Humoreske von Graf Günther Rosenhagen
in: „Vorarlberger Landes-Zeitung” vom 13.9.1893
Sonntagabend! Endlich allein.
Die ganze Woche waren wir nicht zur Ruhe gekommen, vom frühen Morgen bis gegen Abend war ich dienstlich beschäftigt gewesen, dann hatte ich mich Abend für Abend in den mir höchst unbequemen Frack gesteckt und war von einer Gesellschaft zur andern gefahren. Fast überall hatten wir dieselben Menschen getroffen, hatten uns jedesmal, als wenn wir uns seit Jahren nicht gesehen hätten, über die neue Begegnung auf das freudigste überrascht gezeigt, und hatten acht Tage nach der Reihe fast dasselbe Menu gegessen mit den unvermeidlichen Poularden und dem Ochsenfilet. Wir hatten die Nächte durchgetanzt und wenn wir dann gegen Morgen nach Hause kamen und mit einem „Gott sei Dank” unsere Etagenthür aufschlossen, hatte ich manchmal noch lange an dem Schreibtisch gesessen, ehe ich mich für eine Stunde in das Bett legte.
Nun war Sonntag gekommen. Wie ein Kind hatte ich mich auf den Tag gefreut, wie ein heller Stern in der dunklen Nacht hatte mir der Sonntag in der ganzen schrecklichen Zeit geleuchtet und wenn meine Frau mich manchmal unter Thränen gebeten hatte, zu Hause zu bleiben und noch absagen zu dürfen, hatte ich ihr stets geantwortet: „Lerne zu leiden, ohne zu klagen. Es muß doch Sonntag werden.”
Spät in der Nacht waren wir von einem Ball zurückgekommen. Morgens um neun Uhr erwachte ich mit dem seligen Gefühl, einen ganz freien Tag vor mir zu haben, ich wollte einmal so gründlich faul sein, weiter nicht thun als lesen. So viele Bücher lagen noch unaufgeschnitten auf meinem Schreibtisch, Alles, nur heute nicht schreiben und fremde Menschen sehen.
Da horch, ein schriller Glockenklang durch die Etage. Gleich darauf klopfte es an die Schlafstubenthür: „Ein eingeschriebener Eilbrief.” Nichts Gutes ahnend, stieg ich aus den weichen Federn, nahm den Brief in Empfang und kroch dann wieder unter die Decken. Mit einem kräftigen Fluch sprang ich empor, in einer dringlichen Sache wurde ich zu einem sofortigen ausführlichen Bericht aufgefordert. Ich mochte wollen oder nicht, ich mußte das Lager verlassen und eine halbe Stunde später saß ich am Schreibtisch, kaum, daß ich mir die Zeit genommen hatte, die neuesten Telegramme in dem Berliner Tageblatt zu lesen. Eine Stunde verrann nach der andern, ich, der ich bei allen Heiligen und Profanen geschworen hatte, die Feder nicht anzurühren, saß nun durch den Willen eines Höheren an meinen Schreibtisch gebannt, studirte und blätterte in verstaubten Acten und schrieb, daß mich die Finger schmerzten. Nur eine halbe Stunde hatte ich mir Zeit zum Mittagessen gegönnt, nur so konnte ich hoffen, bis zum Abend fertig zu werden und endlich lag der Bericht tadellos abgeschrieben, fein couvertirt und frankirt vor mir.
Mit einem Schrei des Jubels und des Entzückens warf ich mich auf meine Chaiselongue. Ich hätte singen und springen mögen vor Freude, aber man muß in den dünngebauten Etagenhäusern ja Rücksicht nehmen auf seine Mitmenschen. Behaglich streckte und dehnte ich mich, ich hatte mir eine köstliche Cigarre angezündet, eine von jener Sorte, die man ihres horrenden Preises wegen eigentlich nur dreimal in seinem Leben rauchen darf: bei der Geburt, bei der Hochzeit und dicht vor seinem Tode. Der kleine Tisch mit der Lampe war herangerückt und das durch einen großen rothen Schirm gemilderte Licht gab dem Zimmer einen unendlich traulichen Reiz. In meiner Linken hielt ich Wildenbruch's Novelette: „Ein Tropfen edlen Blutes.” Ich hatte schon so viel über die kleine Erzählung gehört, daß meine Neugier auf das Höchste gespannt war.
