Skizze aus dem Militärleben
von Frhr. v. Schlicht.
in: „Hamburger Fremdenblatt” vom 14.Febr. 1900,
in: „Indiana Tribüne” vom 25.3.1900 und
in: „Alarm”.
Es thut mir leid, es sagen zu müssen: das neue Jahrhundert hat die Erwartungen, die ich auf es setzte, bisher nicht erfüllt. Ich glaubte, die Zahl 1900 würde an Stelle des bis zur Bewußtlosigkeit abgenutzten und abgeschmackten „rothen Fadens” ein besseres Bild bringen, aber ich irrte mich. Da bleibt mir nichts Anderes übrig, da muß ich das berühmte und berüchtigte Band auch noch einmal citiren und sage: Was bei der englischen Marine der rothe Faden ist, das ist bei dem preußischen Militär die rothe Hosennaht.
Die Hose vergeht, die Hosennaht besteht.
Ich weiß nicht, ob der von mir und allen anderen Autoren so hochgeschätzte Leser einmal ein Commißbeinkleid fünfter oder gar sechster Garnitur gesehen hat. Wem im vergangenen Jahrhundert dieser Anblick erspart blieb, der freue sich und wünsche sich nicht, daß die kommenden Tage ihm den zweifelhaften Genuß bringen. Schön ist solche Hose nicht, zuweilen ist sie schon sechs Jahre getragen, bei jedem Wind und Wetter, und der stolze Krieger, der in den Hosenbeinen steckte, hat sich mit ihr, dem Befehl der Vorgesetzten gehorchend, auf dem Casernenhof und im Gelände herumgewälzt. Was bleibt da noch viel nach? Nur Lumpen. Die zahllosen Löcher, die im königl. Dienst gerissen wurden, sind mit Flicken der verschiedensten Art regenerirt, nur Eins blieb heil und leuchtet in vorgeschriebener Schönheit: die Hosennaht. Die darf von keinem Sturm und Ungewitter vernichtet werden, die Hosennaht muß bleiben, wenn die Hose auch vergeht, denn das Reglement befiehlt, daß der Soldat, wenn er still steht, die kleinen Finger dicht hinter der Hosennaht haben soll.
Es gibt militärische Vorgesetzte, die allen Ernstes behaupten, jeder Civilist sei schon deshalb krumm und schief, weil seinem Beinkleid die rothe Hosennaht fehle und die da ferner der Ansicht sind, die Civilisten schlenkerten nur deshalb mit ihren Armen und Händen, weil sie nicht wüßten, wo die Knochen von Rechts- und Linkswegen hingehörten.
Hände an die Hosennaht.
Es ist kurze Zeit nach der Recrutenvorstellung. Die Compagnie ist zusammengestellt, oder wie es richtiger heißt, rangirt worden und tummelt sich zum ersten Mal auf dem großen Exercierplatz. Genauer wäre es zu sagen: sie wird getummelt, aus eigener Initiative tummelt sich ein Soldat nie. Die Vorgesetzten machen ihm so viel Bewegung, daß er sich freut, wenn er seine Knochen, die soch bis zu seinem Tode — nicht nur bis zum Ende seiner Dienstzeit — vorhalten sollen, etwas schonen kann.
Die Compagnie wird getummelt, der „Tümmler” ist in diesem Falle der Herr Hauptmann, der hoch zu Roß seinem Fähnlein voran reitet und seine Kerls und seine Herren Kerls, die Leutnants, laufen läßt, daß ihnen die Zunge fast zum Halse heraushängt.
Der Hauptmann hat sich vorgenommen, seine Kindlein etwas zu schleifen, sie etwas hoch zu nehmen, und ihnen zu zeigen, daß sie nicht nur auf der Welt sind, um Kommißbrod und dicke Erbsen zu essen. Der Capitano ist wüthend und, wie sich das eigentlich von selbst versteht, nicht ohne Grund: er ist bei der Recrutenbesichtigung hineingefallen und auch die alten Leute, die gleichfalls besichtigt wurden, vermochten nicht den höchsten Beifall Seiner Excellenz zu finden. Der Teufel hatte den Divisionscommandeur reiten müssen, daß dieser in höchsteigener Person zur Besichtigung kam. Excellenz hatte gar Nichts gelobt, nicht einmal den Haarschnitt und den Mützensitz, auf den fast mehr Sorgfalt verwendet war, als auf die ganze Ausbildung, dafür aber hatte der hohe Herr desto mehr getadelt, insonderheit die Handhaltung, und Das war um so schlimmer gewesen, als die Handhaltung das Steckenpferd Sr. Excellenz war.
