Eine Karlsbader Kur.

Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Rigasche Rundschau” vom 22.8.1900,
in: „Illustriertes Salonblatt”, 1.7. und 8.7.1901,
Nr. 94, S. 418-419 und Nr. 95, S. 434-435,
in: „Dortmunder Zeitung” Nr. 441 vom 31.8.1900, Nr.443 vom 1.9.1900 und Nr.445 vom 2.9.1900
in: Vielliebchen”.


Hans von Bollwitz, der älteste Oberleutnant im Husaren–Regiment Peter Franz, lag in seiner hübsch und gemütlich eingerichteten Junggesellen­wohnung seiner ganzen, nicht unbedeutenden Länge nach auf der Chaiselongue und ruhte aus von den Strapazen des anstrengenden Morgendienstes. Zwischen seinen Lippen hielt er eine gute Zigarre, in den Händen seine Berliner Zeitung, und während er las, überlegte er, ob er die Zeitung und die Zigarre fortlegen und schlafen, oder ob er doch erst das edle Kraut zu Ende rauchen solle. Er war müde, und keine noch so interessante Neuigkeit seines Blattes vermochte ihn zu fesseln.

Da fiel sein Blick auf eine jener Reklamenotizen, wie sie die Bäder von Zeit zu Zeit an die Zeitungen zu versenden pflegen, und er las: „Karlsbad. Die Zahl der hier anwesenden Kurgäste hat mit dem gestrigen Tage bereits das vierzehnte Tausend überschritten. Unter den zuletzt eingetroffenen Gästen befinden sich u.a. General a. D. von Traugott, Exzellenz, nebst Fräulein Tochter.”

Mit einemmale war seine Müdigkeit verflogen, mit einem Satz sprang er in die Höhe und ging mit erregten Schritten in seinem Zimmer auf und ab.

„Enlich,” dachte er, „endlich einmal wieder ein Lebenszeichen von ihr.”

Wie oft hatte er an sie gedacht seit dem Tage, da er sie in Sylt kennen gelernt hatte. Durch einen Zufall war er, da sie gemeinsam in demselben Hotel wohnten, bei der Mittagstafel ihr Nachbar geworden. Auch sonst war er einigemale mit ihr zusammen gewesen, aber zu einer näheren, intimen Bekanntschaft war es nicht gekommen, denn unvermutet hatte ein Telegramm ihren Vater zur Abreise gezwungen. Das hatte er erst erfahren, als er sich eines Mittags bei dem Oberkellner erkundigte, warum Exzellenz mit seiner Tochter nicht mehr an der gemeinsamen Mahlzeit teilnähmen. Nur schwer hatte er seinen Aerger und Verdruß, als er diese Nachricht erhielt, unterdrückt, er wußte nicht, woran es lag, aber mit einemmale war ihm Sylt verleidet gewesen. Kurz entschlossen hatte er seinen Koffer gepackt und war zu Verwandten auf das Land gereist, um dort den Rest seines Urlaubs zu verbringen.

Vergebens hatte er seitdem gehofft, der Exzellenz und deren Tochter einmal wieder zu begegnen, aber er sah und hörte nichts wieder von ihnen, und nun, nach Jahresfrist, las er, daß sie sich in Karlsbad befänden.

Darüber, daß er eine neue Begegnung herbeiführen wolle, darüber war er sich sofort klar. Von der kleinen süddeutschen Garnison aus war Karlsbad in wenigen Stunden zu erreichen. Er nahm das Kursbuch zur Hand und studierte eifrigst die Eisenbahn­verbindung; richtig, es war, wie er es sich gedacht hatte, mit dem Schnellzug konnte er in etwas mehr als drei Stunden dort sein.

„Ich nehme mir für Sonnabend Nachmittag und Sonntag Urlaub und fahre hinüber,” war sein erster Gedanke, aber eben so schnell, wie er ihn gefaßt hatte, verwarf er ihn wieder. Eine so kurze Begegnung war vollständig zwecklos, die gegenseitige Bekanntschaft war viel zu kurz, als daß ein so flüchtiges Zusammentreffen auch nur die leisesten Veränderung hätte herbeiführen können. Wollte er mit der jungen Dame näher bekannt werden, so gab es nur Eins, er mußte sich einen längeren Urlaub nehmen und diesen in Karlsbad verbringen.

Aber wie sollte er jetzt fortkommen? Zwar gehörte sein Oberst zu jenen seltenen Menschen, die über den Urlaub ihrer Untergebenen sehr verständige Ansichten haben und den Standpunkt vertreten, daß bei dem anstrengenden Dienst heutzutage auch eine Erholung für jedermann nötig sei; aber selbst diese Auffassung konnte ihm in diesem Augenblick nichts nutzen. Die wichtigste Ausbildungsperiode, das Schwadrons–Exerzieren, hatte erst vor einigen Tagen begonnen, in etwa drei Wochen werden die hohen und höchsten Vorgesetzten zur Besichtigung kommen, bis dahin gab es noch viel, sehr viel zu thun, wie war da auch nur an Urlaub zu denken?

