Humoreske von Freiherr von Schlicht
in: „Castroper Zeitung” vom 21.3.1925,
in: „Honnefer Volkszeitung” vom 25.3.1925,
in: „Sauerländisches Volksblatt” vom 28.3.1925,
in: „Stralsundische Zeitung”, Sonntagsbeilage vom 29.3.1925,
in: „Unterhaltungsbeilage” zum „Wittener Tageblatt” vom 2.4.1925,
in: „Der Grafschafter” vom 4.4.1925,
in: „Dortmunder Zeitung” vom 11.5.1925
Die verwitwete Frau Geheimrat, die sich als das Oberhaupt ihrer zahlreichen, in der großen Stadt lebenden Verwandten fühlte, und als solche, wenn auch zum Teil widerstrebend, anerkannt wurde, hatte zu heute nachmittag um fünf Uhr einen Familienrat einberufen und dabei ausdrücklich betont, es handle sich um eine Angelegenheit von der allergrößten Bedeutung. Keiner dürfte fehlen, ganz einerlei, ob er krank oder sonst irgendwie verhindert wäre. Unterstützt von ihrer erst siebzehnjährigen Tochter, einem auffallend hübschen, in ihrem Aeußeren und in ihrem Wesen gleich reizenden Geschöpf, empfing sie ihre Verwandten, von denen sie alle mit der Frage begrüßten, was es denn nur plötzlich so Wichtiges gäbe und geben könne, daß die Beratung darüber nicht den kleinsten Aufschud erdulde.
Aber als die Familienmitglieder dann — in der für solche feierlichen Fälle ein für allemal festgesetzten Reihenfolge und Rangordnung — um die Frau Geheimrat herumsaßen und von dieser erfuhren, um was es sich handelte, da kreischten gleichzeitig fünf Frauenstimmen gellend auf, Tante Hanna, die an nervöser Herzschwäche litt, rief ihrem Mann zu: „Georg, mein Riechfläschchen, aber schnell, ich werde ohnmächtig!” und kräftige Männerstimmern ließen dem Gehege der Zähne einen aus tiefstem Herzen kommenden Fluch entgleiten, gegen den die Frau Geheimrat ausnahmsweise keinerlei Einspruch erhob, obgleich sie es sonst nicht duldete, daß in ihrem Hause geflucht wurde. Diese grenzenlose und allgemeine Erregung war nicht grundlos: Onkel Eduard hatte sich verlobt! Er, der da oben in Ostpreußen auf seinem großen Rittergut saß, dessen Wert auch heute noch kaum abzuschätzen war, Onkel Eduard, der das Kunststück fertig gebracht hatte, sein in die Millionen gehendes Vermögen durch die Inflationszeit hindurch zu retten, er, der in seiner ersten kinderlosen Ehe so unglücklich gewesen war, daß er, mit fünfundvierzig Jahren Witwer geworden, in Laufe der langen Jahre zahllose Male geäußert hatte, keine Macht der Erde, und wäre es die stärkste Lokomotive, an die er mit eisernen Ketten geschmiedet wäre, brächte ihn einmal wieder auf das Standesamt, er, der seit vielen Jahren als reicher Erbonkel in der Familie hoch geschätzt und zum Geburtstag und zu Weihnachten stets mit fertig gekauften, aber trotzdem natürlich eigenhändig angefertigten Handarbeiten, die bei ihm mehrere große Schränke füllen mußten, beschenkt worden war, — Onkel Eduard hatte sich trotz seiner beinahe schon siebzig Jahre und trotzdem er doch schon mit eindreiviertel Füßen im Grabe stand, wieder verlobt und wollte schon in der allernächsten Zeit heiraten.
Starres Entsetzen hielt alle gefangen. Das, was sie da zu hören bekamen, war — ja, was es war, das wußten sie so schnell nicht, aber auf jeden Fall war es etwas ganz Ungeheuerliches, und das Leben kehrte erst wieder in alle zurück, als die Frau Geheimrat die Frage zur Debatte stellte: Was können wir tun und was haben wir zu tun, um Onkel Eduard von diesem übereilten und unüberlegten Schritt zurückzuhalten, der für ihn, bei seiner Auffassung von der Ehe, und bei seinem Alter, sicher von den traurigsten Folgen begleitet sein wird?
Darüber ging die Aussprache, die zuweilen in geradezu stürmische Lärmszenen ausartete, hin und her. Immer neue Vorschläge wurden gemacht und wieder verworfen, bis schließlich die Frau Geheimrat mit ihrer Ansicht durchdrang: „Ich habe ja die längste Zeit gehabt, um mir die Nachricht durch den Kopf gehen zu lassen, und um mir zu überlegen, was da zu tun ist. Und da meine ich, daß jeder Protest und jeder Widerspruch unsererseits Onkel Eduard nur reizen und ihn in seinem in erster Linie für ihn unheilvollen Beschluß bestärken wird. Je mehr wir ihn aber in seinem Vorhaben bestärken und je herzlicher wir ihm zu seiner Verlobung gratulieren, je mehr er aus unseren Briefen ersieht, daß wir ihm neidlos sein neues Glück gönnen, daß wir nur an sein Wohlergehen und nicht an das unsrige denken, desto eher wird er sich die Sache vielleicht doch noch anders überlegen, oder wenn nicht, dann wird er uns, die wir an seiner Wiederverheiratung so herzlichen Anteil nehmen, ganz sicher doch irgendwie in seinem Testament bedenken, was er ganz gewiß nicht tun würde, wenn wir gegen seinen Schritt protestieren wollten.”
