Der große Tag.

Militärisch-humoristische Plauderei.
Von Freiherrn v. Schlicht.
in: „Hamburger Fremdenblatt” vom 2.Febr. 1904 und
in: „Zu dumm!”.


Der große Tag ist da: heute soll zum ersten Mal in der Kompagnie exerziert werden.

Die Rekrutenbesichtigung ist vorüber, man hat das Zug–Exerzieren hinter sich und ebenso die Tage, in denen man sich theoretisch und praktisch auf die Kompagnieschule vorbereitete. Heute soll nun zum ersten Mal in der Kompagnie exerziert werden, der Herr Hauptmann wird den Säbel ziehen und die Herren Leutnants werden in Reih und Glied eintreten und sich neben die Mannschaften stellen und mit diesen rechts und links und Front und Kehrt üben und alles, was sonst noch befohlen wird.

Und die Herren Leutnants werden nicht nur tun, was befohlen wird, sondern sie werden ebenso gut wie die Musketiere barbarisch etwas auf den Hut bekommen, wenn sie ihre Sache nicht gut machen. Das hat den Rekruten gestern ein „alter Mann” erzählt, und wenn die Kerls auch nicht gerade bösartig sind, so freuen sie sich doch auf den Augenblick, wo ihre Leutnants auch etwas auf den Hut bekommen, das ist doch eine kleine Abwechslung und ist doch mal etwas anderes, als wenn sie selbst alle Grobheiten anhören müssen.

Die meisten haben in freudiger Erwartung der vielen neuen Dinge, die ihnen der große Tag bringen wird, kaum geschlafen, immer und immer wieder haben sie an die Worte denken müssen, die gestern mittag bei der Paroleausgabe der Feldwebel zu ihnen sprach:

„Mit dem morgigen Tag werdet Ihr aufhören, Schafe zu sein, aber beruhigt Euch, Ochsen bleibt Ihr trotzdem, Eure Schafs­köpfigkeit aber wird insofern von Euch weichen, als nicht der Herr — denn auf diesen ist in solchen Fällen kein Verlaß — sondern der Herr Hauptmann und die Herren Offiziere und wir, die Herren Unteroffiziere, Euch die Augen darüber öffnen werden, was es heißt, Soldat zu sein. Bis jetzt waret Ihr doch nur Rekruten, und daran hat auch das Zugexerzieren nichts geändert. Mit dem morgigen Tag tritt aber der Ernst des militärischen Lebens an Euch heran. Was für den Jüngling die Konfirmation, das ist für den Soldaten der Tag, an dem er zum ersten Mal in der Kompagnie exerzieren darf. Das ist sozusagen ein Reifezeugnis, das man seinen krummen Beinen ausstellt, denn für Euch sind die Beine die Hauptsache. Nicht der Geist, den haben wir, Eure Vorgesetzten, uns ist er angeboren, Euch ist er nicht einmal anzuerziehen; aber das schadet auch nichts, Ihr braucht ihn nicht. Weisheit verlangt von Euch kein Mensch, was ich aber von Euch für morgen verlange, ist ein tadelloser Anzug, blitzblanke Knöpfe und ein tadelloses Lederzeug. Denn wie die Braut sich schmückt, wenn sie zum ersten Mal an der Seite des Geliebten über die Straße geht, so müßt Ihr Euch schmücken, wenn Ihr zum ersten Mal unter persönlicher Anführung des Herrn Hauptmanns nach dem großen Exerzierplatz marschiert. Das ist eine Ehre und eine Auszeichnung, um die Euch Eure Enkel noch beneiden werden, vorausgesetzt, daß Ihr Jammerhähne überhaupt Enkel bekommt. Und nun merkt Euch, was ich Euch sagte.”

Jetzt ist der große Tag da, und stolz aufgerichtet marschieren die Leute nach dem Exerzierplatz, selbst außerhalb der Stadt, wo es ohne Tritt geht, schreiten sie stolz einher, daß es eine Freude ist, es mit anzusehen; „sie marschieren einer schönen Zukunft entgegen”, so hat man ihnen gesagt, da müssen sie doch auch äußerlich einen frischen Eindruck machen.

Der Feldwebel(1), welche freudige Erwartung aus den Zügen seiner Leute spricht, im stillen ist er sehr stolz, daß seine gestrige Rede solchen Eindruck auf die Kerls machte, aber ganz im geheimen macht er sich doch über sie lustig: „Wenn die Brüder wüßten, was ihnen bei dem Kompagnie–Exerzieren bevorsteht, sie würden am liebsten ganzes Bataillon Kehrt machen und im Marsch Marsch davonlaufen, irgend wo hin, wo es keinen Exerzierplatz, keine Soldaten und keinen Parademarsch gibt. Aber sie wissen nicht, was ihnen bevorsteht, und das ist gut. Ich bin ein loyaler Untertan meines Kaisers, aber so viel weiß ich, wenn ich der Kaiser wäre, ich schaffte alle Schulen ab. Das Volk muß dumm erhalten werden, womöglich noch dümmer, nur dann kann man die Brüder so erziehen, wie man möchte.”

