Meine Hochzeitsreise.

Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Pittsburger Volksblatt” vom 3.9.1893,
in: „Pittsburger Volksblatt” vom 7.9.1893,
in: „Björneborgs Tidning” vom 3.11.1893 unter dem Titel „Min bröllopsresa”,
in: „Teplitz-Schönauer Anzeiger” vom 18.11.1893,
in: „Der Deutsche Beobachter” vom 12.9.1894,
in: „Der Deutsche Correspondent” vom 31.7.1897,
in: Humoresken und
in: „Humoresken und Erinnerungen”


Noch nie haben, wie ich glaube, die Vorbereitungen zu einer Hochzeitsreise die Gemüter der beteiligten und unbeteiligten Personen so in Aufregung gehalten wie bei der meinigen. Kaum war ich zwei Minuten verlobt, so sprachen wir schon von der Hochzeitsreise, und nach weiteren zwei Minuten sprachen wir während der nächsten fünf Monate von nichts anderem als von unserer Hochzeitsreise. Das heißt, hauptsächlich sprach meine Braut davon, ich selbst war ein entschiedener Gegner der Reise; ich liebe es überhaupt nicht, aus dem Koffer zu leben und mich von befrackten und wohlfrisierten Kellnern bedienen zu lassen. Am liebsten wäre ich sofort nach der Hochzeit in mein neues Heim gefahren und hätte dort die Flitterwochen verlebt, zumal ich in eine neue, mir selbst ganz fremde Stadt versetzt worden war. Aber dagegen erhob sich natürlich der lebhafte Widerspruch seitens meiner Braut, ihrer Mutter und sämtlicher, nach Legionen zählender weiblichen Verwandten, die als Hilfstruppen ins Feld geschickt wurden. In großer Familiensitzung sollte die wichtige Frage entschieden werden. Zwar hatte ich einmal irgendwo den Satz gelesen: „Gib von vornherein auf, mit einer Frau zu streiten, nie wirst du sie überzeugen, denn Frauen sind immer unlogisch und ungerecht,” doch hatte ich darüber nur gelächelt. Ich, der ich als Verteidiger bei den schwierigsten Gerichtsverhandlungen mir einen großen Namen gemacht hatte, und dessen scharfsinniger, unwiderleglicher Logik noch kein Schwurgericht widerstanden, sollte nicht einmal einige Frauen überzeugen können? Lächerlich!

In glänzendster Rede bewies ich, daß eine Hochzeitsreise aus tausend Gründen ein Unding sei, daß die meisten Eheleute — wenigstens neunundneunzig Prozent — in ihrem ganzen Leben nie wieder so unglücklich wären wie in jener Zeit, da sie rastlos von Stadt zu Stadt, von Hotel zu Hotel stürzten, von allen Reisenden neugierig betrachtet, den prüfenden, musternden Blicken aller ausgesetzt. Ich schilderte, wie ein junges Ehepaar auf der Hochzeitsreise sich moralisch verpflichtet fühle, alles Sehenswerte zu besehen, und wie es daher nie zur Erholung, zum Genuß käme, sondern im Innern nur stets den Wunsch hege nach Ruhe und Frieden. Ich sprach mit einer Beredsamkeit, daß die berühmte Rede des Demosthenes „Über den Kranz” im Vergleich mit dem, was ich soeben gesagt, nach meiner Überzeugung ein elendes Stümperwerk war.

Als ich geendet und ich mich mit einem feierlichen Dixi erschöpft auf meinen Stuhl niederließ, vergoß meine Braut die heftigsten Tränen; sie sah ihre Luftschlösser in den Grundfesten erschüttert und die Gebäude, die sie sich in ihren kühnsten Träumen erbaut, in ein Nichts zusammenfallen. Ich wollte sie an mich ziehen und ihr die Tränen fortküssen, aber gekränkt wandte sie sich ab. Gleich darauf wurde das Urteil der Jury verkündet: „Was ich gesagt hätte, wäre alles ganz gut und schön, vielleicht auch teilweise richtig, wenngleich ich, wie Männer es bei solchen Gelegenheiten ja immer täten, stark übertrieben hätte, aber dennoch wäre eine Hochzeitsreise aus moralischen und sittlichen und tausend anderen Gründen — die natürlich nicht genannt wurden — sehr zu empfehlen, und somit wäre beschlossen, daß wir reisen sollten.”

Ich wollte emporfahren und meine Niederlage wieder gutmachen, da hing aber auch schon meine Braut weinend und lachend zugkeich an meinem Halse: „Du lieber, böser Mensch, wie bist du immer gut mit mir.” Mir fiel das Wort wieder ein: „Gib es von vornherein auf, mit einer Frau zu streiten, nie wirst du sie überzeugen, denn Frauen sind immer unlogisch und ungerecht,” und ich gab jeden ferneren Widerstand auf.