„Ich muß warten, bis diese dumme Besichtigung, die der Teufel erfunden hat, als er einmal schlechter Laune war, vorüber ist,” brummte er schließlich ingrimmig vor sich hin, „es ist wahrhaftig 'ne Thränenwelt, und die wenigsten Menschen sterben davon, daß sie sich totgelacht haben. Das ist nun einmal wieder eine glänzende Lichtseite unseres viel beneideten Leutnantsstandes, daß man nicht einmal auf Reisen gehen kann, wenn man will. Schiller war ein verständiger Mensch, das hat noch nie einer bestritten, aber das wahrste Wort, das er je ausgesprochen hat, ist das, wo er sagt: „Die Freiheit ist kein leerer Wahn.” Das unterschreib' ich doppelt und dreifach. Doch damit ist mir jetzt nicht gedient, es hilft alles nichts, ich muß warten, aber leider gehöre ich nicht zu jenen Leuten, die da sagen: ich kann warten. Was dann, wenn der alte General eines Tages, während ich mich auf dem Exerzierplatz vergebens bemühe, die Zufriedenheit meines Rittmeisters zu finden, wieder seinen Koffer packt und hinausfährt in die weite Welt, Gott weiß wohin? Was dann? Dann sitze ich da mit meinen Kenntnissen, die ich mir auf der Schulbank sauer erwarb, und mit einem mehr als dummen Gesicht. Dann muß ich wieder warten, bis der Zufall die Beiden von neuem wieder in meine Nähe führt, und wer weiß, ob es dann nicht zu spät ist. Nein, entweder jetzt oder nie, ein Drittes giebt es nicht, und deshalb reise ich jetzt. Wenn ich nur wüßte, wie ich fortkommen sollte?”

Aergerlich schlug er mit der Faust auf den Tisch, nun war er glücklich wieder bei dem Ausgangspunkt seiner Ueberlegungen angekommen und war so klug als wie zuvor. Er schlug sich mit der Hand an die Stirn: „Hans, Du bist doch sonst nicht so dumm,” sprach er vor sich hin, „es giebt sogar Leute, die behaupten allen Ernstes, Du wärest, wenn es darauf ankäme, sogar ein ganz gerissener Junge. Nun mach Deinem Ruf einmal Ehre, nun zeig einmal, was Du kannst. Hic Rhodus, hic salta, nun spring einmal hinweg über die Hindernisse, die sich Dir in den Weg stellen.”

Aber anstatt zu springen, warf er sich in ein bequemes Fauteuil und starrte vor sich hin, der Ausdruck seines Gesichtes war weder besonders geistreich noch glücklich; doch mit einemmale huschte ein leises Lächeln über seine Züge, und gleich darauf lachte nicht nur der Mund, sondern auch die hellen blauen Augen leuchteten freudig auf. Er machte plötzlich den Eindruck eines Menschen, der mit sich und der Welt sehr zufrieden ist.

Wohl eine halbe Stunde saß er so stillvergnügt vor sich hinlächelnd da, dann erhob er sich von seinem Stuhl und klingelte nach seinem Burschen. Gleich darauf trat dieser in das Zimmer.

„Pferde in Ordnung, Peter?” fragte Bollwitz, „ordentlich abgerieben? Ja? Kann ich mich darauf verlassen? Um so besser für Dich, denn Du weißt, ich habe hoch und heilig geschworen, Dir beide Ohren abzuschneiden, wenn ich noch einmal solche Bummelei im Stalle finde, wie neulich, als der „Urban” zu kurz gehalftert war. Wie ist es? Habe ich Dienst heute Nachmittag?”

„Nein, Herr Leutnant,” gab Peter grinsend zur Antwort. Er freute sich, so oft sein Herr davon sprach, ihm die Ohren abzuschneiden, und lachte immer von neuem über diesen Witz, wie er die Bemerkung seines Leutnants nannte.

„Um so besser,” gab Bollwitz zur Antwort, „hilf mir bei dem Ausziehen, ich will zu Bett gehen, ich fühle mich nicht ganz wohl, ich will versuchen, etwas zu schlafen. Du wirst nachher, so etwa in einer Stunde zu dem Oberstabsarzt Dr. Richter gehen, ihm einen schönen Gruß von mir bestellen und ihn bitten, im Laufe des heutigen Nachmittags doch einmal bei mir vorkommen zu wollen. Hast Du das mit Deinem Unterthanenverstand, der durch Deinen beständigen Umgang mit den Pferden auch nicht besser wird, begriffen, oder soll ich Dir die Geschichte noch einmal erzählen?”