Das leuchtete schließlich allen ein, und so wurde denn der Familienrat bald geschlossen, damit ein jeder noch heute Zeit habe, in dem besprochenen Sinne an Onkel Eduard zu schreiben. Und als die Verwandten sich verabschiedet hatten, da setzte auch die Frau Geheimrat sich sofort hin, um in ihrer Eigenschaft als Familienoberhaupt dem Onkel Eduard ganz besonders herzlich die Glückwünsche der Familie und erst recht ihre eigenen zu übersenden. Vorher aber rief sie noch ihre Tochter Ilse zu sich und befahl ihr: „Auch du wirst jetzt sofort an Onkel Eduard schreiben. Trotz deiner Jugend habe ich dich dem Familienrat beiwohnen lassen, damit du in allen Einzelheiten erkennst, was für uns auf dem Spiel steht. Du bist in früheren Jahren ja stets Onkel Eduards Liebling und Verzug gewesen, da hatte ich immer im stillen gehofft, er würde dich in seinem Testament besonders reich bedenken. Vielleicht, daß er das bis zu einem gewissen Grade auch heute noch tut, wenn du ihm, wie es ja auch deinem kindlich unverdorbenen Gemüt, daß [sic! D.Hrsgb.] du dir glücklicherweise noch erhalten hast, entspricht, so herzlich und so warm schreibst, daß er aus jedem deiner Worte heraushört, wie ehrlich gerade du dich für ihn und mit ihm seines neuen späten Glücks freust. Du, die du die ganze Schwere des uns betroffenen Unglücks noch nicht einzusehen vermagst, wirst schon die richtigen Worte zu finden wissen. ich verlasse mich da ganz auf dich. Du brauchst mir den Brief, ehe du ihn abschickst, nicht zu zeigen, der Gedanke daran würde dich beim Schreiben vielleicht ungünstig beeinflussen und dir deine Natürlichkeit und Unbefangenheit nehmen. Und nun geh', mein Kind.”
Fünf Minuten später saß Ilse in ihrem hübschen kleinen Zimmer, hatte vor sich die Schreibmappe und das Briefpapier liegen und biß verzweifelt in ihren Federhalter, während sie, wie schon den ganzen Nachmittag, gegen die Tränen ankämpfte, die ihr wie Wasserfälle aus den hübschen, dunkeln Augen stürzen wollten, denn wenn einer in der Familie durch die heute eingetroffene Unglücksbotschaft auf das schwerste betroffen wurde, dann war sie es; und sie hatte im Gegensatz zu allen anderen ihrem armen, bedrückten Herzen, das ihr jetzt zu zerspringen drohte, nicht einmal irgendwie Luft machen dürfen, um sich und um damit das Geheimnis ihrer jungen Liebe nicht zu verraten. Sie war zum Sterben traurig und begriff selbst nicht, wie sie sich vorhin so hatte beherrschen können, daß ihr kein Mensch, nicht einmal ihre Mutter, etwas angemerkt hatte. Das war sehr schwer für sie gewesen, aber nun kam etwas noch viel Schwereres für sie, der Brief an den Onkel. Dem sollte sie Glück wünschen und dabei noch so tun, als kämen ihr die Worte aus dem Herzen. Nein, das konnte sie nicht, das brachte sie nicht fertig und deshalb beschloß sie plötzlich, dem Onkel, anstatt ihm zu gratulieren, ganz gehörig den Marsch zu blasen. Und wenn sie ihm so schrieb, wie es ihr zumute war, dann brauchte sie wenigstens, im Gegensatz zu ihren anderen Verwandten, fortan nicht in der trügerischen Hoffnung zu leben, daß der Onkel sie vielleicht doch noch in seinem Testament bedenken würde.
