Von Freiherrn von Schlicht.
in: „Nebraska Staats-Anzeiger und Herold” vom 11.10.1901
in: „Zur guten Stunde”, Jahrgg. 1901, Seite 586 ff., und
in: Der höfliche Meldereiter.
„Herr Hauptmann, Herr Hauptmann, ich glaube, wir haben die Zeit verschlafen!”
Mit starken Fäusten trommelte der Bursche gegen die verschlossene Tür des Schlafzimmers, das der Hauptmann von Bentheim mit seiner jungen, schönen Frau teilte, und er erreichte, daß aus dem Gemach gleichzeitig zwei Stimmen ertönten: eine hohe weibliche, die da „O Gott — o Gott!” rief, und eine tiefe männliche, die da ganz schrecklich fluchte.
„Aber Otto, so früh am Morgen, du hast ja noch nicht einmal Kaffee getrunken,” versuchte die junge Frau den Gatten zu beruhigen, aber der achtete nicht darauf und sprang laut fluchend aus dem Bett. „Daß dem Burschen, dem Esel, das auch gerade heute passieren muß,” schalt er, „gerade heute, wo alle Exzellenzen hier sind. Aber darauf kann der Mensch sich verlassen, wenn ich zu spät zum Dienst komme, sperre ich ihn erbarmungslos ein.”
Er hatte sich die Unterbeinkleider, sowie die Strümpfe angezogen und stürzte nun zum Waschtisch, aber unterwegs blieb er plötzlich stehen und sank mit einem halb unterdrückten Schmerzensschrei in sich zusammen.
„Aber Otto, was hast du nur?” fragte die Gattin besorgt.
„Einen Wadenkrampf,” stöhnte er, sich das linke Bein reibend. „Weiß der Teufel, wie ich so plötzlich dazu komme, auf jeden Fall tut es ganz niederträchtig weh.”
Und von neuem stöhnte er laut auf.
„Tritt doch einmal energisch mit dem Fuße auf den Boden,” riet seine Frau, „das soll doch sicher helfen.”
Er war erst seit wenigen Wochen verheiratet und tat daher noch alles, was seine junge, schöne Frau ihm riet, aber als sie ihm diesen Rat gab, wurde er sehr ärgerlich: „Ich kann doch nicht auftreten,” klagte er, „wenn ich das könnte, hätte ich doch keinen Krampf. Sei doch nicht so dumm, wenn du kein besseres Mittel weißt —”
In ihrer Angst und Sorge überhörte sie ganz das Unfreundliche seiner Worte. „Ich möchte dir so gerne helfen,” sagte sie zärtlich, „wenn ich nur wüßte wie? Halt — eben fällt es mir ein, ich las kürzlich in dem Briefkasten einer großen Zeitung: Das einfachste Mittel gegen Wadenkrampf soll darin bestehen, daß man sich die Kniescheibe mit — mit Erlaubnis zu sagen, mit seiner eigenen Spucke einreibt. Versuch' es doch mal.”
War es der Zufall, oder half das Mittel wirklich, — genug, plötzlich war der Krampf vorbei, der Hauptmann richtete sich stolz in seiner ganzen Schönheit auf und wenig später war die Waschung beendet.
„So — nun bin ich gleich fertig,” frohlockte er, „jetzt nur noch die Stiefel.”
Die hohen Lackstiefel standen bereit, aber als er nun den linken Fuß in den steifen Stiefelschaft steckte, verzerrte sich abermals sein Angesicht schmerzhaft, und das linke Bein hoch in die Luft streckend, saß er unbeweglich da wie aus Erz gegossen.
„Aber Otto,” sagte seine Frau in etwas vorwurfsvollem und tadelndem Ton.
„Kann ich etwas dafür, daß die Wade schon wieder krampft, ich meine, daß ich schon wieder einen Krampf habe?” rief er ärgerlich, „mir machen die Schmerzen doch auch weiter kein Vergnügen.”
Er bemühte sich, den Stiefel wieder anzuziehen, aber mit einem lauten „Oh — Oh!” gab er den Versuch gleich wieder auf.
„Probier es doch noch einmal wie vorhin,” riet seine Frau.
„Siehst du denn nicht, daß ich schon meine Reithosen mit dem Lederbesatz anhabe?” fragte er, „ wie sollte es da etwas helfen? Ich muß abwarten, ruhig abwarten — sieh doch einmal nach, wieviel Uhr es iat — Herrgott — ist das nicht schon die Regimentsmusik?”
Er sprang in die Höhe, um sofort wieder auf seinen Stuhl zurückzufallen, denn in seiner Erregung hatte er ganz vergessen, das linke Bein, das immer noch zum Himmel ragte, an sich zu ziehen.
