Halt aus!

Skizze aus dem Offiziersleben.
Von Freiherr von Schlicht.
in: „Die Nation”, Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft und Literatur,
24.Jahrgg., Nr. 8, 24.11.1906, S. 127 - 128,
in: „Halt aus!”,
in: „Ihre Durchlaucht der Regimentschef” und
in: „Seine Hoheit;”


Leutnant Redberg stand vor dem Spiegel und betrachtete sein Ebenbild immer wieder, aber nicht aus Eitelkeit, denn er wußte selbst nur zu genau, daß er keine Schönheit war, das hatte er sich im Laufe der Kadettenjahre oft genug sagen lassen müssen. Eher klein als groß, war seine Haltung durchaus unmilitärisch, trotzdem man genug an ihm herumgedrillt hatte, und sein Gesicht war auch nicht danach angetan, bewundernde Blicke auf sich zu lenken, er hatte einen zu großen Mund, schlechte Zähne und etwas abstehende Ohren. Nein, er war keine Schönheit, wie oft hatte er schon darunter gelitten, wie viel höhnische Worte hatte er deshalb nicht über sich ergehen lassen müssen. „Der sieht ja aus wie ein Affe.” Mit diesem Ausruf hatten ihn die Kameraden im Kadettenkorps begrüßt, als er im Alter von acht Jahren dort eintrat, und „der Affe” war er für die anderen geblieben, kaum einer hatte Mitleid mit ihm gehabt. Niemand forderte ihn auf, sich zu beteiligen, wenn er dem Spiel der anderen zusah, niemand kümmerte sich um ihn; nur wenn es galt, einen Sündenbock ausfindig zu machen, damit die anderen schuldlos ausgingen, dann erinnerte man sich seiner. Und wenn er dann abends im Schlafsaal lag, krank vor Heimweh, sich weit weg von den Kameraden sehnte und bittere Tränen weinte, da geschah es nur zu oft, daß die Aelteren ihn verprügelten, weil er ein solches „Weib” sei. Er wußte ein Lied von den Grausamkeiten im Kadettenkorps zu singen, halbtot war er oft geschlagen worden, weil er sich zuerst die Neckereien nicht gefallen ließ und sich zur Wehr setzte, wenn die Aelteren sich an ihm vergriffen. Und in jammernden Briefen hatte er dann seine Mutter angefleht: nimm mich wieder heraus aus dem Korps, ich halte das Leben nicht aus, es wird auch nie ein guter Offizier aus mir werden, meine Haltung und meine ganze Erscheinung steht dem im Wege. — Er wußte, wie viele Tränen diese Briefe seiner Mutter entlockten, wie gern hätte sie ihm geholfen, aber sie konnte ja nicht, sie mußte froh sein, daß ihr einziger Sohn, als sie nach dem Tode ihres Mannes völlig mittellos zurückblieb, durch hohe Fürsprache eine Freistelle im Korps erhielt. So schrieb sie ihn [sic! D.Hrsgb.] denn nur immer und immer wieder: Halt aus, mein Liebling, halt aus! Einmal muß es ja besser werden.

Halt aus!

Um die Mutter nicht weiter zu betrüben, war dies Wort seine Richtschnur geworden; er hatte es gelernt, von den Widerwärtigkeiten allgemach alles hinzunehmen, ohne zu klagen.

Mit den glänzendsten Zeugnissen in den wissenschaftlichen Fächern, mit den schlechtsten Zensuren in allen Leibesübungen, verließ er endlich das Korps und trat als Fähnrich bei dem Regiment ein, dem er überwiesen worden war. Deutlich las er die Enttäuschung in den Gesichtern der Offiziere, als er ihnen vorgestellt wurde; und der Oberst hatte sich am allerwenigsten bemüht, es zu verbergen, wie wenig er über diesen Zuwachs seines Offizierkorps erfreut sei. Kein Wort des Lobes oder der Anerkennung über die glänzenden Zeugnisse, die Redberg in den militärischen Wissenschaften erhalten hatte, war über seine Lippen gekommen, sondern nur eine ernste Ermahnung, in Zukunft recht auf seine körperliche Haltung zu achten. Un der Oberst mußte auch die anderen Vorgesetzten aufgefordert haben, in dieser Hinsicht ihn zu erziehen, denn schon vom ersten Tage an hieß es vom Morgen bis zum Abend beständig: „Haltung, Fähnrich, Haltung!” Und als man sah, daß die Güte nichts half, da versuchte man es mit Strenge, und zuletzt mit beißendem Spott, um zu sehen, ob denn nichts sein „Ehrgefühl” wecke, ob ihn denn nichts dahinbringen könne, endlich auf seine Haltung zu achten. Die Schamröte stieg ihm oft ins Gesicht, sein Stolz, sein ganzes Denken und Empfinden lehnte sich gegen diese Behandlung auf, er knirschte mit den Zähnen und ballte die Fäuste in ohnmächtiger Wut, aber dann dachte er doch wieder an das Wort der Mutter: Halt aus, einmal muß es ja besser werden! Einmal wurde er ja doch Leutnant, und dann hatte alles Chikanieren ein Ende. Was man ihm, dem Fähnrich, nicht zu glauben schien, daß es gar keiner Ermahnung bedürfe, daß er sich schon um seiner selbst willen besser halten würde, wenn es irgendwie in seiner Macht stände, das würde man ihm, sobald er Offizier war, ohne weiteres glauben.

Und jetzt war der große Augenblick da.

