Der neue Hut.

Humoreske von Graf Günther Rosenhagen.
in: „Hannoverscher Courier” Nr. 19769 vom 6. Nov. 1895,
in: „Humoresken” und
in:
„Humoresken und Erinnerungen”


Meine Frau ist die personificirte Bescheidenheit. Noch nie habe ich aus ihrem Munde einen Wunsch vernommen, noch nie hat sie mich um etwas gebeten. Zuweilen war es mir wirklich unheimlich, so wenn der Geburtstag vor der Thür stand und ich mir vergebens den Kopf darüber zerbrach, was ich meiner Frau schenken könnte.

„Um Gottes Willen, so thu' mir doch die einzige Liebe und wünsche Dir etwas,” flehte ich dann, „ich weiß wirklich nicht, was ich Dir schenken soll.”

„Warum willst Du mir denn überhaupt etwas kaufen?” fragte sie dann stets zurück, „ich habe Alles, was ich brauche und noch viel mehr. Es wäre wirklich die reine Geldverschwendung, nein, laß' nur, vielleicht nach einem Vierteljahr, aber jetzt wüßte ich wirklich nicht, was ich mir wünschen sollte.”

Und sie wünschte sich wirklich nichts, aber da ich die Verpflichtung zum Schenken in mir fühlte, ging ich zur Stadt, kaufte eine Unmenge der blödsinnigsten Sachen, die weder schön noch praktisch waren, und erntete als Dank stets nur einen vorwurfsvollen Blick, der zu sagen schien: „Aber wozu dies Alles, es ist doch Alles unnütz!”

Eines Abends, es mögen ungefähr drei Wochen her sein, kehrte ich, wie täglich Abends um sechs Uhr, aus dem Geschäft zurück, aber ich wurde nicht wie sonst von meiner Frau empfangen, die stets, wenn sie meine Schritte auf der Treppe hörte, mir entgegenflog, um mir die Thür zu öffnen.

„Wo ist die gnädige Frau?” erkundigte ich mich bei dem Mädchen, das mir Hut und Stock abnahm.

„Die gnädige Frau ist im Eßzimmer,” lautete die Antwort, und ich ging, sie zu begrüßen. Ich öffnete die Stubenthür. Meine Frau saß vor dem Tisch, sie hatte den Kopf auf ihre Rechte gestützt und blickte traumvergessen vor sich hin. Sie bemerkte mich gar nicht und fuhr erschrocken zusammen, als ich sie anredete.

„Aber Kind, was hast Du denn nur?” fragte ich theilnehmend, „ist irgend ein Unglück —”

„Nein, nein,” unterbrach sie mich lebhaft, „mir fehlt nichts — was sollte mir auch wohl fehlen — komm, laß uns zu Tisch gehen, ich habe starken Hunger.”

Das Mädchen brachte die Suppe, aber trotz ihres starken Hungers aß meine Frau nichts. Sie schaute schweigend in ihren Teller hinein, als suche sie dort irgend einen verborgenen Schatz, und schien gar nicht zu bemerken, daß meine Blicke forschend auf ihr ruhten.

„Nun, schmeckt Dir die Suppe heute nicht?”

„Gewiß, ja,” bestätigte sie und führte den Löffel zum Mund, aber schon in der nächsten Secunde saß sie wieder träumend da.

„Liebes Kind,” begann ich, „sage mir, was Dein Herz bedrückt, leugne nicht, irgend ein Kummer bedrückt Dich. Nicht wie sonst hast Du mir heute die Thür geöffnet, schweigend sitzest Du mir gegenüber, anstatt wie sonst durch Deinen Humor mir meinen geschäftlichen Aerger und die vielfachen Sorgen zu verscheuchen, also leugne nicht, sondern vertraue Dich mir an.”

„Aber ich habe wirklich nichts,” betheuerte meine Frau, „was sollte auch wohl sein, das ich Dir nicht mittheilen würde?”

Aber ich ließ nicht ab, in sie zu dringen, ich stellte ihr vor, wie meine Ehe(1) nur dann eine wahrhaft glückliche sein könne, wenn Vertrauen und Aufrichtigkeit zwischen beiden Gatten herrsche. Ich sprach mit der Beredtsamkeit eines Demosthenes, und nach einer Viertelstunde hatte ich gesiegt.

„Du hast Recht mit Deinen Worten,” bestätigte meine Frau, „und nicht länger will ich Dich belügen.”

Sie schwieg, und eine flammende Röthe, der Beweis eines schuldbeladenen Gewissens, stieg in ihre Wangen.

„Nun,” bat ich, „so sprich. Was auch immer Dein Herz bewegt, bekenne es offen und frei. Also was fehlt Dir, was hast Du?”