Und die Musik kam immer näher und näher.
„Nun kann ich nur ruhig zu Hause bleiben,” klagte der Hauptmann, „nun bin ich doch erledigt. Der neue kommandierende General, der uns ja heute zum erstenmal mit seiner Anwesenheit beglückt, soll außer vielen anderen Tugenden auch die Untugend haben, immer zu früh zu den Besichtigungen zu kommen. Na, und wenn der hohe Herr vor mir auf dem Exerzierplatz eintrifft, dann gibt es ein Unglück.”
Seine Frau war in ihrer kurzen Ehe noch nicht sehr militärisch gewroden, sie konnte die Sachlage noch nicht richtig beurteilen, vor allen Dingen aber hatte sie den Wunsch, ihren Mann zu beruhigen, und so sagte sie denn jetzt: „Die Vorgesetzten sind gar nicht so schlimm, wie sie immer gemacht werden. Exzellenz nun ganz sicher nicht.”
„Was weißt du davon,” fragte er ironisch, während er seine schmerzende Wade mit zarter Hand streichelte — so lange er das Bein gen Himmel streckte, ging es, aber sobald er es herunter nahm, fing der Krampf wieder an, heftiger zu werden.
„Exzellenz ist ein sehr hetter Herr,” verteidigte die junge Frau den hohen Vorgesetzten, „sonst hätte er nicht gestern bei allen Familien seine Karte abgeben lassen, und vor allen Dingen nicht den Wunsch geäußert, daß das Liebesmahl heute nachmittag im Kasino mit Damen stattfindet — wir freuen uns alle sehr darauf, ihn kennen zu lernen.”
„Das sieht euch Frauen ähnlich,” schalt er, „wir sind glücklich, wenn wir die Vorgesetzten nicht sehen, und ihr brennt vor Begierde, sie kennen zu lernen. Na meinetwegen, aber eins weiß ich: entweder platzen jetzt die Stiefelschäfte oder meine Waden, aber hinein muß ich.”
Und die Energie half, eine halbe Minute später stand er auf seinen zwei Beinen.
„Soll ich dir nicht noch schnell eine Tasse Kaffee kochen lassen?” fragte seine Frau besorgt, „es dauert nur einen Augenblick.”
„Ich danke,” fragte er, „ich weiß zur Genüge, was bei euch ein Augenblick bedeutet. Zehn Minuten kann man unter Umständen warten, aber einen Augenblick? Soviel Zeit gibt es gar nicht.”
Er eilte die Treppe hinunter, schwang sich auf das Pferd und eilte dem Regiment nach. Und als er es endlich erreichte, sah er mit Schrecken, daß der kommandierende General mit den anderen Vorgesetzten an der Spitze der Marschkolonne ritt: auf dem Instanzenwege mußte er sich nun bei ihm melden.
„Ich melde mich ganz gehorsamst zur Stelle, Herr Major.”
Der Bataillonskommandeur warf ihm einen beinahe vernichtenden Blick zu, angenehm war es dem nicht, daß gerade ein Herr seines Bataillons bei dem Antreten gefehlt hatte. Er behielt es sich für später vor, mit dem Untergebenen darüber zu sprechen,jetzt sagte er nur: „Melden Sie sich bei dem Herrn Oberst.”
Eine halbe Minute später ritt der Hauptmann neben seinem Kommandeur: „Ich melde mich ganz gehorsamst zur Stelle, Herr Oberst.”
Es war kein liebevoller Blick, den der Vorgesetzte dem Untergebenen zuwarf und in den zornig funkelnden Augen war zu lesen: Glauben Sie, daß es mir angenehem ist, daß gerade bei meinem Regiment so etwas vorkommt? Wir sprechen später noch zusammen darüber. — Laut aber sagte der Herr Oberst: „Melden Sie sich bei dem Herrn General.”
Der Herr General schickte den Herrn Hauptmann zu dem Herrn Divisionskommandeur, und dieser ihn endlich zu dem kommandierenden Herrn General.
„Ich melde mich ganz gehorsamst zur Stelle, Eure Exzellenz.”
Der Kommandierende blickte überrascht auf, ihm war der Grund der Meldung im ersten Augenblick nicht ganz klar. „Ach so, richtig,” sagte er plötzlich, „Sie haben ja vorhin bei dem Antreten gefehlt, warum sind Sie denn eigentlich zu spät gekommen?”
„Ich hatte einen Wadenkrampf, Eure Exzellenz,” lautete die schnelle Antwort.
Der hohe Herr schüttelte verwundert und mißbilligend zugleich den Kopf. „Wie kann man nur —?” fragte er schließlich.
