konnte er nicht leben, und da er versprochen hatte, nicht mehr zu spielen, begann er, sich mit Kartenkunststücken zu unterhalten.
Im Laufe von fünfzehn Jahren hatte er es hierin zu einer solchen Virtuosität gebracht, daß er es ruhig mit jedem Bellachini aufnehmen konnte.
Während er früher, als er noch im Dienst war, jeden Morgen und jeden Mittag seine Gäule mehrere Stunden geritten hatte, ritt er nun beständig sein Steckenpferd. Stundenlang saß er an seinem Schreibtisch und arbeitete: schlug einfache und doppelte Volten, repetirte schon Gelerntes und sann sich neue Künste aus.
Zum Schrecken der Seinen, denn was er lernte, lernte er nicht für sich, sondern für die Mitwelt. Er wollte angestaunt und bewundert werden, er war ehrgeizig, wie jener Virtuoae, der, dem Verhungern nahe, die Wahl hatte zwischen einem lukullischen Gericht und einem Lorbeerkranz und ohne sich zu besinnen den Lorbeer ergriff.
Wie andere Leute, wenn sie das Haus verlassen, sich davon überzeugen, ob sie auch Geld, Cigarren und den Hausthürschlüssel bei sich haben, so fühlte Onkel Paul erst stets in die Rocktasche, ob er auch seine Karten hatte.
So kam es, daß er bald nicht nur der Schrecken seiner Verwandten, sondern auch aller seiner Bekannten war: selbst gebackene Seezunge mit Krabbenragout — nach meiner Meinung das Schönste, was es auf Erden gibt — kann man nicht ewig genießen, geschweige denn Kartenkunststücke.
Und Onkel Paul setzte bei seinen Mitmenschen eine Fähigkeit zum Genießen voraus, die geradezu classisch war.
Stundenlang langweilte er den Stammtisch mit seinen Künsten, und wenn der Eine oder der Andere, denen der arme Major schließlich Leid that, weil Niemand ihm zusah, ein „Bravo, wirklich sehr hübsch, Herr Major!” sagte, so strahlte sein Gesicht, und er gab immer noch ein Kunststück nach dem anderen zum Besten.
Das Schlimmste aber war, wenn ein Neuling in der Gesellschaft sich zu der Frage hinreißen ließ: „Aber wie machen Sie Das nur, Herr Major, Das ist ja ganz fabelhaft.”
„Aber ich bitte Sie,” erwiderte Onkel Paul dann, auf das Höchste geschmeichelt, „die Sache ist ja so einfach. Sehen Sie nur auf meine Finger — Geschwindigkeit ist ja keine Hexerei, und ein Elephant ist kein lenkbarer Luftballon, sehen Sie, so — so — so — ”
Und Das „so—te” sich was zurecht, wie in einem „So—olbad”.
Was hatte man nicht Alles versucht, um den alten Major zu bessern und zu bekehren — aber gegen seine Künste schien eben so wenig wie gegen den Tod ein Kraut gewachsen zu sein.
Da geschah es eines Abends, daß ein junger Student, der zum Besuch für einige Zeit in der kleinen Stadt weilte, mit seinem Vater zusammen am Stammtisch erschien. Herzlich wurde er von den Herren begrüßt — aber Niemand freute sich so über den neuen Zuwachs, wie der alte Major, er war glücklich, einen Menschen gefunden zu haben, dem er alle seine Kunststücke vormachen konnte.
Der junge Student schien schon darauf vorbereitet zu sein, denn als der Herr Major plötzlich die Karten aus der Tasche zog, sagte er: „Ich habe schon von meinem Vater gehört, der Herr Major sind ein phänomenaler Künstler!”
Onkel Paul lächelte geschmeichelt: „Wenn es Sie vielleicht interessirt —”
„Aber gewiß, sehr!”
Und nun fing Onkel Paulm an, seine Künste zu zeigen. „Passen Sie genau auf — so — Geschwindigkeit ist keine Hexerei und 'ne Petroleumlampe ist kein Schaukelpferd! Haben Sie gesehen?”
Der junge Studen sah sehr genau zu, aber merkwürdiger Weise zeigte er nicht ein einziges Mal die geringste Ueberraschung.
Onkel Paul erhitzte sich über diese Gleichgültigkeit — nun spielte er seinen Haupttrumpf aus: „Sehen Sie, so — eine doppelte Volte — Geschwindigkeit ist keine Hexerei und ein Lama ist kein Federwischer — sehen Sie so,”
Der Herr Major hatte sein reichhaltiges Repertoir erschöpft, er war warm geworden, der Schweiß stand ihm auf der Stirn, aber sein Gegenüber war kalt geblieben bis ans Herz hinan.
Am liebsten hätte Onkel Paul sein vis–à–vis gelyncht.
Plötzlich griff der junge Student in die eine Tasche seines Rockes und holte ein Spiel Karten hervor. „Herr Major, dürfte ich mir nun vielleicht erlauben, Ihnen ein kleines Kunststück vorzumachen?”