„Fehlt Dir noch irgend Etwas zu Deiner Bequemlichkeit und Zufriedenheit?” fragte mich meine kleine Hausfrau, die in einem großen Lehnstuhl dicht neben mir Platz genommen hatte.
„Zürne mir nicht,” bat ich, „aber wenn Du mir ein Glas wirklich schönen Thees mit einem ordentlichen Schluck Arak besorgen möchtest —”
„Aber mit dem größten Vergnügen.” Sie hatte sich erhoben und ging hinab in die Küche, um für die möglichst tadellose Ausführung meines Wunsches Sorge zu tragen.
Da horch, ein schriller Glockenklang durch die Etage, gleich darauf ein zweiter und dritter. Ich sprang auf, was mochte das sein, es war doch nicht etwa ein Unglück passirt? Ich stürzte nach der Thür, um selbst nachzusehen, wer da wäre, wer konnte denn am Sonntag Abend um acht Uhr noch kommen. Etwa noch ein Eilbote?
Ich ließ die Sperrkette eingehakt und öffnete die Thür nur halb. Nur mit äußerster Anstrengung unterdrückte ich einen Schrei der Verzweiflung, ich taumelte zurück gegen die Wand, meine Knie schlotterten.
„Guten Abend, lieber Freund, ich störe Sie doch nicht?”
Mit Anspannung aller Kräfte gelang es mir, mich von der mich mit magischen Banden festgehaltenen Wand zu befreien, ich öffnete die Thür.
„Aber ich bitte Sie, wie mögen Sie nur so Etwas denken?”
Er entledigte sich mit meiner Hilfe des Mantels und Hutes.
„Aber ich bleibe nur, wenn Sie wirklich nichts vorhaben.”
„Nein, ich versichere Sie, ich wollte nur ein bischen lesen.”
„So? Nun das können Sie ja noch immer thun. Ich war hier gerade in der Nähe und wollte mir doch das Vergnügen nicht nehmen lassen, Sie einen Augenblick aufzusuchen.”
Einen Augenblick! Ich athmete auf: „Sehr liebenswürdig von Ihnen, Sie sind uns herzlich willkommen.”
Ich begleitete ihn in mein Zimmer, einen unsagbar traurigen Blick warf ich auf meine zum Dolce far niente eingerichtete Ecke, dann nahm ich meinen geliebten Wildenbruch und legte ihn vorsichtig auf den Schreibtisch zurück.
„Ihre Frau Gemahlin ist nicht zu Hause?”
„Doch, verzeihen Sie einen Augenblick, ich werde sie benachrichtigen. Bitte, wollen Sie Platz nehmen?”
Ich stürzte die Treppen hinunter in das Souterrain. „Um Gottes willen, was fehlt Dir, wie siehst Du aus, was ist geschehen?”
„Denke Dir, fasse Dich, es ist Besuch da.”
„Ha.” Meine Frau kreischte auf, das silberne Theeglas entfiel ihrer Hand, sie sank zerschmettert auf einen Stuhl.
„Ja, es ist empörend, heute am Sonntagabend. Dan wird immer über Sonntagsruhe geschrieben und geredet, wir haben nie Ruhe. Aber nun komm schnell hinauf, er will gleich wieder gehen.”
„Gott sei Dank, wer ist denn überhaupt da?”
„Herr von Hagen.”
„Der? Allmächtiger! Geh' nur voran, ich komme sofort, ich will nur noch den Thee bereiten, wir müssen ihm doch auch Etwas anbieten.”
„Das fehlte gerade noch, — aber Du hast doch wohl Recht.”
Ich kam in mein Zimmer zurück:
„Meine Frau läßt einen Augenblick um Entschuldigung bitten, sie wird sofort kommen.”
Wir plauderten über Dies und Das, mühsam nur schleppte sich die Unterhaltung hin, wo nur meine Frau bleiben mochte? Endlich, nach einer ewigen Viertelstunde erschien sie:
„Ah, Herr von Hagen, welche große Freude, wie nett, daß Sie unser gedenken, seien Sie uns herzlich willkommen.”
Ich sah meine Frau von der Seite an: „Verstellung, Dein Name ist Weib.”
„Sie trinken doch ein Glas Thee mit uns?”
„Wenn ich nicht fürchten muß zu stören —”
„Aber wir bitten dringend um das Vergnügen.”