Gottlob war das eine rhetorische Frage, auf die der Untergebene keine Antwort zu geben brauchte, er hätte auch wirklich nichts zu erwidern gewußt.
„Leiden Sie öfter an Wadenkrämpfen, Herr Hauptmann?” fragte der Kommandierende nach einer kleinen Pause.
Der Untergebene erschrak nicht wenig bei diesen Worten, denn ihm schien aus denselben ein Zweifel an der Wahrheit seiner Aussage herauszuklingen. Es war ja in der Tat auch sehr sonderbar, daß er heute seit vielen, vielen Jahren zum erstenmal einen Krampf gehabt hatte — wenn er das aber zugab, würde Exzellenz ihm sicher noch weniger glauben, als er ihm jetzt zu glauben schien. Das durfte aber nicht sein, und so beantwortete er die Frage des Vorgesetzten denn im bejahenden Sinne.
Exzellenz sah den Untergebenen prüfend an. „Hm, hm,” meinte er nachdenklich, „das ist schlimm, sehr schlimm. Ich bin ja allerdings kein Mediziner, aber so viel glaube ich denn doch zu wissen, daß man ohne Krampfadern auch keine Wadenkrämpfe bekommt, besonders nicht zu wiederholten Malen. Hm, hm, mir ist es unverständlich, wie Sie es da überhaupt so weit gebracht haben, denn Krampfadern gehören bekanntlich zu jenen körperlichen Gebrechen, die den damit Behafteten dauernd dienstunbrauchbar machen und seine sofortige Entlassung zur Folge haben. Ich danke Ihnen.”
Der Hauptmann war für den Augenblick entlassen, und das war auch nur gut: war es ein Zufall, daß sein Pferd bei den letzten Worten Sr. Exzellenz stehen geblieben war, oder konnte auch der Rappe, ebenso wie sein Reiter, sich vor Schrecken nicht mehr rühren? Was der hohe Herr da eben gesagt hatte, klang für seine militärische Zukunft sehr wenig verlockend, denn von einem Soldaten verlangt man in erster Linie, daß er gesund ist.
„Ich hab's ja im voraus gewußt,” stöhnte der Hauptmann, „daß es ein Unglück geben würde. Aber Schuld habe ich selbst, warum habe ich nicht einfach gesagt, ich hätte die Zeit verschlafen? Dann hätte ich einige Liebenswürdigkeiten zu hören bekommen, und damit wäre der Schmerz ausgestanden gewesen. Na, der Tag fängt nett an, ich möchte nur wissen, wie er endet.”
Ein geschlagener Mann blieb er mit seinem Pferde halten, bis seine Kompagnie herankam, dann setzte er sich an die Tete und ritt mutig dem Kommenden entgegen. Mehr als sterben konnte er ja schließlich nicht, und wenn sein militärisches Ende nun einmal beschlossen war, dann wollte er wenigstens mit Anstand zugrunde gehen.
Und eine Folge dieses männlichen Entschlusses war es, daß er sich mit seiner Kompagnie, als das Gefecht bald darauf begann, zu mutig, zu tapfer benahm. Er ging mit wahrem Heldenmut vor, er achtete das feindliche Feuer nicht, er stürmte darauf los wie Blücher bei Waterloo. Und wie dieser dadurch Ruhm und Erfolg gewann, so wollte er dadurch Anerkennung finden.
„Herr!” erklang da plötzlich hinter ihm eine laute Stimme, „Herr, sind Sie denn ganz von Gott verlassen?”
Erschrocken drehte er sich um. Vor ihm hielt der kommandierende General.
„Herr Hauptmann, was machen Sie denn nur für Geschichten?” fuhr Exzellenz tadelnd fort, „das feindliche Feuer ist bekanntlich dazu da, damit es respektiert wird. Im Ernstfalle wäre Ihre ganze Kompagnie vernichtet. Wir müssen das auch bei unserer Übung nach Möglichkeit zum Ausdruck bringen, und deshalb erkläre ich Sie für den weiteren Verlauf des Vormittags außer Gefecht gesetzt.”
„Sehr hübsch — wirklich sehr hübsch,” dachte der Hauptmann, als er endlich wieder allein war. „Nun freue ich mich nur noch auf die Kritik, die kann genußreich werden. Am liebsten würde ich sie gar nicht mit anhören, aber ich glaube, sie wird mir nicht erspart bleiben.”
Der Hauptmann von Bentheim befand sich in einer wahrhaft grausamen Stimmung, als er spät am Mittag wieder zu Hause ankam.
„Tu' mir die einzige Liebe und frag' mich nicht, wie es war!” herrschte er seine Gattin an, als diese ihm entgegeneilte, „um es kurz zu sagen: es war überhaupt nicht. Du kannst dir jetzt dein Teil denken, und ich will jetzt mein Teil frühstücken, denn ich habe einen mordsmäßigen Hunger.”