„Ich habe —”

„Nun?”

„Einen Wunsch.”

Sie schwieg und senkte beschämt den Blick zu Boden, während ich sie wie verstiert(2) anschaute.

„Wie — wie sagtest Du doch eben?” fragte ich endlich.

„Ich — ich habe einen Wunsch — ach, sei mir doch bitte nicht böse.”

Ich sprang auf und schloß sie in meine Arme: „Ich Dir böse sein? Kind, ich bin glücklich, Dir eine Freude bereiten zu können. Also Du hast einen Wunsch, seit vier Jahren(3) zum ersten Mal, natürlich ist er Dir im Voraus gewährt! Also was wünschest Du Dir denn?

„Einen neuen Hut.”

Wieder glaubte ich nicht richtig gehört zu haben, mit Blitzeseile hatte ich im Geiste Alles durchflogen, was ein Mensch sich nur wünschen kann, aber auf einen Hut war ich gar nicht verfallen. Ich habe mich immer über die Witze in den „Fliegenden Blättern” geärgert, wo eine Frau krank wird, nur um von ihrem Gatten sich ein neues Kleid oder einen neuen Hut zu erbetteln, ich hatte so etwas stets für unmöglich gehalten. Wie kann man sich nur so etwas wünschen! Hüte gehören zum Leben wie das tägliche Brod. Wenn die Semmel aufgegessen sind, schickt man zum Bäcker und kauft sich frische, und wenn ein Hut derartig aufgetragen ist, daß man nicht mehr damit gehen kann, betritt man einen Laden und kauft sich einen neuen. Was ist dabei zu wünschen? Man wünscht sich doch nur Sachen, die dem Luxus dienen, als da sind Pferd und Wagen, Perlen und Diamanten — aber einen Hut?

„Nun, Du schweigst?” unterbrach meine Frau mein Nachdenken, „also Du bist mir doch böse?”

„Aber Kind,” entgegnete ich ihr, „wie kannst Du nur so etwas Albernes glauben. Natürlich bekommst Du einen neuen Hut; gleich morgen will ich zur Stadt gehen und Dir einen besorgen, oder solltest Du vielleicht schon selbst eine Wahl getroffen haben?”

„Allerdings,” antwortete meine Frau, „aber was mich so betrübt, ist, daß ich mit mir nicht einig werden kann.”

„Ist denn das so schwer?” fragte ich. „Man geht in den Laden und probirt so lange die Hüte durch, bis man einen gefunden hat, der weder zu groß, noch zu klein ist. Sehr vereinfacht wird die Sache dadurch, daß man sich vorher die Kopfweite messen läßt, ich habe beispielsweise 54, und wenn ich mir einen neuen Hut kaufe, sage ich nur: „Bitte, geben Sie mir einen Cylinderhut 54, und in zwei Minuten ist der Handel abgeschlossen. Größer als 43 dürfte Deine Kopfweite —”

„Ach geh doch,” schmollte sie, „Du willst mich ja doch nur necken.”

„So laß uns vernünftig reden,” entgegnete ich, „und erzähle mir, was Du Dir ausgesucht hast.”

Und nun kam die Geschichte des Hutes. Bei einer Besorgung in der Stadt war sie, was sie sonst nie that, vor einem Putzgeschäft stehen geblieben und hatte die ausgelegten Sachen gemustert. Ein Hut hatte ihre Aufmerksamkeit erregt, er war auch wirklich zu süß, er bestand aus — ach nein, er war überhaupt gar nicht zu beschreiben, und nur, um sich nach dem Preis zu erkundigen, hatte sie den Laden betreten. Die aufmerksamen Verkäuferinnen hatten kaum gemerkt, daß sie Kauflust empfinde, als sie trotz allen Widerspruchs davongestürzt waren, um sämtliche Neuheiten der Saison herbeizuholen und vor ihr auszubreiten. Fast zwei Stunden war meine Frau in dem Laden gewesen, und wenn sie geglaubt hatte, so, nun ist der Vorrath wohl erschöpft, etwas noch Schöneres, als ich soeben gesehen, ist doch wohl nicht möglich, waren wieder neue Façons herbeigeholt worden. Endlich war meine Frau fortgegangen, nachdem sie versprochen hatte, am nächsten Tag in den Vormittagsstunden wiederzukommen, und nun schwankte sie, welchen dieser vielen Hüte sie nun morgen als unbestreitbares Eigenthum mit nach Hause nehmen sollte. Sieben standen zur engeren Wahl und seit mehreren Stunden überlegt sie nun, welcher dieser sieben schönen der allerschönste wäre. Sie konnte mit sich nicht einig werden, und ich, ich sollte ihr helfen.