„Nein, Herr Leutnant,” erwiderte Peter, „ich weiß Bescheid,” und thatsächlich entledigte er sich seines Auftrages zur Zufriedenheit seines Herrn: ungefähr drei Stunden später stand der Oberstabsarzt Dr. Richter neben dem Bett des Herrn von Bollwitz.

„Was machen Sie denn für Geschichten?” redete er den jungen Offizier an, „Sie werden doch nicht krank? Noch dazu bei diesem schönen Wetter? Was fehlt Ihnen denn, wenn ich fragen darf?”

Bollwitz machte ein leidendes Gesicht: „Ich muß mir einen neuen Magen kaufen, Herr Oberstabsarzt, der alte taugt nichts mehr, und seine Funktionen lassen mehr zu wünschen übrig als meine Kenntnisse bei dem Schwadrons–Exerzieren. Fragen Sie meinen Rittmeister, was das zu bedeuten hat.”

Die Züge des Oberstabsarztes nehmen einen sehr ernsten Ausdruck an; er war ein guter, lieber Mensch, doch keine Leuchte der Wissenschaft, vor allen Dingen aber war er entsetzlich ängstlich. Sobald sich ein Husar an den berühmten, meistens gar nicht existierenden Stichen in der Brust krank meldete, schickte er den Mann wenigstens auf acht Tage zur Beobachtung in das Lazarett, anstatt ihm eine gehörige Dosis Rhizinus einzugeben und ihm damit seine eingebildeten Leiden zu vertreiben.

„Hm, hm,” machte der Oberstabsarzt nachdenklich, „mit dem Magen ist nicht zu scherzen, er ist eins unserer wichtigsten Organe, und ihn völlig intakt zu erhalten, muß unser eifrigstes Bestreben sein. Zeigen Sie mir bitte einmal Ihre Zunge.”

Aufmerksam betrachtete der Arzt sie und sagte dann: „Stark belegt ist sie nun gerade nicht, das kann man nicht behaupten; aber das ist keineswegs maßgebend, Sie können trotzdem mit Ihrem Magen sehr in Unordnung sein. Wie äußern sich Ihre Beschwerden?”

Das wußte Bollwitz nun selbst nicht; trotzdem phantasierte er eine lange Leidensgeschichte, wie sie nach seiner Meinung gar nicht gräßlicher sein konnte, zusammen.

„Hm, hm,” sagte der Oberstabsarzt endlich, „alles, was Sie mir schildern, zeugt gerade nicht davon, daß Ihr Leiden sehr ernsthaft ist, aber es kann sehr bös werden, wenn Sie nicht bei Zeiten etwas Energisches dagegen thun. Je eher, desto besser, je länger man eine Krankheit verschleppt, desto schwerer ist es hinterher, sie zu heilen. Wenn sie gestatten, möchte ich Sie wohl untersuchen.”

Dies geschah, dann sagte der Oberstabsarzt: „Es ist, wie ich vermutete, das Leiden ist erst im Werden begriffen, aber Vorsicht ist in mehr als einer Hinsicht geboten. Sie müssen eine energische Kur durchmachen, Karlsbader trinken und gehörig diät leben.”

„Brrr,” machte Bollwitz mit gekünsteltem Entsetzen, obgleich er in der Freude seines Herzens am liebsten Hurrah gerufen hätte, „entsetzlicher Gedanke.”

„Die heilsamste Medizin ist die bitterste,” gab der Arzt zur Antwort, „das läßt sich nun einmal nicht ändern. Ich halte eine Kur in Karlsbad für unbedingt nötig, und je eher Sie abreisen, desto besser ist es.”

„Ich bekomme ja keinen Urlaub,” erwiderte Bollwitz, „jetzt in der hildesten(1) Zeit —”

„Das lassen Sie meine Sorge sein,” unterbrach ihn der Oberstabsarzt, „ich werde mit dem Herrn Oberst sprechen und einen Bericht über Ihre Krankheit erstatten, daß er Ihnen Urlaub geben muß, dafür bin ich der Arzt, und wenn ich eine Badereise für nötig halte, so hat der Herr Oberst sich gefälligst meiner Ansicht anzuschließen.”

„Im Prinzip hast Du ja mit Deiner Behauptung recht,” dachte Bollwitz, „aber darauf, ob Du auch in diesem besonderen Falle Recht behältst, bin ich denn doch begierig.”

Er wußte, daß der Oberst nicht allzu viel Wert auf die ärztlichen Atteste seines Oberstabsarztes legte, aber diesesmal mußte der Arzt schwärzer als schwarz gemalt haben, denn schon am nächsten Mittag ließ ihm der Oberst sagen, er könne ruhig abreisen und brauche die Einwilligung der Brigade, die sicher nicht ausbleiben würde, nicht abzuwarten.