„Wir werden reisen,” jubelte meine Braut. „Ihr werdet reisen,” sagte meine Schwieger­mutter in spe, und der Ton ihrer Stimme duldete keinen Widerspruch. So ähnlich muß Frau Hadwigs Stimme geklungen haben, als sie ihren treuen Kämmerer Spazzo hinüberschickte nach St.Gallen mit den Worten: „Ihr werdet reisen.” Und wie der alte Haudegen schlug auch ich meine Hacken ritterlich zusammen und wiederholte grimmig: „Wir werden reisen.”

Die nächste wichtige Frage, die nun erörtert wurde, war das „Wohin?” „Ach bitte, bitte,” flüsterte mir meine Braut zu, „hole mir den Atlas, du weißt ja, wo er liegt, unten auf dem untersten Bort unter dem großen Lexikon.”

Mit Hilfe des Dieners schleppte ich den schweren, in Schweinsleder gebundenen Folianten aus dem Jahre 1793 herbei: „Ach, den meine ich doch nicht,” sagte meine Braut, „was kann der mir nützen?”

„Das wollte ich dich auch gerade fragen,” entgegnete ich, „was willst du mit einem Atlas? Von den fünf Weltteilen dürften dir die hauptsächlichsten dem Namen nach bekannt sein; oder willst du vielleicht nachsehen, ob Kolumbus dir zu Ehren erstanden und ein neues Land entdeckt hat?”

„Pfui, du bist böse,” antwortete sie schmollend. Sie selbst erhob sich und kehrte nach einigen Minuten mit dem kleinen Stieler zurück. Sie schlug die Blätter auf und stieß einen freudigen Ruf aus: „Ach sieh nur, wie schön, nur Berge, nichts als Berge. Du, da wollen wir hin. Ach, denk' dir doch mal, so ganz allein mit dir dort oben in den Bergen herumzuklettern, das muß himmlisch sein, ach bitte, bitte, laß uns dahin fahren.”

„Aber Geliebte, das geht doch nicht, ohne Führer können wir uns den Kordilleren doch nicht anvertrauen, außerdem glaube ich kaum, daß Amerika —”

Errötend schlug sie den Atlas zu: „Verzeih', ich hatte die Überschrift nicht gelesen.”

Nach weiteren fünf Minuten waren wir uns darüber einig, daß wir in Europa bleiben wollten; nun ging es alle Länder durch: Deutschland wurde als bekannt vorausgesetzt, Rußland war von vornherein wegen der Zollscherereien an der Grenze und der Unehrlichkeit der Bewohner ausgeschlossen, in Bulgarien hätten wir leicht in eine Revolution verwickelt werden könne, Italien war zu heiß, nach Spanien wollte meine Braut wegen der Stiergefechte nicht, England und Norwegen waren des Wassers wegen ausgeschlossen, da meine Braut gleich seekrank wurde und für ihre schönen Toiletten fürchtete, Frankreich nebst Paris war nach Ansicht der Mutter zu leichtsinnig, „so etwas sähe und erführe man noch immer früh genug”. Holland war zu wenig poetisch, man sähe dort weiter nichts als Anpreisungen von Blookers Kakao, ganz selten mal eine von van Houten, das wäre auch nichts. Ich erlaubte mir schüchtern zu bemerken, daß einem allerdings unverbürgten Gerücht zufolge in Holland einige Sehenswürdigkeiten sein sollten, „schöne Schlösser, prachtvolle Bilder —” Ein erstaunter Blick der Damen war die Frage auf meine Antwort: „Aber glauben Sie denn überhaupt, daß Sie sich auf der Hochzeitsreise so etwas ansehen?”

„Wenn wir uns doch nichts ansehen, warum sollen wir denn überhaupt reisen?” fragte ich; aber man tat, als ob man meine Erwiderung nicht gehört hätte. Nachdem im Verlauf einer weiteren Viertelstunde sämtliche Kulturstaaten in Raubstaaten verwandelt worden waren, wurde einstimmig beschlossen, zur Tagesordnung, d.h. zum Abendbrot überzugehen. Am nächsten Tage wiederholte sich dieselbe Szene, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat wurde über unser Reiseziel gesprochen und verhandelt. Meine Braut versuchte, mit den Karten ihren Zweifeln ein Ende zu machen, sie zählte an den Knöpfen und an den Kochtöpfen, an den Blättern und den Blumen, an den Schürzenbändern und den Taillenhaken sämtliche Länder Europas ab: „Siehst du, zweimal haben mir die Haare der Gläserbürste schon gesagt, daß wir nach Holland sollen, wenn sie es nun auch zum drittenmal sagen, wollen wir auch ganz bestimmt hin.” Aber natürlich prophezeiten die Schweinsborsten das nächstemal etwas anderes, denn meine Braut zählte die Länder jedesmal in einer anderen Reihenfolge auf und nannte stets dasjenige, zu dem sie augenblicklich die meiste Neigung verspürte, zuerst. Endlich konnte ich es nicht mehr ertragen, ich war vollständig nervös und sprach, dachte und träumte nur noch Geographie. Ich ging zu dem Bahnhof und deponierte fünfhundert Mark: „Ich bitte um zwei Rundreisebillette.”

