Das scheue Kaninchen und die wilde Sau.

Von Freiherrn von Schlicht.
in: „Das kleine Journal” Nr. 195 vom 18.Juli 1898 und
in: Vielliebchen


Es ist große Garnisonübung.

Der Herr General hat soeben seine mit vielen Schmerzen geborene Idee ausgegeben und der Hauptmann, der den ehrenvollen Auftrag bekam, als erste Kompagnie den Vortrupp zu bilden, reitet zu seinen Leuten zurück.

„Na, meine Herren, denn hilft es nichts,” sagt er lustig zu seinen Offizieren, „ wir sind mal wieder vorne; Herr Lieutenant der Reserve Aberg, darf ich Sie bitten, jetzt sofort als scheues Kaninchen anzutreten?”

Gewohnheitsmäßig sagt der „Zu Befehl”, aber anstatt die Beine in die Hand zu nehmen, blickt er fragend von dem Einen auf den Anderen.

„Natürlich hat der Reservefritze wieder wie gewöhnlich keine Ahnung,” denkt der Hauptmann im Stillen, dann sagt er: „Bitte, Herr Lieutenant Emberg, wollen Sie das scheue Kaninchen bilden?”

„Zu Befehl, Herr Hauptmann.”

Eine Minute später tritt die Spitze an, in vorgeschriebener Entfernung folgt der Rest der Kompagnie und der Reserveoffizier marschirt neben dem aktiven Kameraden.

„Sagen Sie mir bitte,” bricht er endlich das Schweigen, „ was meinte denn der Hauptmann vorhin mit dem scheuen Kaninchen? Von einem fruchtbaren Kaninchen habe ich schon einmal gehört, aber von einem scheuen noch nie.”

Einen Augenblick denkt der aktive Kamerad nach, dann sagt er: „Lieber Freund, ich will versuchen, Ihnen die Geschichte klarzumachen — sollten Sie dabei trotz des Marschierens einschlafen, so haben Sie wohl die Liebenswürdigkeit, mich bei Zeiten davon zu benachrichtigen, damit ich nicht unnütz spreche und hinterher noch die Kraft habe, Hurrah zu rufen.

„Sehen Sie sich vor uns die Infanteriespitze an. Wie das Gesetz es befiehlt, geht der Offizier mit seinen Entfernungs­schätzern auf der Straße, die übrigen Leute rechts und links vom Wege. Die Spitze hat den ehrenvollen Auftrag, Nachrichten vom Feinde einzuziehen und uns vor einem plötzliche Ueberfall zu schützen — es wäre ja auch schade um unsere mit vielen Kosten erworbenen Bierbäuche, wenn sie plötzlich von einem aus dem Busch hervorspringenden Sioux–Indianer aufgeschlitzt würden. Die Spitze kann alle Eide der Welt darauf schwören, daß sie in der nächsten Stunde vom Feinde absolut nichts zu sehen bekommt, denn wenn wir gleich auf den Gegner stießen, wäre die Uebung mehr als thöricht — es ist genug, daß sie thöricht ist. Wie ein Dienstmädchen, das Abends zur Stadt geschickt wird, meist so viel Besorgungen hat, daß sie bei dem besten Willen nicht länger als zwei Stunden mit dem Herzgeliebten auf einer verborgenen Bank über die Liebe im Allgemeinen und über ihre Liebe im Besonderen nachdenken kann, so hat auch die Spitze, wenn sie abgeschickt wird, so viel Aufträge, daß sie sich kaum zu helfen weiß. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, möglichst ungesehen möglichst dicht an den Feind heranzukommen. Alle fünf Minuten werfen die Leute sich auf den Bauch und stecken dafür die Beine in die Luft, vorsichtig sehen sie sich um, dann geht es wieder weiter. Jede Terrainfalte, jeder Busch wird benutzt, leise, leise, auf den Fußspitzen schleichen sie vorwärts.

„Und dann ein Schuß — der Gegner hat sie gesehen! Mit Windeseile verschindet Alles in dem Chausseegraben, dort sitzen sie, das Gewehr zwischen den Knien, ängstlich aneinander­geschmiegt, Angst und Furcht spricht aus ihren Zügen. Fürchten sie die Platzpatronen des Gegners oder die nachfolgende Kritik? Quien sabe? Scheu wie die Kaninchen ducken sie sich in das Gras und Mancher, der Hunger hat, knabbert vergnügt an einem Kohlblatt, das ihm der Himmel vor seinen Mund wachsen ließ.

„Das ist das scheue Kaninchen; aber mit Windeseile verwnadelt es sich in eine wilde Sau. Man hat bei den hinteren Abtheilungen den Schuß gehört „Das Vaterland ist in Gefahr!” Das scheue Kaninchen wird gemordet werden, wenn es keine Hilfe bekommt. Im Marsch–Marsch rücken die Unterstützungen heran und eröffnen ein wahnsinniges Feuer gegen den Feind. Mit seinen Geschützen fährt der Batteriechef auf einer eigens zu diesem Zweck von der Mutter Natur erschaffenen Anhöhe auf — im sausenden Galopp jagen die Rosse einher. In unnennbarer Qual stöhnen die Leute, die auf dem Protzkasten sitzen. Wissen Sie, warum drei Leute auf diesem elenden Kasten sitzen? Nein? Ich will es Ihnen sagen: weil das Gebummse und Gestoße derartig ist, daß ein Mann allein den Schmerz nicht aushalten kann! Auch die Kerls, die neben dem Geschützrohr sitzen, verwünschen die Stunde ihrer Geburt — auf Sammetpolstern sitzt es sich weicher. Aber immer weiter geht die wilde Jagd, über Stock und Stein, über Gräben und Hecken. Jetzt ist die Position erreicht: „Protzt ab — erstes Geschütz Feuer!” Bums, geht das Geschütz los. Nicht unthätig will die Kavallerie zuschauen, mit eingelegter Lanze stürmt sie auf den Feind, voran:

„Der Kürassier, der Kürassier,
Der ist sehr dick und trinkt viel Bier.”