Das ließ Bollwitz sich nicht zweimal sagen, und schon am Abend desselben Tages fuhr er ab. Als er, seine Zigarre rauchend, im Kupee saß, hatte er eigentlich das, was man ein schlechtes Gewissen nennt. Ganz recht hatte er nach seiner Meinung nicht gehandelt, aber schließlich trug der Oberstabsarzt die Verantwortung dafür, daß er jetzt in der Eisenbahn fuhr. Wenn der Arzt die ersten Symptome einer Krankheit festgestellt hatte, so mußten diese doch vorhanden sein, und schließlich sind wohl die wenigsten Magen so gesund, daß sie nicht noch gesünder sein könnten. So machte er sich denn schnell von seinen Gewissensbissen frei und überließ sich ganz jenen angenehmen Gefühlen, die jeden, auch den diensteifrigsten Leutnant überkommen, wenn er sechs Wochen auf Urlaub fährt. Denn darüber sind sich die meisten Leute einig, daß der Dienst eine unangenehme Unterbrechung der freien Zeit ist.

Nach kaum vier Stunden langte er in Karlsbad an und nahm im Hotel Pupp Wohnung. Zwar standen die dortigen Preise nicht gerade im richtigen Verhältnis zu den Barmitteln, die er bei sich trug, aber er tröstete sich damit, daß das Geldschiff nicht ausbleiben werde. In erster Linie hatte er seinen alten Herrn, seinen Vater, gebeten, ihn durch einen nicht unbedeutenden Extrazuschuß zu erfreuen, und dann hatte er den Offiziers­unterstützungs­fond seines Regiments und den des General­kommandos ersucht, ihm einen möglichst hohen Beitrag zur Bestreitung der Kurkosten gewähren zu wollen — er konnte sicher sein, daß beide Gesuche bewilligt, und daß auch der Vater ihn nicht im Stich lassen würde. Wozu hatte der alte Herr denn so viel Geld und nur einen einzigen Sohn?

Als erstes ließ er sich im Hotel die Fremdenliste zeigen, aber seine Hoffnung, mit der Exzellenz und der ihn weit mehr interessierenden „exzellenten” Tochter zusammen zu wohnen, erfüllte sich nicht. Als er sich am nächsten Tage die offizielle Kurliste geben ließ, stellte er fest, daß die Herrschaften in der Parkstraße in einem Privathause Wohnung genommen hatten. Das ärgerte ihn, einmal weil sie gerade am entgegengesetzten Ende der Stadt wohnten, dannn aber auch, weil ihm dadurch die Möglichkeit genommen wurde, bei den Mahlzeiten mit ihnen zusammen zu treffen.

Um so größer war seine Freude, als der Abend desselben Tages sie dennoch zusammenführte. In dem großen Garten des Restaurants Pupp war Konzert. Er saß auf der Veranda und schaute auf die zahlreiche, elegant gekleidete Menschenmenge, die nach den Klängen der Zigeunermusik auf den Wegen, die durch zahlreiche bunte Lampions erleuchtet waren, auf und ab promenierte. Ein Gemisch aller nur möglichen Sprachen schlug an sein Ohr, denn Karlsbad ist international wie kaum ein anderes Bad. Mögen die verschiedenen Länder auch noch so verschieden sein und mögen sich ihre Bewohner durch Sitten und Gebräuche noch so sehr unterscheiden, in einer Hinsicht gleichen sie sich doch: sie leben nicht so, wie sie es vor ihrem Magen verantworten können, und Karlsbad ist dann für alle der Zufluchtsort.

Bollwitz war nur wenig gereist, außer einigen Exerzierplätzen und verschiedenen Manövergegenden hatte er bisher nur wenig von der Welt gesehen, und das Leben und Treiben, das sich hier jetzt vor seinen Augen abspielte, fesselte ihn so, daß er seinen Blick nicht eine Minute von dem Schauspiel, das sich ihm bot, abwendete.

„Gestatten Sie, mein Herr, sind diese beiden Stühle vielleicht frei?”

Er wandte sich um: vor ihm stand Exzellenz von Traugott nebst seiner Tochter.

Für einen Augenblick lähmte ihn die freudige Ueberraschung, dann aber sprang er in die Höh: „Selbstverständlich, Exzellenz, selbstverständlich!” und als er das etwas erstaunte Gesicht des Generals bemerkte, fuhr er fort: „Darf ich hoffen, daß die Herrschaften sich meiner noch entsinnen? Ich hatte im vorigen Jahre auf Sylt die Ehre, mit Ihnen bekannt zu werden, mein Name ist von Bollwitz, Leutnant im Husaren–Regiment Peter Franz.”

