Ich glaube.

Humoristische Plauderei von Frhrn. v. Schlicht.
in: „Das Kleine Journal” Nr. 4 vom 4.Jan. 1897 und
in: „Türke und Stachelschwein”


Auf dem Kasernenhof wird mächtig „gebimmst” oder, wie der Gemeine sagt, „gebummsen”, es wird Zug-Exerzieren abgehalten. Das ist kein Vergnügen, weder fü+r den Lieutenant, der da kommandirt und sich in ganz kurzer Zeit vollständig heiser geschrieen hat, noch für Diejenigen, die da kommandirt werden.

Die Schule auf der Stelle, Wendungen, Griffe und Richtung sind durchgenommen worden.

„Wollen die Herren, bitte, zu den Marschbewegungen übergehen und zunächst das Abbrechen in Sektionen durchnehmen.”

Gleichzeitig fahren drei rechte Hände an die Mütze und gleichzeitig kommandiren die drei Zugführer: „Gewehr ab und rühren. Zu zwei Gliedern antreten — marsch.”

Nun wird der Zug nochmals in Sektionen eingetheilt, die Sektions­flügelleute machen nochmals „Rechts- und Linksum” und dann beginnt die Instruktion.

Der Lieutenant hat von dem lauten Kommandiren Halsschmerzen, so wendet er sich an seinen ältesten Unteroffizier: „Schulze, erklären Sie den Leuten das Abbrechen noch mal.”

„Zu Befehl, Herr Lieutenant. Also Kerls, die Sache ist nämlich die: Wenn der Herr Lieutenant oder ich, was in diesem Falle Jacke wie Hose ist, kommandiren: „In Sektionen rechts brecht ab”, dann marschiert die rechte Flügelsektion gerade aus. Alles andere macht auf das Wort „ab” halbrechts um, marschiert drei Schritt auf der Stelle, vier Schritt freiweg und setzt sich dann hinter die erste Sektion. Dann macht die zweite Sektion halblinks um, damit sie auf Vordermann kommt, dann machen die anderen Sektionen wieder drei Schritt auf der Stelle und dann wieder vier Schritt freiweg, und so weiter. Die Sache ist nämlich furchtbar einfach. Ihr müßt Euch nur nicht so schafsdämlich dabei anstellen und besonders, was die Flügelleute sind, die müssen nicht an ihren heimathlichen Ochsenstall dabei denken, sondern sie müssen ihre Gedanken zusammennehmen, denn wenn der Flügelmann sich verläuft, dann kann die Sache natürlich nie und nimmermehr etwas werden. Habt Ihr das nun begriffen?”

„Zu Befehl, Herr Serschant,” brüllt der Chor.

„Na, da bin ich neugierig, dann wollen wir mal die Theorie in die Praxis übersetzen.”

Er wendet sich an seinen Lieutenant.

„Wollen der Herr Lieutenant auch selbst kommandiren?”

Aber dieser winkt gnädig ab.

Und nun geht's los.

„Stillgestanden. Kerls, ich bitte mir aber einen anständigen Griff aus: Das Gewehr — über. Na, das ging so, schön war es nicht, das braucht Ihr Euch nicht einzubilden, das war pflaumenweich, oder, wie der Deutsche sagt: mittel-mittel.”

„Wenn ich nun das Antreten kommandire, wünsche ich Eure Gebeine himmelhoch fliegen zu sehen.”

„Bataillon — Meier, Du Kerl, Du sollst Dich nicht jetzt erst vorne hereinlegen. Ihr sollt immer „vorn herein” stehen, Ihr müßt immer das Gefühl haben: Bumms, nun falle ich auf die Nase.”

„Bataillon — Marsch.”

„Leidlich,” lobt Schulze, „nur der Hansen, der Mensch, bummelt wie gewönhlich, der Bengel hat auch mehr Kommißbrot als Ehrgefühl im Leibe, ne, merk'(1), mein Jüngelchen, das will ich Dir gedenken. Jungs, sperrt die Ohren auf — höher die Beine — hö—ö—ö—her! In Sektionen rechts — brecht — ab.”

Und nun kommt das désastre.

Die Flügelsektion, die geradeaus marschieren soll, macht Halt, die anderen, die auf der Stelle treten sollen, gehen „freiweg&rdquo, und setzen sich nicht hinter, sondern vor die erste Sektion.