Er wirft einen Blick in die Kompagnie, da sieht er einen Mann, der das Gewehr schlecht trägt: „Sie, Meier,” ruft er ihm zu, „Sie tragen das Gewehr wohl nach der neuesten Mode, aber bei uns gibt es nur eine Mode, und die lautet „nicht kommode”. Ich werde Sie mal notieren.”

Und der Herr Feldwebel schreibt den Sünder auf. Er hat sich in sein dickes Notizbuch gestern abend von seinem Schreiber neues Papier hineinlegen lassen, denn er weiß, jetzt kommen die Tage, wo es alle Augenblicke heißt: „Feldwebel, schreiben Sie den Mann zum Nachexerzieren auf.”

Und er schreibt alle auf, die er aufschreiben soll, und im Interesse des Königlichen Dienstes noch ein paar Mann mehr, so genau kommt es nicht darauf an, die Hauptsache ist, daß die Kerls was lernen. Der Hauptmann kann ja, wenn er vor der Front reitet, nicht alles sehen, aber ihm, dem Feldwebel, der sich hinter der Front aufhält, entgeht nichts, und unbarmherzig bringt er die Faulen und die Ungeschickten zur Meldung.

In der Freude ihres Herzens stimmen die Leute jetzt ein Lied an.

„Ihr Schafsköpfe,” denkt ein Leutnant, „zum Singen habt ihr, weiß Gott, ebenso wenig Veranlassung wie ich.”

Er läßt den Kopf auf die Brust sinken und döst wieder vor sich hin. Er weiß ganz genau, was der heutige, sogenannte große Tag und was die nächsten Wochen bringen. Er ist jetzt dreißig Jahre alt, mit dem achten ist er ins Korps gekommen, also jetzt schon zweiundzwanzig Jahre Soldat. Wie oft hat er in dieser Zeit nicht schon das Kompagnie–Exerzieren mitgemacht. Ihm wird schwach bei dem Gedanken und er greift in die hintere Rocktasche und holt die silberne Kognakflasche hervor. Ein kräftiger Schluck, und er hat wieder neuen Lebensmut.

Zweiundzwanzig Jahre Soldat, wie oft hat er da nicht schon als Kadett und als Fähnrich mit der Kompagnie exerziert und jetzt schon seit zehn Jahren als Leutnant. Und wie oft wird er nicht noch die Kompagnieschule durchmachen müssen. Wenn er Glück hat, ist er in sechs Jahren Hauptmann und auch dann ist er noch nicht erlöst, dann geht die Sache erst recht los, dann muß er neun Jahre hindurch jedesmal, wenn die militärische Saison beginnt, mit seinen Leuten täglich, wochenlang, auf den großen Exerzierplatz ziehen, seine Leute lehren und seine Leutnants so anschnauzen, wie er jetzt angeschnauzt wird.

Er stöhnt schwer auf, und am liebsten würde er noch einen Kognak trinken, aber er muß sparsam mit dem Getränk umgehen, denn wenn er jetzt schon alles austrinkt, bevor er den ersten Anpfiff erhalten hat, was bleibt dann für nachher übrig? Und nachher wird er erst recht den Wunsch nach einer Stärkung haben.

Er stöhnt noch einmal laut auf, und in demselben Augenblick stöhnt noch ein anderer, und der stöhnt lediglich deshalb, weil er den ganzen Morgen noch nicht zu stöhnen aufgehört hat. Das ist der Herr Hauptmann, der neben seinen Kerls reitet. Er will sie nicht mehr ansehen, aber er kann den Blick nicht mehr von ihnen wenden, er muß sie anschauen immerdar. Nicht etwa, als ob er stolz wäre auf die Heldenschar, o nein, aber die Kerls, die da mit ihren Kommißstiefeln einen feinen Staub aufwirbeln, sind seine militärische Zukunft. Die Zukunft des Deutschen Reiches liegt auf dem Wasser, die seinige in den Beinen seiner Leute. So sieht er sich die Beine denn immer und immer wieder an, er hat sie schon während des Rekruten–Exerzierens ganz genau studiert und weiß von jedem einzelnen der zweihundert Knochen ganz genau, wie er beschaffen ist. Aber trotzdem interessieren sie ihn immer aufs neue: „Werde ich einen guten Parademarsch herausbekommen? Wird der Frontmarsch klappen? Werden die krummen Beine es begreifen, wieviel Schritt sie bei dem Abbrechen in Sektionen auf der Stelle und wieviel sie freiweg machen müssen? Werden Sie es begreifen?” Das ist eine Frage, auf die es keine Antwort gibt, wenigstens heute noch nicht, aber er fragt sich immer und immer wieder, denn von dem Ja oder Nein hängt es ab, wie die Besichtigung ausfällt, ob man noch ein Jahr mit ihm kapituliert, oder ob man ihm den berühmten Tritt in den Ruhestand versetzt.

Wieder stöhnt er laut auf und in diesem Augenblick seufzt auch sein Gaul so schwer, daß beinahe die Sattelgurte platzten: „Was hast Du denn, Alte?” fragt der Hauptmann.