„Richtig, richtig, nun entsinne ich mich.”(2)

Der General reichte dem jungen Offizier die Hand, und auch das junge Mädchen begrüßte ihn freundlich. Bildete Bollwitz es sich nur ein, oder war sie wirklich ein klein wenig verlegen, als sie ihm die Hand darbot?

Er schob ihnen die Stühle zurecht, und gleich darauf saß man zusammen und plauderte. Der General, eine hohe, stattliche, militärische Erscheinung, verhielt sich etwas schweigsam, umso lustiger und fröhlicher dagegen war Edith von Traugott.

Man kann in einem Bad sich über die heterogensten Dinge unterhalten: wie ein roter Faden zieht sich durch jedes Gespräch das Thema der Krankheit, der wirklichen oder der eingebildeten. Darauf kommt man immer zurück, einerlei, ob man vorhin von Wagner oder von der Telegraphie ohne Draht, oder von den entsetzlichen Vorgängen in China sprach, und so fragte Fräulein von Traugott denn jetzt ganz plötzlich: „Sind Sie auch zur Kur hier, Herr Leutnant?”

Bellwitz wurde etwas verlegen, er wußte, daß er so gesund aussah, wie nur immer ein Offizier, dem es auf der Welt sehr gut geht, wohl aussehen kann. So zögerte er denn einen Augenblick, dann aber sagte er: „Allerdings, gnädiges Fräulein, ich bin nicht freiwillig hierher gekommen, sondern „a. B.”, wie wir Soldaten zu sagen pflegen, „auf Befehl”. Unser Oberstabsarzt hat mich hierher kommandiert, er fand, daß mein Magen einer gründlichen Renovierung bedürfe.”

„Was? So jung und schon einen Magen?” knurrta da der alte General etwas verächtlich, „als ich in Ihrem Alter war, hatte ich überhaupt keinen Magen, oder richtiger gesagt,” verbesserte er sich, „da merkte ich gar nicht, daß ich einen besaß. Aber die heutige Jugend ist verweichlicht, allerdings lebt sie auch wie toll darauf los im Kasino.”

„Aber Papa,” suchte Edith ihren Vater darauf aufmerksam zu machen, daß seine Worte wenig freundlich waren, und auch Bollwitz, dem es darauf ankam, in einem möglichst soliden Licht zu erscheinen, verteidigte sich.

„Das Kasino ist weniger an meinem Leiden schuld,” entgegnete er, „als der königliche Dienst. Ich habe im vorigen Manöver einmal bei strömendstem Regen ohne Paletot eine Nacht auf Feldwache zubringen müssen, von diesem Tage an dauert meine Krankheit.”

Das war nun zwar nicht wahr, doch das schadete nach Bollwitz' Meinung auch nichts. Zu spät aber sah er ein, daß er mit seinen Worten vom Regen in die Traufe kam.

„Ich sagte es ja,” erwiderte der General, „die Jugend ist verweichlicht; eine Nacht auf Feldwache und ein bischen Regen macht sie schon krank. Wie wollen Sie da die Strapazen eines Feldzuges ertragen? Haben Sie sich einmal näher mit der Geschichte des Krieges an der Loire im Jahr 71 beschäftigt?” fragte er, „ich habe die Kampagne mitgemacht: keine Nacht weniger als zehn Grad Kälte, nichts zu essen, nichts zu trinken. Im Freien, draußen im Schnee lagen wir. Feuer durften wir nicht anmachen, um die Aufmerksamkeit des Feindes nicht zu erregen. Das ging zehn Tage so, aber davon krank werden? Das gab es nicht. In diesem Jahre habe ich zum erstenmale etwas von meinem Magen verspürt, und das auch nur, weil ich im letzten Winter ein Uebermaß von gesellschaftlichen Verpflichtungen zu ertragen hatte: ich habe zu viel Hummer essen müssen.”

Bollwitz ärgerte sich über die Worte des Generals, die eine gewisse Geringschätzung ausdrückten, aber er durfte seinen Verdruß nicht zeigen und freute sich nun, über die letzte Bemerkung des Generals lachen zu können. Trotzdem aber merkte Edith, wie er im Stillen dachte, und fragte, um ihren Vater zu verhindern, noch weiter gegen die verweichlichte und moderne Jugend zu sprechen: „Sind Sie schon längere Zeit hier, Herr Leutnant? Welchen Brunnen trinken Sie?”

„Gar keinen,” wollte er der Wahrheit gemäß antworten, aber das ging nicht, er war ja krank. Wie hieß doch nur das Zeug, das sein Oberstabsarzt für ihn als das zweckmäßigste erklärt hatte? Es klang ungefähr wie Markobrunner, richtig, nun wußte er es, und stolz gab er zur Antwort: „Marktbrunnen, gnädiges Fräulein.”