Der Hauptmann war angepfiffen worden, als ob ein Teifun [sic!] ihn umzureißen drohte. Zuerst hatte er daran gedacht, den Vorgesetzten auf Pistolen zu fordern und ihm eine Kugel vor den Bauch zu schießen, dann wollte er seinen Abschied nehmen, er wollte sich beschweren, ja, was wollte er nicht Alles. Aber schließlich steckte er die Liebenswürdigkeiten in die Taschen — wozu hat der Soldat denn auch sonst die Dinge?
„Na, wartet, Kinder, ich will Euch schon eine tadellose Haltung beibringen,” denkt der Hauptmann, „erst will ich Euren Verstand einmal erwecken und meinen Leutnants will ich zeigen, daß ich mit der Art und Weise, in der sie den Dienst geleitet haben, absolut nicht einverstanden bin.”
Nach einer halben Stunde sind die Leute warm: sie dampfen.
„So,” denkt der Häuptling, „für den Anfang mag das genug sein, nun wollen wir die Sache einmal versuchen.”
Er ruft seine beiden Leutnants zu sich heran: „Bitte, meine Herren, übernehmen Sie jeder ein Glied der Compagnie, Sie, Herr Leutnant Aberg, das erste, Sie, Herr Leutnant Emberg, das zweite. Stellen sie Ihre Glieder mit „Gewehr ab” auf, aber tadellos, meine Herren, ta—del—los, und tadellose Haltung der linken Hand. Fangen Sie an und wenn Sie fertig sind, sagen Sie mir Bescheid, ich lasse Ihnen Zeit.”
Die beiden Leutnants sehen sich an und ein schwerer Seufzer entringt sich ihrer Brust.
„Wie meinten die Herren?” fragt der Hauptmann, aber die beiden Officiere beeilen sich zu versichern, daß sie zwar ein schlecht besoldetes Amt, dafür aber auch nicht die leiseste Meinung, nach Ansicht ihrer Vorgesetzten sogar nicht einmal die leiseste Ahnung hätten.
Die Leutnants übernehmen die Glieder, und als Leutnant Emberg seine sechzig Krieger vor sich sieht, stöhnt er noch einmal laut auf und wirft seinem Kameraden einen neidischen Blick zu: im ersten Glied stehen die geraden, gut gewachsenen Leute, im zweiten Glied die krummen.
„Nur Muth!” tröstet er sich schließlich und er gibt seine Commandos. „Stillgestanden! Richt' Euch!”
Der Flügelmann stiert, wie das Gesetz es befiehlt, gerade aus, die anderen neunundfünfzig nehmen den Kopf nach rechts und bringen, ohne zu schielen, das Kunststück fertig, mit dem rechten Auge die Brust ihres Nebenmannes, mit dem linken Auge die Knopfreihe des ganzen über ihnen stehenden Gliedes zu sehen.
Nach einer kleinen Viertelstunde bilden die Heldenbrüste eine schnurgerade Linie.
Jetzt kommt der Tragödie zweiter Theil: die Fühlung. Jeder soll seinen Nebenmann mit dem Ellbogen fühlen.
Der Leutnant geht vor die Front, um sich davon zu überzeugen, ob die Sache stimmt.
Selbstverständlich stimmt sie nicht: der Eine fühlt zu viel, der Zweite zu wenig, der Dritte gar Nichts. Der Eine muß beide Arme mehr ausstrecken, der Zweite muß sie mehr krümmen und der Dritte verdient, daß er ermordet wird, denn er muß mehr nach rechts gehen. Die Leute, die unter ihm stehen, müssen folgen und die ganze schöne kunstvoll aufgebaute Richtung ist zum Teufel.
Die Sache fängt wieder von Neuem an: God save the Queen. Der Himmel erbarmt sich über Gerechte und Ungerechte, warum soll er sich da nicht auch eines Leutnants erbarmen.
Nach einer guten Viertelstunde stimmt die Sache.
Nun erst kommt die Handhaltung: die rechte Hand umfaßt das Gewehr mit natürlich ausgestrecktem Arm, Daumen hinter dem Laufmantel, die anderen Finger leicht gekrümmt, Fingerspitzen geschlossen auf dem Gewehrriemen.