Welch ein Glück, daß die Mutter nicht darauf bestanden hatte, nachher ihren Brief lesen zu wollen, und so schrieb sie denn nun:
„Mein lieber Onkel Eduard, den ich aber heute gar nicht lieb habe. Vielleicht kommt die Liebe aber noch einmal wieder, obgleich ich dir das nicht versprechen kann, denn lügen tue ich nicht, wenigstens nicht mehr, als ich es zu Hause ohnehin genug muß, wenn ich nicht immer ausgescholten werden will, und ich werde nach meinem Geschmack schon mehr als genug gescholten. Nein, lügen kann ich nicht und deshalb bringe ich es auch nicht fertig, dir, wie die Mutter es von mir verlangt, einen ganz besonders herzlichen Glückwunsch zu deiner Verlobung zu schicken, weil ich früher immer dein besonderer Verzug gewesen sein soll, wovon ich selbst aber leider nie etwas gemerkt habe. Aber ob Verzug oder nicht, das ist ja heute einerlei, denn an mich, gerade an mich hast du, was ich dir aber offen gestanden auch gar nicht verdenke, sicher nicht eine Sekunde gedacht, als du dich auf deine alten Tage noch einmal wieder verlobtest. Nein, an mich hast du dabei ebenso wenig gedacht, wie ich damals an dich, als ich meinen Hans Albrecht — aber das sage ich dir gleich, Onkel Eduard, wenn du der Mutter oder sonst einem von den Verwandten auch nur eine Silbe von Hans Albrecht verrätst, dann ist es für alle Zeiten zwischen uns ganz, aber auch ganz aus, denn von dem darf vorläufig kein Mensch etwas wissen, und ich wollte auch dir nichts von ihm schreiben, aber nun habe ich es doch getan, und vielleicht ist das auch sehr gut, denn nun wirst du es hoffentlich einsehen, wie schlecht, nein, wie gemein du durch deine Verlobung an Hans Albrecht und mir gehandelt hast.
Da du in deine Braut (ist sie eigentlich jünger oder noch älter als du? Und ist sie hübsch?) natürlich ebenso verliebt bist, wie ich in meinen Hans Albrecht, und da du deshalb für ihn augenblicklich ja doch kein Interesse hast, wäre es ganz zwecklos, dir schildern zu wollen, wie hübsch und wie nett der ist. Nur das eine lasse dir gesagt sein, es ist der hübscheste und der goldigste Mensch, den es überhaupt gibt, und ein Paar Augen hat er, ach Onkel Eduard, ich wünschte dir, daß du nur einmal in seine wundervollen Augen sehen könntest, dann wüßtest du, ein wie guter Mensch er ist. Und klug ist er, gar nicht zu sagen. Mit 22 Jahren hat er schon den Doktor gemacht, und trotzdem er für mich ja eigentlich zu alt ist, wollen wir uns heiraten, sobald er so viel verdient, daß wir davon leben können, denn natürlich ist er arm, und das ist auch sehr gut, denn sonst hätte ich ihn wohl nicht so lieb. Und wenn wir uns heimlich treffen, denn ich wiederhole, vorläufig darf kein Mensch etwas davon wissen und ahnen, und wenn wir dann zusammen Luftschlösser bauen, habe ich immer von dir erzählt, und daß ich später vielleicht mal ganz fürchterlich viel von dir erben würde, und dann war ich immer so froh und so glücklich, aber Hans Albrecht sagte mir, das wolle er nicht, wir wollten nur von dem leben, was er für uns beide verdiene und darüber haben wir uns oft so gestritten, daß ich hinterher bitterlich geweint habe.
Na, nun erbe ich ja gar nicht, und darüber wird Hans Albrecht sicher sehr froh sein, obgleich es nun wohl noch eine Ewigkeit dauert, bis wir uns heiraten können. Bis ich nun mein erstes Kind kriege, werde ich sicher eine ganz alte Jungfer geworden sein, und auch das kannst du gar nicht verantworten. Und nicht nur ich, die ganze Familie ist empört über dich, und wenn du dabei gewesen wärst, als sie heute nachmittag über dich sprachen, ich glaube, du wärst unter das Tischtuch gekrochen und hättest dir die Pupillen aus den Augen geschämt! Trotzdem nehmen natürlich alle herzlichen Anteil an deinem Glück und wollen dir das auch schreiben, ich glaube, in diesem Augenblick sind sie schon alle dabei.
Und auch ich gratuliere dir herzlichst, ja, ich tue das wirklich, obgleich du mir das wohl nicht glauben wirst, aber erst mußte ich meinem Herzen mal Luft machen. Und das habe ich ja nun getan. Ach, Onkel Eduard, du schrecklicher Mensch, den ich aber merkwürdigerweise doch noch lieb habe, wie hast du Hans Albrecht und mir das antun können?
So, jetzt ist dieser Brief glücklich fertig und nun kann ich mich endlich in Ruhe hinsetzen und ein paar Stunden weinen. Deine treue und gehorsame Nichte Ilse.”
Auf alle Glückwunschbriefe hat Onkel Eduard mit keiner Silbe geantwortet. Er war und blieb verstummt, er ließ erst wieder durch seinen Rechtsanwalt von sich hören, als er ein paar Monate später ganz plötzlich starb. Und da stellte es sich heraus, daß er nie die Absicht gehabt hatte, sich wieder zu verloben, sondern, daß er das seiner Sippschaft, wie er sie nannte, nur vorgeschwindelt habe, um aus ihren falschen und geheuchelten Glückwünschen ihre Habgier und ihre Spekulation auf sein reiches Erbe zu erkennen. Die einzige, die er von allen seinen Verwandten in der Stadt in seinem Testament bedachte, und noch dazu in reichlichster Weise, war seine Nichte Ilse. Und dafür, daß der Onkel nur sie, trotz des Marsches, den sie ihm geblasen, in seinem Testament, und noch dazu so reich bedacht hatte, gab es nach Ilses fester Ueberzeugung nur eine einzige Erklärung: Der Onkel mußte gerade ihren Brief nicht erhalten haben.