„Den trink ich ja auch,” gab sie heiter zur Antwort, „da wundert es mich, daß wir uns nicht schon am Morgen getroffen haben.”

„Ich habe erst heute mit der Kur begonnen,” log er, „ich habe sie leider nicht gesehen, gnädiges Fräulein, hoffentlich ist mir das Glück in Zukunft holder. Darf ich wissen, zu welcher Stunde Sie zum Brunnen gehen?”

„Regelmäßig um sieben Uhr,” erwiderte sie, „Papa trinkt dann seinen Sprudel, dann macht jeder für sich seinen Spaziergnag und um neun Uhr treffen wir hier bei Pupp zum Kaffee zusammen.”

„Schön, ausgezeichnet,” dachte Bollwitz, „aber daß der alte General schon morgens um sieben Uhr zu kneipen beginnt, ist eine geradezu wahnsinnige Idee, da zwingt er mich, auch schon aufzustehen, bevor die Hähne daran denken, daß es ihre Pflicht und Schuldigkeit ist, zu krähen. Und ich hatte mich so darauf gefreut, während meines Urlaubs ordentlich ausschlafen zu können — nun ist es damit wieder nichts,” laut aber sagte er, „Das trifft sich ja ganz ausgezeichnet, gnädiges Fräulein, auch ich bin ein leidenschaftlicher Frühaufsteher, gestatten Sie mir, das edle Naß in Ihrer Gesellschaft zu trinken?”

„Aber selbstverständlich,” entgegnete sie, „wir haben hier bisher noch gar keine Bekannten getroffen, und ich freue mich darauf, mit Ihnen plaudern zu können.”

Wenig später trennte man sich, denn der General, der es mit seiner Kur sehr gewissenhaft nahm, legte sich früh schlafen.

Bollwitz und Edith trennten sich mit einem „Auf Wiedersehen morgen früh”, und als Edith am nächsten Tage am Brunnen erschien, erwartete er sie bereits; über der Schulter trug er an einem Lederriemen das Glas, das er sich vor wenigen Minuten gekauft hatte.

Sie begrüßten sich freundlich und bildeten dann Kette, bis endlich das Brunnenmädchen ihre Becher füllte.

Mißtrauisch betrachtete er das Wasser in seinem Glas. „Wie schmeckt es denn, gnädiges Fräulein?” fragte er.

„Ich denke, Sie haben es gestern schon probiert?” sagte sie verwundert.

Herr Gott, das hatte er ja ganz vergessen.

„Das wohl,” gab er ausweichend zur Antwort, „aber ich hatte im Stillen die Hoffnung, daß das Wasser über Nacht einen anderen und vor allen Dingen besseren Geschmack angenommen habe.”

Er setzte den Becher an die Lippen und leerte ihn auf einen Zug. „Brrr,” schüttelte er sich, „ich glaube, der Inhalt des berühmten Schierlingsbechers, den der alte Sokrates kurz vor seinem Tode leerte, hat besser geschmeckt.”

Sie lachte belustigt, dann meinte sie: „Warum trinken Sie auch so schnell?”

„Je eher davon, desto besser,” meinte er, „nun habe ich aber für heute genug.”

Sie widersprach: „Drei Becher müssen Sie in Pausen von zehn Minuten trinken, sonst kann Ihnen die Kur nichts nützen, hat Ihr Arzt Ihnen das nicht auch gesagt?”

„Ich kuriere mich selbst,” gab er zur Antwort, „soviel aber weiß ich, wenn ich drei Becher von diesem Wasser trinke, bin ich heute Mittag, wenn auch nicht gerade eine tote, so doch ganz sicher eine lebendige Leiche.”

Aber trotzdem trank er drei Gläser, heute und an jedem der folgenden Tage. Edith wollte es so: „Hier muß einer auf den andern aufpassen,” sagte sie, „und man muß sich gegenseitig anhalten, seine Kur ernst und gewissenhaft zu nehmen. Zum Vergnügen trinkt man doch keinen Brunnen.”

Er that, was sie wollte, und auf ihren Wunsch hin ging er sogar zum Arzt. Der erklärte ihn für dreiviertel kerngesund und begriff nicht, wie sein Oberstabsarzt ihn habe hierher schicken können. „Schaden kann Ihnen der Marktbrunnen ja schließlich nicht,” sagte er endlich, „wenn es Ihnen Spaß macht, trinken Sie ihn nur weiter.”

Und Bollwitz trank weiter mit dem Heldenmut der Verzweiflung; hätte Edith nicht so scharf aufgepaßt, so hätte er den Inhalt des Bechers am liebsten regelmäßig fortgegossen.