Onkel Paul's Gesicht nahm einen väterlich wohlwollenden Ausdruck an: „Wenn es Ihnen Vergnügen macht und wenn Sie glauben, etwas Neues zu haben.”
Inzwischen hatte der Student die Karten gemischt und hielt das Spiel, fächerartig ausgebreitet, dem Herrn Major hin: „Ich bitte Sie, eine Karte zu ziehen, dieselbe sich genau anzusehen und dann wieder einzustecken.”
Onkel Paul lachte laut auf: „Und dann ist es hinterher die einundzwanzigste Karte, junger Mann, das Kunststück kannte Adam schon.”
Aber der Student blieb ganz ernsthaft: „So einfach, wie Sie meinen, ist das Spiel denn doch nicht — Sie werden ja gleich sehen — bitte, ziehen Sie eine Karte.”
Onkel Paul that, wie ihm geheißen, und schob dann die Karte, nachdem er sie angesehen hatte, wieder zwischen die übrigen.
Der Student schob die Karten wieder zusammen und mischte dann das Spiel — langsam und bedächtig.
„So,” sagte er, „nun wird es wohl genug sein. Und jetzt, Herr Major, bitte, bestimmen Sie selbst wie viel Haufen ich machen soll?”
„Vier.”
„Schön. Hier liegen vier Haufen — eins — zwei — drei — vier. In welchem dieser vier Haufen soll nun Ihre Karte liegen?”
„Im zweiten.”
„Sehr wohl — also hier, dieser zweite Haufen soll Ihre Karte enthalten, und die wievielte von oben soll sie sein?”
„Die dritte.”
„Gut, die dritte.”
Der Student hob die dritte Karte ab und hielt sie seinem Gegenüber hin: „Haben der Herr Major sich vielleicht diese gemerkt? War es Treff-Sieben?”
„Allerdings,” sagte Onkel Paul mit einem sehr langen, verdutzten Gesicht, während gleichzeitig die übrigen Herren des Stammtisches ein lautes Bravo riefen.
Ruhig schob der Student die Karten zusammen und legte sie vor sich hin.
„Nun, Herr Major, können Sie das auch?” fragte einer der Gäste.
So ohne Weiteres wollte Onkel Paul sich nicht besiegt geben.
„Ich glaube ja.”
Er ergriff seine eigenen Karten — jeder Künstler arbeitet nur mit seinem eigenen Handwerkszeug — und versuchte das Kunststück nachzumachen, aber es mißlang vollständig.
„Aber ich bitte Sie,” lachte der Student, „die Sache ist doch so einfach — wie sagten Sie doch: Geschwindigkeit ist keine Hexerei, und ein Zebra ist keine Nähmaschine.”
Alles lachte — nur der Herr Major nicht — der war wüthend, rasend, außer sich — nicht nur, daß er heute unterlegen war, daß sein Ruhm zu sinken begann, „das Kind” wagte sogar, sich über ihn lustig zu machen.
Früher als sonst erhob er sich von seinem Platz, um nach Hause zu gehen.
„Sie wollen schon fort, Herr Major, — ach bitte, thun Sie mir den Gefallen und ziehen Sie nochmal Treff-Sieben.”
Den Kniff, daß man stets die Karte zieht, die man ziehen soll, kannte er ganz genau, darauf fiel er nicht hinein — aber als er die Karte besah, die er in der Hand hielt, war es doch Treff-Sieben.
Wieder lohnte den jungen Künstler ein lautes Bravo, und schallendes Gelächter erhob sich, als man Onkel Pauls verdutztes Gesicht sah.
„Ja, ja,” sagte Einer, „Herr Major, Geschwindigeit ist keine Hexerei, und ein Kalbscotelette ist kein Bierseidel,” aber der Herr Major hörte Nichts mehr, er hatte Hut und Mantel ergriffen und war davongestürzt.
Er war besiegt, er hatte seinen Meister gefunden, aber nicht für immer sollte er über ihn triumphiren — er mußte hinter „den Kniff” kommen: Das sollte doch mit dem Teufel zugehen, wenn er ihn nicht herausfände, natürlich würde ihm Das gelingen!
Und er wurde wieder heiter, als er an die dummen Gesichter dahcte, die am Stammtisch morgen gemacht würden, wenn er dem Studenten das Kunststück achmachte.
Bis spät in die Nacht hinein saß er an seinem „Arbeitstisch” und sann und grübelte, probirte und experimentirte, schlug einfache und doppelte Volten, rechnete und überlegte, combinirte und probirte wieder — aber er vermochte das Räthsel nicht zu lösen.
Morgen ist auch noch ein Tag, tröstete er sich — erst spät in der Nacht legte er sich nieder, aber der Schlaf floh ihn, und ruhelos warf er sich in den Kissen hin und her. Erst gegen Morgen verfiel er in einen unruhigen Schlaf, in dem die Treff-Sieben ihn beständig quälte und wie ein Alp auf ihm lag.