Das Mädchen brachte den Thee herein, wir schoben die großen Lehnstühle um das kleine Tischchen; das „Vergnügen” konnte beginnen.
„Sie waren vorgestern nicht auf dem Ball bei Herrn von Zitzelwitz, gnädigste Frau?”
„Nein, wir waren leider schon versagt, war es nett?”
„Entzückend, gnädigste Frau,” und nun kam eine lange Beschreibung des Menus, der Gesellschaft, der Toiletten, der Kotillonsüberraschungen und so ging das weiter vom Hundertsten in das Tausendste. Ich verstehe von dergleichen Gesprächsthemata nichts, ich hatte die Beine übereinandergeschlagen und sah den blauen Wolken meiner Cigarre nach.
Die Uhr schlug neun. Ein Augenblick in Gestalt einer Stunde war vorüber.
„Aber Edgard, willst Du Herrn von Hagen nicht eine Cigarre anbieten?”
„Oh, ich bitte tausendmal um Entschuldigung. Was darf ich Ihnen geben, leicht, schwer oder mittel?”
„Bitte, machen Sie keine Umstände, geben Sie mir dasselbe, was Sie da rauchen.”
Auch das noch! Aber es nützte nichts, schon hatte er das Kistchen geöffnet:
„Nein, ich danke, Sie haben ja selbst nur noch eine von dieser anscheinend hervorragenden Sorte.”
„Aber ich bitte Sie, greifen Sie nur ruhig zu.”
Er hatte sich die Cigarre angezündet und seinen alten Platz wieder eingenommen.
„Morgen reise ich nach Schweden, gnädigste Frau.”
„Auf längere Zeit?”
Ich schöpfte neuen Muth, wenn Jemand nach Schweden reisen will, hat er doch noch viel zu packen und zu besorgen, also war doch wohl Aussicht vorhanden, daß er bald gehen würde.
„Nein, gnädigste Frau, nur auf acht Tage, ich will nur eine Cousine, ein Fräulein von Kongsa, verheirathen.”
„Wie? Fräulein von Kongsa ist Ihre Cousine? Die Dame kenne ich sehr genau.”
Nun waren sie beim Capitel der gemeinschaftlichen Bekannten angekommen und Herr von Hagen gab eine sehr genaue Beschreibung eines schwedischen Balles, erzählte das Menu, wer Alles dort gewesen sei und tausend andere gleichgiltige Dinge. Ich ließ sie reden. Ich holte aus dem Schrank eine Flasche Rothwein, schänkte uns ein und bekundete durch ein gelegentliches: „Wollen Sie nicht einmal austrinken? Darf ich Ihnen Feuer geben?” mein Interesse an der Unterhaltung.
Endlich, endlich, die Uhr war 1230, da ging die Lampe aus.
„Schon so spät und ich wollte doch nur einen Augenblick bleiben.”
Nun hatte er Mantel um und Hut auf:
„Wenn ich nicht fürchten müßte, Sie zu stören, würde ich nach meiner Rückkehr sehr gerne einmal wieder einen Abend —”
„Aber wir bitten darum, Sie sind uns jederzeit herzlichst willkommen.”
„Besten Dank für die liebenswürdige Aufnahme.”
„Bitte gehorsamst, wir haben zu danken.”
Nun war er draußen und zweimal drehte ich hinter ihm den Schlüssel um.
„Weißt Du,” sagte meine Frau zu mir, „ich habe ihm schwer Unrecht gethan, er ist ein selten liebenswürdiger Mensch.”
„Findest Du? Nun, das ist Ansichtssache. Aber nun laß uns schlafen gehen, ich glaube sogar, ich kann heute Nacht auf mein gewöhnliches Schlafpulver(1) verzichten.”
Einmal fuhr ich in der Nacht erschrocken empor, ich hörte an der Hasuthür rütteln: „Um Gotteswillen,” dachte ich, „Herr von Hagen ist schon wieder da; aber nein, so schnell kommt man ja selbst in unserer Zeit nicht von Schweden zurück —” und beruhigt schlief ich wieder ein.
(1) Diese sehr frühe (September 1893 - Baudissin/Rosenhagen/Schlicht ist erst 27 Jahre alt!) Erwähnung eines „Schlafpulvers” ist besonders im Hinblick darauf interessant, daß der Autor im Oktober 1926 an einer Überdosis eines solchen verstorben ist. (Zurück)