Sergeant Schulze krümmt sich vor Entsetzen wie ein getretener Wurm.

„Halt — Kerls, wollt Ihr wohl halten — steht, wo Ihr steht, das ist ganz gleichgiltig — Soldaten wollt Ihr sein, verrückt seid Ihr, nicht werth, daß Euretwegen Erbsen wachsen. Zurück auf die alten Plätze, wo Ihr gestanden habt, marsch — marsch.”

Es wird zum zweiten und zum dritten und vierten Male gemacht, es geht nicht, es geht absolut nicht.

Da nähert sich dem Lieutenant der Herr Hauptmann:

„Herr Lieutenant, ich glaube, die Leute würden die Sache leichter begreifen, wenn Sie ihnen es folgendermaßen erklären würden,” und nun spuckt er seine Weisheit aus.

Der Häuptling ist ein sehr kluger Mann, er ist immer Adjutant gewesen, erst vor Kurzem ist er in die Front zurückgetreten. Er hat vom praktischen Dienst keinen Dunst.

Andächtig lauscht der Lieutenant den Worten seines Vorgesetzten. Als dieser geendet, legt der Lieutenant die Hand an die Mütze: „Getstatten der Herr Hauptmann eine Bemerkung?”

„Bitte sehr,” lautet die Antwort.

Und nun setzt der Lieutenant seinem Hauptmann auseinander, daß das, was der Herr Hauptmann soeben gesagt, in der Theorie sicherlich ganz hervorragend klug und geistreich, in der Praxis aber der höhere Blödsinn sei.

Andächtig lauscht der Vorgesetzte den Worten seines Untergebenen, und als dieser geendet, sagt er:

„Sie mögen ja vielleicht in der einen oder anderen Hinsicht Recht haben, aber ich glaube, daß meine Ansicht dennoch die richtigere ist. Bitte, versuchen Sie es nur, danach zu handeln.”

„Zu Befehl, Herr Hauptmann.”

Er geht zu seinem Zuge zurück und instruirt ihn nun selbst noch einmal: genau so, wie der Hauptmann es ihm befohlen hat.

Das Resultat ist ein überraschendes.

Als er mit dem Rest seiner Stimme kommandirt hat: „In Sektionen rechts brecht ab,” machen die Kerls gar nichts, nicht einmal Blödsinn — sie stehen wie die Mondkälber und glotzen ihn an.

Nur blöken thun sie nicht.

Er geht zum Hauptmann und meldet, daß die Sache nun gar nicht ginge.

„Doch kaum ist ihm das Wort entfahren,
Möcht' er's im Busen gern bewahren!”

Der Lieutenant ist in seinem Leben schon oft mächtig „angeheult” worden, aber so grausig, wie in diesem Augenblick, denn doch noch nie.

„Herr Lieutenant, ich glaube, das dürfte denn doch mehr Ihre Schuld sein als die meine, und ich muß doch sehr bitten, versteh'n Sie mich, Herr! sehr bitten —” und gegen den Wortschwall, der sich über den Lieutenant ergießt, ist der Niagarafall ein Waisenknabe.

Armer, armer Lieutenant. Aber wie konntest Du auch Widerspruch erheben gegen das Wort: „Ich glaube”.

Wußtest Du wirklich nicht, daß das Wort: „Ich glaube” das Alpha und das Omega der Vorgesetzten ist, gegen das ankämpfen zu wollen Thorheit, wenn nicht Wahnsinn ist?

Vorgesetzte kritisiren &mdash, das ist ihr Recht und ihre Pflicht. Kritisiren thun sie Alle, Alle, Alle — nur das „Wie” ist verschieden. Der Eine wohlwollend, der Andere gleichgiltig, der Dritte brummig, der Vierte niederträchtig.

Mit dem Amt kommt der Verstand, wenigstens sagt man das so.

Es giebt Untergebene, die es nicht lassen können, gegen jede Kritik, die ihrem Thun und Lassen zu Theil wird, „anzukolken”, die den Vorgesetzten kaum zu Ende sprechen lassen , sondern wenn dieser noch im besten Zuge ist, schon die Hand an den Helm legen und mit einem „Gestatten der Herr Oberst eine Bemerkung” dazwischen fahren.

„Bitte, jetzt spreche ich, Herr Hauptmann.”

Und die Kritik, die scharf einsetzte, wird immer schärfer und schneidender, bis von dem Getadelten nichts mehr übrig ist als ein Haufen Unglück.