Heden Morgen trafen sie sich am Brunnen, promenierten nach den Klängen der Kurkapelle auf und ab und machten, sobald sie den dritten Becher getrunken hatten, gemeinsam einen weiten Spaziergang in den schönen Wald. Der General begleitete sie nie, der liebte es nicht, bei dem Gehen zu sprechen, und wanderte deshalb stets ganz allein in der Umgegend herum. Bei dem Kaffee traf man erst zusammen. An Anfang hatte Bollwitz, um nicht aufdringlich zu erscheinen, Vater und Tochter einigemale allein frühstücken lassen, und erst als Edith ihm ausdrücklich erklärt hatte, daß er nicht im geringsten störe, nahm er regelmäßig an dem ersten Frühstück teil. Und er sah, daß er wirklich nicht störte, denn der General las seine „Kreuzzeitung” und nahm von ihm so gut wie gar keine Notiz. Auch im Laufe des Tages traf er häufig mit Edith zusammen, und gemeinsam verbrachten die Drei oft den Abend bei einem Konzert. Auch dort beteiligte sich der General nur mit einigen Worten an der Unterhaltung.

„Wundern Sie sich nicht darüber,” sagte Edith einmal zu ihm, „und legen Sie meinem Vater sein kurzes, oft schroffes Wesen nicht falsch aus. Nichts liegt ihm ferner, als unfreundlich sein zu wollen, er ist der beste Mensch, den es giebt. Früher war er lustig und heiter, aber seitdem er den Abschied bekommen hat, ist er gar nicht wiederzuerkennen: seine Verabschiedung nagt und zehrt an ihm, ich glaube, es wird es nie überwinden.”

Sie sah traurig vor sich hin, und er suchte sie zu trösten. „Ich will mir kein Urteil erlauben,” sagte er, „aber wer es heut zutage bis zum General, bis zur Exzellenz gebracht hat, der hat nach meiner Meinung keine Ursache, zu klagen, der kann doch mit Stolz und Genugthuung auf seine militärische Laufbahn zurückblicken. Allerdings, der Ehrgeiz ist ja nicht bei allen gleich, ich für meinen Teil will zufrieden sein, wenn ich es bis zum Rittmeister erster Klasse bringe.”

„Und was wollen Sie dann beginnen?” fragte sie.

„Dann werde ich notleidender Agrarier,” versetzte er lustig, „mein Vater ist in Ostpreußen stark begütert, mein Großvater war weise genug, den Besitz in ein großes Fideikommiß umzuwandeln, und da ich das einzige Kind meiner Eltern bin, fällt mir der ganze Besitz zu.”

„Sie Glücklicher,” erwiderte sie, „nicht jeder hat es so gut wie sie.”

Er stimmte ihr bei: „Sie haben recht, gnädiges Fräulein, ich gehöre zu jenen Menschen, denen es auf der Welt wirklich unverschämt und unverdient gut geht, ganz glücklich bin ich deshalb aber doch nicht.”

„Was kann Ihnen denn noch fehlen?” fragte sie.

Er sah sie lange an, ihm war, als würde sie etwas verlegen, dann sagte er ganz ernsthaft: „Die Gesundheit fehlt mir, der Brunnen bringt mich um.”

Etwas wie Enttäuschung flog über ihr Gesicht, und trotzdem sie sich bemühte, zu scherzen, klang ihre Stimme doch unfreundlich, als sie sagte: „Dann trinken Sie das Wasser nicht mehr.”

Aber am nächsten Tage war sie wieder ebenso heiter und freundlich wie sonst, und sie verkehrten im alten Ton weiter mit einander. Bollwitz bemühte sich, noch liebenswürdiger zu sein als bisher, er glaubte gestern bemerkt zu haben, daß sie eine andere Antwort erwartete, daß sie auf ein freundliches Wort aus seinem Munde gerechnet habe. Er glaubte zu merken und zu wissen, daß er ihr nicht mehr ganz gleichgültig sei, daß in ihrem Herzen ein Funken der Liebe glühe, die in seinem Herzen lichterloh brannte.

Das aber, was er ihr zur Antwort gegeben hatte, entsprach der Wahrheit, es ging ihm gesundheitlich nicht gut, der Brunnen bekam ihm nicht, aber er trank ihn dennoch, um ein Zusammentreffen mit Edith herbeizuführen.

Eines Morgens aber erschrak sie förmlich über sein Aussehen.

„Wollen wir heute lieber nicht spazieren gehen?” fragte sie, „vielleicht ist es für Sie zu anstrengend?”

„Keineswegs,” erwiderte er, „die Promenade wird mir gut thun,” und wenig später schritten sie den einsamen Waldweg entlang, den sie „entdeckt” zu haben behaupteten, und auf dem sie nur wenig Fußgängern begegneten.

Natürlich drehte sich das Gespräch um seine Krankheit.

„Vielleicht sollten Sie einen anderen Brunnen trinken,” sagte sie, „was meint Ihr Arzt dazu?”