Bis ein Pollak Das begriffen hat, kann man auf einem Fahrrad mit luftleeren Reifen dreimal um die Welt fahren. Und wenn der Mann es endlich begriffen hat, so kann er damit die Hände noch lange nicht so halten, wie es verlangt wird.
Die Finger der Leute sind von der harten Arbeit krumm und bei Untergebenen findet man selten „ein loses Handgelenk”.
Die linke Hand liegt an der Hosennaht.
Der Leutnant geht die Font herunter und corrigirt die linken Hände: „Finger mehr ausstrecken, Finger mehr krümmen, die Hand weiter vor, die Hand weiter zurück; denkt daran, Leute, Jeder von Euch muß die Hosennaht mit dem kleinen Finger fühlen können, aber denkt daran, daß der kleine Finger dabei dicht hinter der Hosennaht liegen bleibt. Thut mir den einzigen Gefallen und denkt daran, denn wenn der Herr Hauptmann nachher kommt und die Sache dann nicht stimmt, dann ist der Teufel los.”
Und die Prophezeiung des Leutnants geht glänzender in Erfüllung als die Wahrsagungen der Kartenlegerinnen, die, wenn es nicht anders sein kann, schon für fünfzig Pfennig viel Geld, für eine Mark aber schon ein großes Vermögen prophezeien.
Der Hauptmann kommt; sein Leutnant hat ihn gerufen.
„Schon fertig?” fragt der Capitano.
Diese Frage allein läßt den Leutnant ahnen, daß sein Werk keinen Beifall finden wird, er hat das Glied zu schnell aufgebaut und doch hat er länger als eine halbe Stunde gebraucht.
Die Leute können schon nicht mehr still stehen.
„Da bin ich aber neugierig,” meint der Vorgesetzte — er steigt vom Pferde, besieht sich die Richtung und geht dann die Front hinunter.
Aber er kommt nicht weit, schon bei dem dritten Mann bleibt er stehen.
Auf der linken Hand des Kriegers amüsirt sich eine große Fliege, sie tummelt sich dort und treibt allerlei Scherze und in ihrem Uebermuth kitzelt sie den Bleisodaten, ich meine den Soldaten. Das Kribbeln und Krabbeln macht den Mann unruhig, er will das Thier verscheuchen, er bewegt seine Hand und als er sie wieder still hält, liegt der kleine Finger nicht mehr hinter, sondern vor der Hosennaht.
Die Fliege aber ist nicht verschwunden, die sticht und krabbelt und kitzelt ruhig weiter.
„Aber Herr Leutnant,” sagt der Hauptmann, „Das nennen Sie eine correcte Handhaltung? Allerdings, wenn Sie so schnell machen, kann man sich ja nicht wundern, wenn nichts Gescheidtes dabei herauskommt. Mehr Gründlichkeit, Herr Leutnant, mehr Accuratesse, mehr Genauigkeit, dies ist Nichts, dies ist absolut gar Nichts. Sie müssen sich viel mehr Mühe geben, Herr Leutnant, wenn Sie wollen, daß ich von Ihren Diensten wirklichen Nutzen haben soll — damit, daß Sie vor der Front spazieren gehen, ist es nicht gethan.”
Heiß wallt es in dem Officier auf, er hat sein Bestes, sein Möglichstes gethan, um zu leisten, was von ihm verlangt wurde, er will sich vertheidigen, ein scharfes Wort liegt ihm auf der Zunge, auch ohne daß eine Fliege auf seinen Händen spazieren geht, kribbelt und krabbelt es in seinen Fingerspitzen, nur schwer kann er die Hände still halten, aber auch für ihn heißt es: der kleine Finger liegt dicht hinter der Hosennaht.
„Wenn der dritte Mann schon so dasteht, wird es bei den andern wohl noch schlechter sein,” sagt der Hauptmann, „bitte, stellen Sie das Glied noch einmal auf. Wenn Sie damit fertig sind, sagen Sie mir Bescheid.”
Der Hauptmann geht davon; aber mein Leutnant bleibt zurück; er läßt seine Leute einen Augenblick rühren, dann fängt die Sache wieder von vorn an. Der kleine Finger liegt dicht hinter der Hosennaht — immer, auch dann, wenn der Soldat sans culotte ist. Das kommt zuweilen vor: wenn der Soldat zu Bett geht, wenn er aufsteht, oder bei anderen Gelegenheiten.