„So, bitte, Herr Hauptmann, nun können Sie sprechen!”

Und nun schießt der Herr Hauptmann los und versucht seinem Vorgesetzten auseinander­zusetzen, daß er unter den herrschenden Umständen gar nicht anders hätte handeln können, daß selbst ein Moltke es genau so gemacht haben würde.

„Ich habe Recht und Sie, Herr Oberst haben Unrecht.”

Das sagt er nicht direkt, da würde er schön ankommen, dann wäre es aus mit ihm für alle Zeiten, aber er sagt es indirekt, aus seinen Worten geht seine Ansicht und Meinung klar hervor.

Der Herr Oberst klemmt das Monocle ein und sieht seinen Untergebenen an:

„So glauben Sie?”

Das klingt malitiös, ganz niederträchtig malitiös.

„Zu Befehl, Herr Oberst, nach meiner Meinung —”

„Ihre Meinung ist in diesem Falle doch wohl kaum die maßgebende, mein sehr verehrter Herr Hauptmann. Ich glaube, daß Sie, wenn Sie im Ernstfalle so gehandelt hätten, jetzt ein todter Mann wären, das glaube ich.”

Schon wieder steht der Häuptling mit der Hand am Helm: „Gestatten der Herr Oberst noch eine Bemerkung?”

Nun aber braust dieser auf: „Bitte, behalten Sie Ihre Bemerkung für sich — ich danke sehr, meine Herren.”

Damit ist die Kritik beendet und der Häuptling muß Alles, was er auf dem Herzen hat — und das ist nicht wenig — herunterschlucken. Wenigstens vorläufig.

Bei jeder Kritik sind sämmtliche Offiziere zugegen, damit sie Alle von dem einen Fall lernen. Dem Häuptling ist es natürlich scheußlich, in Gegenwart seiner Lieutenants so heruntergemacht zu sein. So bittet er sie denn auf dem Rückmarsche zu sich, bietet ihnen eine Cigarre und einen Cognac an, dankt ihnen für die ihm geleistete Unterstützung und setzt ihnen, nachdem er so für sich Propaganda gemacht hat, seine Ansicht über die heutige Uebung auseinander.

Jetzt behält er Recht, denn das Wort „ich glaube”, das er beständig wiederholt, duldet keinen Widerspruch.

Jeder Glaube ist Ueberzeugungssache, auch der militärische Glaube.

Mit Worten allein kann man gegen den Glauben nicht ankämpfen, und wer sich seinen Glauben nicht rauben lassen will, glaubt Alles, was von ih verlangt wird.

Der militärische Glaube entbehrt jeder festen Grundlage.

Wer Recht hat, wer Unrecht — kann nur der Ernstfall, können nur die Waffen entscheiden.

Die Kriegsgeschicht aber lehrt, daß der Erfolg auch denen häufig zufiel, die Unrecht hatten.

Beim Militär kann man nur sagen, das ist falsch und das ist richtig, und da erfand ein weiser Mann das Wort: ich glaube.

Ich glaube, daß in diesem Falle dies richtiger gewesen wäre.

Und merkwürdiger Weise glauben die Vorgesetzten immer, daß gerade das Gegentheil von dem, was thatsächlich gemacht ist, das Richtige gewesen wäre.

Woran liegt das?

Das weiß kein Mensch, nicht einmal der Vorgesetzte selbst.

Na, und wenn auch die es nicht wissen, lohnt es sich ja nicht, dies Geheimniß ergründen zu wollen.

Daß es schwer, wenn nicht geradezu unmöglich ist, dem Wort „ich glaube” zu entgehen, möge folgende wahrhaftige Geschichte beweisen.

Es war im Winter bei einem Kriegsspielabend im Kasino. Man „arbeitete” auf dem großen Plan von Königgrätz und die ganze Aufgabenstellung deutete darauf hin, daß man, wenn auch nicht die ganze Schlacht, so doch wenigstens eine Episode derselben auf dem Papier durchnehmen wollte.

Der Herr Major, der mit der Führung der Brigade betraut wurde, hatte sich in den letzten Tagen gerade eingehend mit der Schlacht von Königgrätz beschäftigt und so sah er dem Kommenden denn frohen Muthes entgegen.

Er wollte seine Vorgesetzten schon in Erstaunen über seine Kenntnisse setzen.