Aber trotzdem aß er so gut wie gar nichts.
„Ich habe die Kritik noch nicht verdaut,” sagte er schließlich zu seiner Frau, die ihn mit traurigen und ängstlichen Augen ansah. „Sie sitzt mir noch hier oben im Hals, und ehe ich die nicht hinuntergeschluckt habe, kann ich trotz allen Hungers nichts hinunterbringen.”
Er schwieg einen Augenblick, währenddem er ein paar Mal sehr energisch schluckte, dann fuhr er fort: „Am liebsten ginge ich heute mittag nicht in das Kasino, ich mag Exzellenz gar nicht wieder unter die Augen treten. Kannst du mir nicht den Gefallen tun und krank werden? Dann hätte ich einen Vorwand, abzusagen.”
Aber die junge Frau widersprach auf das energischste.
„Das kannst du doch nicht von mir verlangen, Otto, ich habe mir noch extra für heute nachmittag ein neues Kleid machen lassen, das den Neid und die Bewunderung aller erregen wird. Warte es nur ab, wie hübsch ich nachher sein werde.”
Beide bestanden auf ihrem Willen, aber die junge Frau blieb schließlich doch Siegerin. Und als sie pünktlich zur befohlenen Zeit das Kasino betraten, erregte Frau von Bentheim wirkliches Aufsehen. Selbst der kommandierende General wurde auf merksam.
„Wer ist denn die Dame? Die ist ja geradezu von einer bezaubernden Anmut.”
Er ließ sich ihr sofort vorstellen und plauderte lebhaft mit ihr, bis er der Kommandeuse des Regiments den Arm bieten mußte, um sie zu Tisch zu führen. Aber als die Tafel aufgehoben war, und als man, um den Kaffee einzunehmen, in den großen, schattigen Garten ging, nahm Exzellenz wieder an der Seite der jungen Frau Platz.
Das war eine Auszeichnung, wie sie vorher noch niemals einer jungen Hauptmansfrau zuteil geworden war, das war in der Geschichte des Armeekorps noch nicht dagewesen.
Und als der Tanz begann, tanzte Seine Exzellenz mit Frau von Bentheim den ersten Walzer.
Die junge Frau strahlte, und ihr Gatte strahlte auch. „Dies ist ja doch das letzte Kasinofest, das wir mitmachen,” dachte er, „da freut es mich wenigstens für meine Frau, daß sie eine so angenehme Erinnerung an den heutigen Abend behalten wird.”
„Sie haben ja eine selten liebenswürdige und charmante Gattin, mein lieber Herr Hauptmann,” redete ihn da plötzlich Seine Exzellenz an, „und schon mit Rücksicht auf sie sollten Sie wirklich ernsthaft etwas für Ihre Gesundheit tun. Mit Wadenkrämpfen ist absolut nicht zu spaßen, und es wäre doch für Ihre wirklich ganz allerliebste Frau Gemahlin, die, nebenbei bemerkt, wie eine Elfe tanzt, sehr, sehr traurig, wenn Ihr Leiden Sie über kurz oder lang zwingen sollte, Ihren Abschied zu nehmen. Ich habe vorhin schon mit Ihrem Herrn Oberst gesprochen — reichen Sie ruhig sofort einen längeren Urlaub ein, ich bewillige Ihnen denselben gerne, und wenn Sie das richtige Bad aufsuchen, zweifle ich nicht daran, daß Sie ganz gesund werden und noch viele, viele Jahre Ihren Dienst tun können. Stabsoffizier müssen Sie doch unter allen Umständen werden — es wäre ja jammerschade für den gesellschaftlichen Verkehr, wenn eine so reizende Frau wie die Ihrige der Armee nicht wenigstens noch als Kommandeuse angehören sollte.”
Der Hauptmann von Bentheim war so verblüfft, daß er im ersten Augenblick gar nicht wußte, was er sagen sollte. War dieser liebenswürdige Herr wirklich der grobe Vorgesetzte von heute morgen? Er wußte sehr wohl, wem er die große Freundlichkeit des hohen Herrn verdankte — seine kleine Frau hatte durch ihre Anmut und durch ihre Schönheit auch das Herz Sr. Exzellenz gewonnen und diesen zur Milde gestimmt. So ruhten seine Blicke mit zärtlichen Blicken auf seiner Gattin, als diese jetzt am Arm eines Kameraden an ihm vorübertanzte, und mit dem Brustton tiefinnerster Überzeugung sagte er: „Exzellenz, mit der Kommandeuse ist es nicht getan — die Frau muß wenigstens Generalin werden!”