Und nun kam eine ganz genaue, detaillirte Beschreibung der vielen Hüte: Der eine war groß, der andere klein, der dritte noch kleiner und der vierte war einen halben Centimeter niedriger als der fünfte, während die Feder auf dem sechsten zwar nicht so groß, aber dafür schöner war als auf dem siebenten. Der eine Hut war ein Capothut, der zweite ein Filzhut, der eine war mit Perlen und der andere mit Jetbehängen, der eine war mit Spitzen und der andere mit Thieren, aber schön waren sie alle.

„Aber, Liebste, so kauf sie Dir doch alle sieben, das kann doch die Welt nicht kosten, dann hat Dein Herz doch Ruhe.”

Aber dieser Vorschlag fand keinen Beifall; sieben Hüte, was sie da wohl mit solle, außerdem waren sie ja im nächsten Frühjahr schon alle unmodern, nein, mehr als einen Hut kaufe sie sich auf keinen Fall.

Ich begab mich, nachdem die Mahlzeit beendet, in mein Zimmer, und meine Frau zog sich in ihr Boudoir zurück, um in aller Ruhe nochmals über den Hut nachzudenken und um zu einem definitiven Entschluß zu kommen. Als wir uns Abends um 9 Uhr am Theetisch wiedersahen, war meine Frau zwar etwas blaß und angegriffen, doch war sie mit sich darüber einig, daß Nr. 5 fortan ihr Haupt schmücken sollte. Aber das Unglück wollte, daß ich gänzlich ahnungslos die Frage stellte: „Hast Du den Hut schon aufprobirt? Steht er Dir gut?” Ich wollte durch diese Frage nur mein Interesse an der Sache bekunden und ahnte nicht, daß ich dadurch alle Vorsätze meiner Frau wieder über den Haufen warf. Denn Nr. 5 war ja gerade derjenige, den sie wegen Zeitmangels noch nicht aufgesetzt hatte, und unmöglich konnte sie doch einen Hut kaufen, von dem sie nicht wußte,(4) wie er ihr zu Gesicht stand, und während des ganzen Abends und während einer schlummerlosen Nacht grübelte sie beständig über die sieben Hüte.

Als ich am nächsten Abend zu der gewohnten Stunde aus dem Geschäft heimkehrte, eilte mir meine Frau freudestrahlend entgegen: „Ach, da bist Du ja endlich, wie habe ich mich nach Dir gesehnt, denke Dir, ich habe mir nun doch Nr. 3 gekauft.”

„Nun, das finde ich sehr verständig von Dir,” bemerkte ich, obgleich ich weder wußte, wie Nr. 3, noch wie die übrigen aussahen; „nach Deiner Beschreibung von gestern Abend scheint es ja wirklich ein Kunstwerk der Putzmacherei zu sein.”

Ihre Augen leuchteten freudig auf.

„Gewiß, ein Meisterwerk, paß auf, er wird auch Dir sehr gefallen.”

„So zeige ihn bitte her.”

Aber der Hut war noch nicht da, es war noch eine kleine Veränderung nöthig, in einer Stunde sollte er kommen.

Wir setzten uns zu Tisch, aber ebenso wie gestern rührte meine Frau auch heute die Speisen nicht an: sie dachte nur an ihren Hut. Die reinste, glückseligste Freude sprach aus ihren Zügen; wie ein Kind am Weihnachtsabend sich freut auf den Augenblick, wo sich endlich die bis dahin verschlossenen Thüren öffnen, so freute sie sich auf den Augenblick, wo die Hausthür aufgehen und der neue Hut erscheinen würde. Und warum soll ich es leugnen, ich freute mich mit ihr; denn es giebt doch kein größeres Glück, als einem geliebten Wesen eine Freude bereiten zu können.

So saßen wir und warteten und warteten, und jedesmal, wenn auf der Treppe Tritte hörbar wurden, fuhren wir zusammen und flüsterten: „Das ist er.” Aber unsere Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, die eine Stunde war schon lange verflossen und noch immer warteten wir auf den Hut.