Vor einer halben Stunde hatte er seine Beförderung erfahren; nun stand er im Schmuck der Waffen vor dem Spiegel, nicht, um sich an seinem eigenen Bilde zu erfreuen, sondern um sich durch den Augenschein immer von neuem zu überzeugen, daß er jetzt wirklich die Epaulettes auf den Schultern trug, daß er jetzt wirklich Leutnant war. Kein Gefühl des Stolzes schwellte seine Brust, wohl aber eine grenzenlose Freude, daß nun endlich die langen Jahre der Erziehung vorüber waren, daß er nun ein Mann sei, berufen, die Söhne des Volkes zu erziehen. Er war jetzt, wo immer er sich in Zukunft auch zeigte, ein Angehöriger des bevorzugtesten Standes der ganzen Nation, und das alles gab ihm die Gewißheit: die Leidensjahre sind jetzt für dich vorüber, denn wenn man dich für würdig hält, andere zu erziehen, wird man nicht beständig an dir selbst herumkorrigieren. Du müßtest ja auch vor Scham in die Erde sinken, wenn man dir auch jetzt noch zurufen würde: Herr Leutnant, halten Sie sich besser, sonst muß ich Sie bestrafen!

Ich werde mich jetzt bei meinem Vorgesetzten melden, sagte er sich endlich.

Wenig später stand er seinem Oberst gegenüber. Der sah nicht ohne Schrecken auf seinen jüngsten Leutnant, denn als Offizier sah er noch unvorteilhafter, noch unmilitärischer aus, als in der kleidsamen Fähnrichsuniform. Wie sollte das werden? So reichte er ihm nur mit flüchtigen Worten des Glückwunsches die Hand, dann sagte er: „Und jetzt, mein lieber Redberg, da Sie Leutnant geworden sind, darf ich es wohl als selbstverständlich von Ihnen erwarten, daß Sie noch mehr als früher bemüht sein werden, sich eine bessere Haltung anzugewöhnen, daß Sie alles tun, was Sie können, damit Sie den vorteilhaften Gesamteindruck, den das Offizierkorps macht, in keiner Weise vererben. Die Natur hat Sie etwas stiefmütterlich behandelt, da müssen Sie umsomehr bemüht sein, selbst auf sich zu achten. Denken Sie stets daran, daß die Haltung des Offiziers vor der Front von dem größten Einfluß auf die Mannschaften ist.”

Und dasselbe, wenn auch mit anderen Worten, sagte der Major; und das gleich sagte auch der Hauptmann. Der sagte es am deutlichsten, schon um seinem Herzen darüber Luft zu machen, daß er Redberg auch in Zukunft bei seiner Kompagnie behielt. Er hatte gehofft, ihn als Leutnant los zu werden, nun konnte er sich noch Jahr und Tag mit ihm abquälen. Gewiß, der arme Kerl tat ihm leid, aber angenehm war für ihn die Aussicht keineswegs, daß er nun beständig an seinem Leutnant herumerziehen müsse, daß dieser bei dem Exerzieren in größeren Verbänden stets unangenehm auffallen würde, und daß die höheren Vorgesetzten sich schon seines Leutnants wegen eingehender mit seiner Kompagnie beschäftigen würden, als mit einer anderen.

Am allerdeutlichsten aber sprach sich der Herr Oberleutnant aus. „Wissen Sie, Redberg, schon meinetwegen müssen Sie ein anderer Mensch werden. Ich habe keine Lust, mir täglich sagen zu lassen, daß ich Ihnen eine bessere Haltung beibringen soll. Und ich habe auch keine Lust, mich bei dem Parademarsch mit der ganzen Kompagnie hundertmal zurückschicken zu lassen, weil Sie den Totaleindruck verderben. Na, Sie sind ja noch jung, und schon in Ihrem eigenen Interesse werden Sie ja tun, was Sie können, um auch äußerlich ein Offizier zu werden, denn sonst stehen Ihnen schwere Jahre bevor, um die ich Sie nicht beneide. Jetzt, da Sie Offizier sind, können wir keine Rücksicht mehr auf Sie nehmen, jetzt müssen Sie anders werden, denn sonst fallen Sie auch in allen Gesellschaften unangenehm auf. Die jungen Mädchen lachen über Sie, die Zivilisten machen sich über Sie lustig, und das ist für uns noch unangenehmer als für Sie.”

Am Nachmittag desselben Tages fand nach altem Brauch für den neuernannten Offizier im Kasino ein Liebesmahl statt, aber wer nicht kam, war Redberg.

Endlich schickte man in seine Kasernenwohnung hinauf. Man fand ihn tot auf dem alten Ledersopha, das zu dem eisernen Bestand einer jeden Leutnants­wohnung gehört. Vor ihm lag ein kurzer Brief an seine Mutter: „Verzeih, wenn ich Dir diesen Schmerz bereite, wenn ich von Dir gehe, trotz Deiner Mahnung: halt aus. Der heutige Tag hat mir gezeigt, daß ein Aushalten nicht nur zwecklos, sondern demütigend und kränkend wäre. Ich müßte kein Ehrgefühl haben, wenn ich noch länger dieses Leben ertrüge.”

Redberg hatte sich erschossen, und das Militärwochenblatt brachte wenige Tage später einen warmempfundenen Nachruf des Offizierkorps, in dem das plötzliche Hinscheiden des jungen Leutnants schon deshalb auf das schmerzlichste bedauert wurde, weil seine seltene geistige Veranlagung zu den besten und schönsten Hoffnungen berechtigte — — —

Dresden.       Freiherr von Schlicht.


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