Er schwieg einen Augenblick, dann fragte er, sie von der Seite ansehend, während ein leises Rot der Verlegenheit sein jugendfrisches, männliches Gesicht färbte: „Darf ich einmal ganz offen zu Ihnen sprechen, gnädiges Fräulein?”

Sie zeichnete im Gehen mit ihrem Sonnenschirm Linien und Striche auf den Erdboden und erwiderte, ohne ihn anzublicken: „Das kommt auf das an, was Sie sagen wollen.”

„Das klingt wenig ermunternd, gnädiges Fräulein,” erwiderte er, „aber es hilft nichts, ich muß es Ihnen einmal sagen, denn ich bringe es nicht über mein Herz, Sie weiter zu belügen. Hören Sie die Wahrheit: ich bin gar nicht krank, wenigstens bin ich nicht krank gewesen. Ich kam nach Karlsbad, weil ich aus der Zeitung wußte, daß Sie hier wären, ich trank den Brunnen, um Ihnen nicht gleich von vornherein den wahren Grund meines Hierseins zu verraten. Ich war gesund, als ich ankam, die Kur, und, gnädiges Fräulein, die Liebe, haben mich krank gemacht, denn aus Liebe zu Ihnen trank ich, aus Liebe zu Ihnen hungerte ich, wenn wir zusammen aßen, seitdem Sie mir einmal sagten: ich äße für einen Kranken viel zu viel. Aus Liebe zu Ihnen habe ich seit drei Wochen, weil Sie es mir verboten, keine Zigarre geraucht, d. h. ich will nicht von neuem lügen: abends erquickte ich mich am Genuß einer Zigarre, sonst rauche ich pro Tag wenigstens ein Dutzend. Aus Liebe zu Ihnen trank ich jeden Morgen Kaffee, obgleich ich sonst immer Thee genieße, aus Liebe zu Ihnen bin ich sogar in das Moorbad gestiegen, weil Sie mir sagten, das sei selbst für nicht–rheumatische Menschen sehr erfrischend und erquickend. Aus Liebe zu Ihnen habe ich kein Bier getrunken und keinen Champagner angesehen, weil Sie dies nicht duldeten, ich habe keine Butter gegessen, und selbst auf mein Leibgericht, die Bratkartoffeln, habe ich verzichtet. Ich habe meine ganze Lebensweise geändert, ein Kranker wird davon gesund, aber einen Gesunden macht das krank. Die Liebe zu Ihnen, Fräulein Edith, ist an allem schuld, und nun sage ich wie die alten Römer, wenn sie nichts mehr zu sagen wußten: dixi, das heißt auf deutsch: ich bin mit meinem Latein am Ende.”

Sie war stehen geblieben und sah ihn zuerst mit dem Ausdruck des höchsten Erstaunens an, dann aber senkte sie lieblich errötend den Blick, und als er nun schwieg, fragte sie, während ein leises Lächeln ihren Mund umspielte: „Wissen Sie wohl, daß Sie ein ganz schlechter Mensch sind?”

„Ich weiß es,” gab er zur Antwort, „und ich hoffe, daß Mars, der Kriegsgott, mir mein Unrecht verzeihen möge. Aber ich bin nicht nur ein schlechter, sondern auch ein kranker Mensch. Seien Sie, Fräulein Edith, wenn es Ihnen nicht gar zu schwer wird, wenn Sie glauben, es vor Ihrem Herzen verantworten zu können, auch ohne daß Sie Medizin studiert haben, die Aerztin, die mich heilt. Wollen Sie?”

Mit bittenden, flehenden Augen sah er zu ihr auf, und erfaßte ihre Hände, die sei ihm willenlos überließ.

„Ich will schon,” erwiderte sie zögernd und stockend, „aber wie soll ich es anfangen, um Sie wieder gesund zu machen?”

„Habe mich nur ein ganz klein wenig lieb, nur halb so lieb, wie ich Dich lieb habe seit dem Tage, da ich Dich auf Sylt kennen lernte.”

„Nur halb so lieb?” fragte sie mit leuchtenden Augen, „darf ich Dich nicht ebenso lieb haben?”

Da zog er sie stürmisch an sich und drückte einen Kuß auf ihre Lippen.

Seine Karlsbader Kur war beendet.


Fußnote:

(1) In der Fassung des „Salonblattes” steht hier „hildesten”, in der Buchfassung steht: „mildesten”, weil jedoch in dieser Erzählung gerade das Schwadron–Exerzieren an der Reihe ist, wäre der Ausdruck „wildesten” wohl eher der richtige. (zurück)

(2) Hier endet der erste Teil der Erzählung aus der Nr. 94 des „Illustrierten Salonblattes”. Der folgende zweite Teil erschien in der nächsten Nummer 95.(zurück)


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