Aber der Gaul bleibt die Antwort schuldig; wer da wirklich tiefes Leid zu tragen hat, verschließt es in seinem tiefsten Innern und kokettiert nicht damit anderen gegenüber.

Und der Gaul hat schweren Kummer. Auch er weiß ganz genau, was ihm bevorsteht. Seit sieben Jahren trägt er nun schon seinen Herrn zum Kompagnie–Exerzieren und jünger ist er in der Zeit auch nicht geworden. Wieviel Parademärsche hat er nicht schon abgenommen, er kann sie schon gar nicht mehr mit ansehen, und unwillkürlich schließt er jedesmal die Augen, wenn die Kompagnie ankommt, denn er weiß es im voraus, gut ist es nie. Das würde ihn nun weiter nicht erregen, wenn er nicht darunter leiden müßte. Wenn sein Hauptmann sich ärgert, hat er die Angewohnheit, nervös mit den Beinen zu strampeln, an den Beinen aber sitzen die Füße, und an diesen die Sporen, und die bekommt er dann jedesmal zolltief in die Weichen hinein, und das bereitet ihm absolut kein Vergnügen. In seiner Jugendzeit machte er den Versuch, seinem Reiter dies dadurch abzugewöhnen, daß er mit ihm durchging und ihn plötzlich in den Sand warf, aber nun ist er ein lebensmüder Greis geworden, er hält bei allem still und erträgt es auch mit Geduld, wenn der Hauptmann voller Verzweiflung die Hände ringt und es vergißt, dabei die Zügel loszulassen. Dann hat er die Empfindung, als wenn ihm mit einem Male das ganze Gebiß herausgezogen würde — bei einem falschen hätte er nichts dagegen, aber es ist sein Stolz, daß er trotz seines hohen Alters noch echte Zähne hat. Wenn der Schmerz vorüber ist, pflegt er lang die Zunge herauszustrecken, aber sein Reiter kommt gar nicht darauf, daß ihm dieses Zeichen der Hochachtung gilt, und so macht ihm auch dies keinen Spaß mehr.

Endlich hat die Kompagnie den großen Exerzierplatz erreicht, man gebraucht mehr als ein Stunde, um dorthin zu gelangen, und in endloser Weite dehnt sich der Platz aus, um den alle Regiments­kommandeure den Truppenteil beneiden, weil man da die Leute sich ordentlich auslaufen lassen kann. Die Leute selbst aber wünschen, der Fiskus wäre auch weiterhin geizig geblieben, und hätte die Million, die der Platz kostet, nicht bewilligt. Ihnen ist von allen Entfernungen, die sie mit ihren Beinen zurücklegen müssen, die kürzeste die liebste, und von allen Sprüngen lieben sie nur einen: den ins Bett.

Für einen Augenblick treten die Leute fort, um ihren Anzug in Ordnung zu bringen, dann heißt es: „An die Gewehre!” Der Herr Hauptmann zieht den Säbel, und die Herren Offiziere folgen dem Beispiel und treten in ihre Löcher.

Der große Moment ist da: Das Exerzieren, um das noch die Enkel die jetzige Generation beneiden werden, kann beginnen.

Und es beginnt, und mit dem Exerzieren beginnt das Fluchen: Vor der Front flucht der Herr Hauptmann, in der Front fluchen halblaut die Zugführer, hinter der Front fluchen die Unteroffiziere und im stillen fluchen die Leute. Nach der ersten halben Stunde merken sie, daß dies nur deshalb ein großer Tag ist, weil er ihnen eine große Enttäuschung bereitet. Früher wurden sie im einzelnen geschliffen, jetzt schleift man sie en gros, und, klug wie sie sind, sehen sie voraus, daß es in Zukunft auch immer so bleiben wird. Und wie vorhin die Vorgesetzten, so stöhnen jetzt sie laut auf, und wüährend sie einen Frontmarsch nach dem anderen machen, indem sie dabei die Beine mit auswärts genommener und niedergedrückter Fußspitze in einer Entfernung von achtzig Zentimetern zur Erde setzen, sind ihre Gedanken weit weg. Sie sehnen sich zurück nach der heimatlichen Scholle und denken darüber nach, ob es nicht viel praktischer wäre, hinter den Pflug zu gehen und den Acker zu bestellen, als hier einen Frontmarsch nach dem anderen zu machen, der sich von seinen Vorgängern und von seinen Nachfolgern nur dadurch unterscheidet, daß der eine immer noch miserabler ist als der andere.

Und über diese törichten Gedanken der Untergebenen kann man sich nicht weiter wundern, denn der Feldwebel hat ja selbst gesagt: „Für Euch sind nur die Beine da, nicht der Geist, den haben wir, Ihr braucht ihn nicht.”

Und bei den Beinen, besonders, wenn sie schön sind, kann man sich allenfalls etwas denken, aber mit den Beinen?

Das brächten nicht einmal die Vorgesetzten fertig, wenn ausnahmsweise einmal die Untergebenen den Geist, sie selbst aber nur die schöne Figur hätten.

Aber das ist ja Gott sei Dank auch ausgeschlossen.


Fußnoten:

(1) In der Buchfassung heißt es: „der Feldwebel sieht”. (zurück)


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