„Wohin?”

„Ist mir gleichgültig.”

Verwundert sah der Beamte mich an: „Na, wenn es Ihnen gleichgültg ist, dann nehmen Sie vielleicht diese beiden. Der Herr, der sie bestellt hat, ist krank geworden, Sie brauchen nur Ihren Namen darauf zu schreiben.”

Ich steckte die Billettbücher fein säuberlich in ein Kuvert und schickte sie an meine Braut. Nun war die Sache endgültig geregelt, es ging nach Holland mit seinen Kakaobüchsen.

Der Tag der Hochzeit war gekommen, alles verlief in schönster Ordnung, das Souper war tadellos, und in heiterster Stimmung nahmen wir Abschied: „So, Kinder, nun Adieu, laßt es euch gut gehen, und vor allen Dingen amüsiert euch recht schön auf eurer Hochzeitsreise.” Eine sehr anständig gespickte Geldbörse wurde mir zum Abschied von einem alten Onkel in die Hand gedrückt, dann ging es hinaus ins eheliche Leben. Wir wollten die ersten beiden Tage in unserer eigenen Wohnung verleben und dann nach Holland fahren.

„Was hast du nur?” sagte meine Frau zu mir, als wir im Coupé saßen, „du siehst so sonderbar aus, du bist so rot im Kopf, solltest du etwa gar zu viel getrunken —”

„Nun, zu wenig gewiß nicht,” dachte ich, laut aber erwiderte ich: „Liebes Kind, wie kannst du nur denken, daß ich heute für so etwas Sinn habe! Übrigens habe ich auch schon bemerkt, daß mit meinem Kopf etwas nicht in Ordnung ist. Ich habe während des ganzen Tages Gesichts­schmerzen gehabt.”

Besorgt wendete sich meine kleine Frau mir zu: „Du wirst doch nicht krank werden —”

„Ich bitte dich,” unterbrach ich sie, „vielleicht eine kleine Erkältung, weiter nichts. Wie soll ich wohl krank werden, das wäre doch seit fünfundzwanzig Jahren das erstemal.”

Aber als wir endlich nach einer langen Fahrt vor dem Hause hielten und durch unsere Zimmer gingen und uns die Räume besahen, in denen für uns ein neues Leben beginnen sollte, wurde mir plötzlich so schlecht, daß ich mich auf einen Stuhl setzen mußte: „Verzeih',” bat ich, „ein leichter Schwindel —”

Meine Frau sah mich an und stieß einen Schrei aus. „Um Gottes willen, was fehlt dir, dein Gesicht ist ja vollständig angeschwollen, rasch zum Arzt.”

Eine Minute später lief das Dienstmädchen zu einem Doktor, der bald darauf vor mir stand.

„Gesichtsrose, weiter nichts, drei bis vier Wochen ruhig im Bett, dann ist alles wieder in Ordnung.”

Ich wollte fluchen, aber ich konnte nicht sprechen, ich wurde in das Bett gepackt und lag drei Wochen mit den wahnsinnigsten Schmerzen, ich fieberte, raste, tobte, alles vergebens, die Backe war und blieb geschwollen.

„So,” sagte der Arzt eines Tages zu mir; „heute ist das schönste Wetter von der Welt. Gehen Sie an die frische Luft, Sie sind vollständig wiederhergestellt und bedürfen der ärztlichen Behandlung nicht mehr.”

Gerührt gab ich ihm die Hand: „Ich danke Ihnen. Wie schön das gerade paßt, noch zwei Stunden, dann ist mein Urlaub abgelaufen! Heute mittag muß ich wieder aufs Gericht.”

Meine Frau hatte im Haushalt zu tun, so setzte ich mich denn allein in eine Drosche und fuhr eine Stunde im hellsten Sonnenschein spazieren. Dann kehrte ich heim und stellte ein sehr schön eingewickeltes Paket vor sie hin. Gerührt fiel sie mir um den Hals: „Du Lieber, Guter, wie rührend von dir, daß du an mich gedacht hast und mir gleich etwas mitbringst, sag', was ist es?”

„Es ist das Ende und das Ergebnis meiner Hochzeitsreise. Sag' selbst bitte, hätte ich dir etwas Besseres mitbringen können als eine Dose von Blookers Kakao?”


„Björneborgs Tidning” vom 3.11.1893:


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