„Dragoner eilen zur Hilfe: „Schenkel ran, Schenkel ran, laß ihn laufen, was er kann!” ertönt das Signal, und muthig stürmen sie dahin, sie fürchten sich nicht, denn:

„Dragoner werden in der Schlacht
Wie andere Leute umgebracht.”

„Mit lautem Hurrah jagen die Husaren herbei.

„Husaren reiten wie der Wind,
Doch nur, wenn sie zu Pferde sind.”

„Immer wüthiger wird die wilde Sau: unaufhaltsam stürmt sie vorwärts. Pardon wird nicht gegeben. Wer nicht freiwillig weicht, bekommt einen wohlgezielten Fußtritt von einem Kameraden und den guten Rath: „Mach, daß Du wegkommst, und halt das Geschäft nicht auf.” Ueber das weite Feld knattern die Gewehrschüsse, donnern die Kanonen. Die Erde dröhnt von dem Stampfen der Rosse, das Signal „Seitengewehr pflanzt auf” wird geblasen, die Tambours schlagen den Sturmmarsch. „Hurrah, Hurrah” ruft Alles mit wilder Stimme und mit einem Mal verwandelt sich die wilde Sau in eine Kaffeemühle, ja wohl, lieber Freund, in eine Kaffeemühle! Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich es Ihnen sage, aber Sie scheinen mir als Offizier doch noch nicht die nöthigen Erfahrungen zu besitzen, wenn Sie sich beim Militär noch über irgend etwas wundern. Beim Souper im Chambre séparée erlebt man bekanntlich tolle Sachen, beim Kommiß aber wunderbare.

„Von dem wahnsinnigsten Hunger gepackt und getrieben von der unbezwinglichen Sehnsucht, endlich zu den Fleischtöpfen in der Kaserne zurückzukehren, wirft sich unser linker Flügel gegen den feindlichen rechten. Der weicht zurück, immer weiter und weiter:

„Rückwärts, rückwärts, Don Rodrigo,
Rückwärts, rückwärts, stolzer Cid.”

„Unaufhaltsam folgen wir dem Gegner, gleichzeitig aber greift der feindliche linke Flügel unseren rechten an. Alles Schelten ist vergebens, alles Fluchen ist umsonst — unser rechter Flügel muß zurück:

„Immer weiter, immer weiter,
Ist der Himmel noch so heiter,
Selbst auf meinen großen Zeh'n
Darf ich hier nicht länger steh'n.”

„Immer weiter dringt unser linker Flügel vor, unser rechter weicht zurück. Bei dem Feinde ist es ebenso, der geht auch mit dem linken Flügel vor und mit dem rechten zurück. Und so, lieber Freund, kommt, was kommen muß: nach einer Viertelstunde stehen wir da, wo der Feind stand und dieser hat unsere Stellung eingenommen. Natürlich greifen wir ihn von Neuem an: wieder drängt sein linker Flügel unseren rechten zurück und unser linker Flügel seinen rechten. So geht das in einem fort, wir drehen uns wie die Kaffeemühle immer rund herum.

„Das Signal „Das Ganze Halt” macht dem Gefecht und unserer Seekrankheit ein Ende, aber das dicke Ende folgt noch in Gestalt der Kritik.

„Und bei der Gelegenheit, lieber Freund, erleben Sie wieder ein Wunder. Da erfahren Sie nämlich, daß das scheue Kaninchen ein wilde Sau war und daß die wilde Sau trotz ihrer Borsten einem scheuen Kaninchen glich. Das Kaninchen war zu wild, die Sau zu zahm, und der Herr General giebt der Hoffnung Ausdruck, daß die Thiere fortan ihrem Namen Ehre machen möchten.

„Auch die Kaffeemühle entpuppt sich bei der Kritik als etwas ganz Anderes, sie verwandelt sich nämlich mit einem Mal in einen Leimtopf, und das ist so unwichtig nicht, denn die beiden Führer, die die Kaffeemühle drehten, sind geleimt, Sie können auch sagen „lackirt”, das können Sie halten wie der Pfarrer Aßmann.

„Hören Sie die Kommandos und den Klang der Trompete? Auf schäumenden Rossen jagen die Adjutanten einher, um zu melden, daß nichts zu melden ist, die Welt besteht immer noch und das Klavierspielen wird erst ein Ende nehmen, wenn die letzte Note sich keinen Strich mehr durch den Kopf machen läßt, sondern sich einen „Strich” antrinkt und auf dem Heimweg vor dem Wirtshaus in einem tiefen Graben ertrinkt. Dann ist Ruhe im Lande, nur für uns giebt es niemals Ruhe, jetzt am allerwenigsten. Was kommandirt der Hauptmann? Laufschritt? Na, denn man zu, Trab trab, Trab trab, man wird alt, Liebster, und wenn Sie gelegentlich einmal erfahren, wo billig eine neue Lunge zu kaufen ist, sagen Sie es mir. Jetzt aber Muth, das scheue Kaninchen ist todt, es lebe die wilde Sau.”


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