Nachdem er aufgestanden, Toilette gemacht und in aller Eile sein Frühstück eingenommen hatte, machte er sich erneut an die Lösung des Problems — seit Jahren geschah es zum ersten Mal, daß er seinen Spaziergang, den er, um sich Appetit zu holen, stets vor Tisch unternahm, unterließ und daß er, als das Essen aufgetragen wurde, die Speisen kaum anrührte.
Sein armer Kopf war ihm von dem vielen Nachdenken und Grübeln ganz wirr und wüst — er vermochte kaum noch einen klaren Gedanken zu fassen, aber er gab das Rennen noch nicht verloren, irgendwie mußte doch eine Lösung zu finden sein.
Die alte Haushälterin, die dem Herrn Major nun schon seit vielen Jahren den Haushalt führte, wartete am Abend vergebens, daß ihr Herr zu seinem gewohnten „Dämmerschoppen” ginge. Weder schlechtes Befinden, noch schlechtes Wetter hatten ihn bisher jemals hiervon abzuhalten vermocht.
Und heute Abend blieb er zu Haus — und nicht nur heute, sondern auch die nächsten fünf Tage.
„Ich lasse mich nicht eher wieder am Stammtisch sehen, bevor ich nicht hinter den Trick gekommen bin, die Freude soll der junge Mensch nicht haben, über mich alten Mann triumphiren zu können.”
So gelobte der Herr Major, und er donnerte und fluchte das Blaue vom Himmel herunter und fuhr seine Karten an, als wären sie seine Recruten.
Aber kein Mensch kann gegen seine Natur, und die Angewohnheit ist unsere zweite Natur, bei vielen Menschen sogar die erste.
Als der Herr Major sich am sechsten Tage im Spiegel besah, erschrak er vor seinem eigenen Bilde. Die Wangen waren fahl und blaß, und tiefe Ränder lagen unter seinen Augen.
„Ich halte dies Leben nicht mehr aus,” klagte er, „ich muß wieder hinaus in die frische Luft, ich muß wieder unter Menschen, wieder an meinen Stammtisch, selbst auf die Gefahr hin, mich für ewig zu blamiren.”
Und so erschien der denn Abends mit dem Glockenschlag sechs Uhr bei den Freunden. Auch der junge Student saß wieder am Tisch.
Onkel Paul entschuldigte sich wegen seines Fernbleibens, er habe sich ein paar Tage nicht ganz wohl gefühlt, nun sei er aber wieder der Alte.
„Und das Kartenkunststück, Herr Major,” fragte der Student lachend, „haben Sie es errathen?”
Der Herr Major fühlte bei diesen Worten ein Kribbeln und Krabbeln in allen seinen Gliedmaßen — es überlief ihn heiß und kalt.
„Lassen Sie mich um Gottes Willen mit Ihrer Treff-Sieben zufrieden,” rief er wüthend, „das Ding liegt mir im Magen.”
„Aber ich bitte Sie, Herr Major, es ist doch so einfach.”
Onkel Paul fuhr sich mit beiden Händen nervös durch die Haare: „Meinetwegen — ich aber finde die Lösung nicht, und ich glaube nicht, daß es edel und großmüthig ist, Ihr Wissen zu mißbrauchen und mich zu necken und zu foppen. Lieber sollten Sie mir, wenn die Sache denn doch so einfach ist, dieselbe erklären.”
Aber darauf wollte der Student nicht eingehen, unter keinen Bedingungen, und je mehr er widerstand, desto mehr bat der Herr Major, und je mehr er bat, desto hartnäckiger wurde der Student.
Onkel Paul versprach goldene Berge, Alles, Alles wollte er geben, was man nur immer von ihm verlangte — aber die Lösung mußte er haben, wenn er nicht verrückt werden sollte.
Da ließ sich der Student endlich erweichen. Er zog das Kartenspiel aus der Tasche und hielt es Onkel Paul hin.
„Wollen Sie, bitte, eine Karte ziehen, Herr Major?”
Es war wieder Treff-Sieben.
„Bitte, Herr Major, lassen Sie diese Karte ruhig auf dem Tisch liegen und ziehen Sie noch eine Karte.”
Es war wieder Treff-Sieben.
„Noch eine, Herr Major!”
Und jedes Mal, wenn der Herr Major seine Karte besah, war es Treff-Sieben.
„Verstehen Sie es nun, Herr Major?”
Der sah ihn fassungslos an.
„Aber Herr Major, die Sache ist doch so einfach — das ganze Kartenspiel besteht doch nur aus Treff-Sieben — und darauf sind Sie nicht gekommen? Aber Herr Major, ein so großer Kartenkünstler, wie Sie!”
Und von dieser Minute hatte der Stammtisch Ruhe vor den Kartenkunststücken des Herrn Major — hier wagte er seine Künste nicht mehr zu zeigen.
Aber wenn man gehofft hatte, ihn gründlich zu heilen, so irrte man sich. Von nun an trug er stets zwei Kartenspiele bei sich, und seine Virtuosität, Treff-Sieben ziehen zu lassen, verbreitete einen neuen Glorienschein um sein Haupt.