Endlich, endlich klingelte es an der Thür. Wie zwei Kinder stürzten wir über den Corridor und öffneten die Etagenthür, und richtig, vor uns stand ein Riese von einem Menschen, der über seinen rechten Arm gehängt einen fast zwei Meter langen, einen halben Meter hohen und drei Meter breiten Pappkasten trug. In seiner Linken hielt er einen Brief. Der Bote händigte meiner Frau den Kasten ein, den er morgen abzuholen versprach, drückte mir die Rechnung in die Hand und veschwand, nachdem ich ihm auf einen Wink meiner Frau ein fürstliches Trinkgeld gegeben hatte. Dann wollte ich neugierig den Kasten öffnen, aber meine Frau hob abwehrend ihre Hände, nein, das wollte sie allein thun, erst wollte sie ihn aufsetzen, dann erst durfte ich den Hut bewundern. So ging ich denn in mein Zimmer zurück und öffnete die Rechnung und mir war, als ob der seit undenklichen Zeiten prophezeite Weltuntergang nun thatsächlich hereingebrochen wäre. Ich rieb mir immer und immer wieder die Augen, aber es nützte nichts, die Zahlen blieben dieselben: Ein Hut, nach Wunsch geändert, einhundertsiebenunddreißig Mark und fünfzig Pfennig!

Ich wollte zu meiner Frau gehen und ihr Vorwürfe machen, aber ich that es doch nicht. Ich wollte ihr die Freude an dem neuen Hut nicht rauben, es war ja auch meine Schuld, warum hatte ich ihr nicht vorher gesagt, daß sie eine gewisse Summe aber nicht überschreiten dürfe! Nun mußte ich den Schaden tragen.

Aber wo meine Frau nur blieb, ich war wirklich neugierig, den Hut zu sehen, das mußte ja mehr sein, als ein Meisterwerk; wo blieb sie nur? Ich wartete und wartete, da öffnete sich ihre Stubenthür; nun kommt sie — nein noch nicht.

„Ach, Hermine, helfen Sie mir doch mal,” höre ich sie das Mädchen rufen. Ich finde das sehr begreiflich, für 137 M. 50 Pfg. muß der Hut ja ein wahres Ungetüm sein.

Wieder saß ich und wartete, und als meine Frau nach einer Viertelstunde noch nicht gekommen war, fing ich an zu arbeiten.

Da hörte ich mich plötzlich angeredet: „Nun, wie findest Du mich?”

Schnell wandte ich mich um und musterte meine Frau von oben nach unten und von unten nach oben.

„Wie ich Dich finde?” wiederholte ich erstaunt, „nun, wie immer: hübsch und chic.”

„Und weiter nichts?”

„Ja, auch lieb und gut.”

„Pfui, Du bist garstig, das will ich ja gar nicht wissen, ich meine doch eben, wie Du den Hut findest?”

„Richtig, den Hut, verzeihe, den hatte ich bei der Arbeit ganz vergessen. Nun zeige ihn mal her.”

„Aber ich habe ihn doch auf,” klagte meine Frau, „Du bist auch zu unfreundlich.”

„Du hast ihn auf? Wo denn?” fragte ich, „ich sehe nichts,” und tastend fuhr ich ihr mit der Rechten durch ihr dichtes Haar.

„Aber was hast Du denn da?” fragte ich verwundert und nahm von dem Kopf meiner Frau ein Nichts, bestehend aus drei winzig kleinen blauen Schleifen und zwei noch winzigeren kleinen Nerzschwänzchen, „was ist denn das?”

Die Augen meiner Frau füllten sich mit Thränen und laut aufschluchzend wandte sie sich von mir ab: „Pfui, ich mag Dich gar nicht leiden, ich will mir auch nie wieder etwas wünschen, mir so die Freude an meinem Hut zu verderben.”

Verwundert betrachtete ich das Nichts, das ich in der Hand hielt und dessen Gewicht leichter war als das einer Feder. „Verzeih,” bat ich, „wie konnte ich denn ahnen, daß dies ein Hut sei, jetzt erst, wo Du es sagst, erkenne ich seine Bedeutung. Komm, sei wieder gut.”

Aber meine Frau war nicht wieder zu versöhnen. „Nie, nie wieder will ich mir etwas wünschen, ich glaube,(5) auch Du würdest Dich über den Hut freuen.”

„Aber Kind, ich freue mich ja auch,” wollte ich sagen, da fiel mein Blick auf die Rechnung von 137 M 50 Pfg und plötzlich freute ich mich wirklich, nicht über den Hut, den ich in der Hand hielt, sondern darüber, daß meine Frau nicht meinem Rath gefolgt war und sich nicht alle sieben Hüte auf einmal gekauft hatte.


Fußnoten:

(1) In der Buchfassung: „eine Ehe”. (zurück)

(2) In der Buchfassung: „wie versteinert”. (zurück)

(3) Baudissin/Rosenhagen/Schlicht ist seit vier Jahren (5.1.1891) verheiratet! (zurück)

(4) In der Buchfassung: „nicht recht wußte”. (zurück)

(5) In der Buchfassung: „ich glaubte”. (zurück)


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