Nie fehlt der Vorgesetzte, der den Untergebenen beaufsichtigt, damit dieser nicht etwa auf den Gedanken kommen sollte, irgend Etwas zu thun, was in den drei Büchern des Soldaten, dem Reglement, der Felddienstordnung und der Schießvorschrift, nicht aufgeführt ist.
In einem Lazareth lag einmal ein Mann, der hatte schwer Zahnweh. Man glaubte es ihm, auch ohne daß er es sagte, denn sein Gesicht hatte den Umfang der Weltkugel, und von Schmerzen gepeinigt, drehte er sich abwechselnd um seine Längs- und seine Querachse: bald stand er im Bett auf dem Kopf, bald auf den Füßen, bald lag er auf dem Rücken, bald im Bett, bald unter dem Bett.
Es ging ihm gar nicht gut.
Das Traurigste war, daß der Mann nicht im Stande war, seinen Mund soweit aufzumachen, daß die Zunge in Thätigkeit treten konnte.
Jeden Morgen trat der Chefarzt an das Bett des Kranken, um sich davon zu überzeugen, wie es ihm ginge, und wenn der Arme dann, von Schmerzen gepeinigt, einen doppelten Saltomortale ausführte, sagte der Oberarzt zu seinen Unterärzten, die andächtig seinen Worten lauschten, um von ihnen zu lernen: „Es scheint, als ob nur eine geringe Besserung eingetreten ist.”
Bessern mußte sich das Befinden des Soldaten von Tag zu Tag, denn wozu war er sonst im Lazareth, unter der Aufsicht eines Chefarztes, Oberstabsarztes, eines Stabsarztes, zweier Assistenzärzte, eines Einjährigen-Arztes, eines Sanitätssergeanten, eines Sanitätsunterofficiers und eines Sanitätsgefreiten?
So viele kluge Leute müssen doch einen Menschen, wenn sie ihn nicht tödten, gesund machen.
Der Kranke hatte Glück: er blieb am Leben, und eines Morgens sprach der Chefarzt das große Wort: die Geschwulst hat nachgelassen, Morgen ziehe ich den Zahn.
Warum er ihn nicht gleich zog, wußte er wohl selbst nicht. Am nächsten Morgen erschien der Oberroßarzt, pardon, der Oberstabsarzt, mit einer gewaltigen Zange bewaffnet, am Bett des Kranken.
„So, mein Sohn, nun richte Dich Etwas in die Höhe und mache den Mund so weit auf, wie Du nur irgend kannst.”
Der that, wie ihm befohlen wurde. Die Zange wurde angesetzt und der Arzt zog.
Allzu lieblich muß das Gefühl für den Kranken nicht gewesen sein, denn plötzlich griff er mit beiden Händen nach dem rechten Arm des Oberstabsarztes und suchte diesen mitsammt der Zange fortzudrängen.
Der Chefarzt war einen Augenblick starr, dann sagte er: „Mein Sohn, weißt Du nicht, daß Deine Hände an die Hosennaht gehören?”
Und gehorsam streckte der Soldat seine Hände unter die Bettdecke, suchte an seinen Beinen die Stelle, an der, wenn er ein Beinkleid trug, die Hosennaht zu sitzen pflegte, legte die kleinen Finger hinter die Hosennaht, krümmte die übrigen Finger leicht und nahm die Handballen auswärts.
So lag er still und wartete, bis der Arzt den kranken Zahn gezogen hatte, es dauerte eine Ewigkeit, endlich aber hielt der Oberstabsarzt den Zahn triumphirend in die Höhe und siehe da, er hatte Glück gehabt, er hatte den falschen erwischt und konnte zu seiner Suite sagen: „Sehen Sie, meine Herren, so sieht ein gesunder Zahn aus, nun werde ich Ihnen gleich zeigen, wie ein kranker aussieht.”
Und mit den Händen an der Hosennaht lag der Soldat weiter still, bis der Arzt den richtigen erwischt hatte, und sagte: „So, mein Sohn, nun darfst Du Dich rühren.”
Die Hände gehören an die Hosennaht — nur zur Zierde wird die rothe Biese wahrlich nicht in das Beinkleid genäht.