Aber merkwürdigerweise imponirte er seinem Obersten absolut nicht. Jede seiner Anordnungen wurde gerügt und getadelt, mit Allem, was er befahl, konnte der Herr Oberst sich nicht einverstanden erklären.

Schließlich riß dem Major die Geduld.

„Ich bitte sehr um Verzeihung, Herr Oberst, aber am 3. Juli 1866 sind von dem Brigade–Kommandeur dieselben Befehle gegeben worden, die ich heute Abend ertheilt habe, und der Herr General hat dadurch bei den Brücken–Uebergängen einen großen Erfolg errungen.”

Verwundert blickt der Oberst auf: „So, wissen Sie das genau?”

„Zu Befehl, Herr Oberst. Ich kann es dem Herrn Oberst schwarz auf weiß zeigen, ich habe das Generalstabswerk hier neben mir liegen.”

Der Herr Major machte sich daran, die betreffende Seite aufzuschlagen, aber der Herr Oberst unterbrach ihn: „Bitte, Herr Major, bemühen Sie sich nicht — wenn Sie es sagen, wird es schon richtig sein. Aber an meinem Urtheil über Ihre Anordnungen vermag das nichts zu ändern — die ganzen Verhältnisse, die Jahreszeit, die Bewaffnung der Armeen, die Reglements, das Alles ist doch grundverschieden von den heutigen Zuständen. Ich glaube, heutzutage würden Sie mit Ihren Anweisungen keinen Erfolg zu verzeichnen haben. Glauben Sie nicht auch, Herr Oberstlieutenant?”

Gewöhnlich wird solche Frage pro forma gestellt. Der Herr Oberst ist der Stimme seines Etatmäßigen sich erer als irgend ein Abgeordneter der Stimme seines Wählers. Pflichtet er ihm bei, dann sind Zwei gegen Einen, die Majorität ist, wenn auch nicht gerade erdrückend, so doch überwältigend.

Aber in diesem Falle streikte der Herr Etatsmäßige. Er hatte einmal das Schlachtfeld von Königgrätz bereist und kannte es — fast hätte ich gesagt, wie seine Westetasche, aber Offiziere tragen ja keine Westen.

„Ich bitte sehr um Verzeihung, Herr Oberst, wenn ich mir in diesem speziellen Falle anderer Ansicht als der Herr Oberst zu sein erlaube. Ich glaube —”

„So, glauben Sie?” unterbrach ihn der Herr Oberst, „ich aber glaube, daß in diesem Falle doch wohl meine Meinung die richtige ist. Meinen Glauben werden mir die Herren doch wohl nicht rauben wollen?”

„I, wie werden wir denn,” stand auf allen Gesichtern geschrieben und mit erhobener Stimme fuhr der Herr Oberst fort: „Wie gesagt, Herr Major, ich kann Ihnen nicht beistimmen, ich halte Ihre Anordnugen für in keiner Weise zutreffend, sachgemäß und absolut nicht zweckentsprechend. Ein eingehendes, nicht nur ein oberflächliches Studium der Kriegsgeschichte wird, glaube ich, für uns Alle, sowohl für die jüngeren, als auch für die älteren Herren sehr zweckentsprechend sein.”

„Das glaube ich auch.”

Der Herr Major hatte das Wort gesprochen, nicht absichtlich, aber in seiner Wuth, seiner gereizten Stimmung war es ihm entschlüpft.

Während Alle vor Entsetzen starr waren, that der Herr Oberst, als wenn er gar nicht auf den Gedanken käme, daß die Worte auf ihn gemünzt seien.

Leutselig lächelnd wandte er sich an seine Untergebenen:

„Nun, es freut mich, Herr Major, daß Sie mir beistimmen — passen Sie auf, das Studium wird Ihnen viel Freude bereiten.”

Der Hieb saß. Der Herr Major schäumte vor Wuth, aber was half's? Er mußte schweigen, denn wie Ruhe die erste Pflicht des Bürgers, so ist „Maul halten” die erste, aber bei Gott nicht die leichteste Pflicht des Soldaten.

Glaubt der Soldat, daß ihm Unrecht geschehen ist, so kann er sich beschweren.

Das that der Herr Major denn auch. Natürlich bekam er Unrecht, es lag ja auch gar kein Grund zur Beschwerde vor.

Von diesem Augenblick an hatte der Herr Major eine solche Abneigung gegen das Wort „ich glaube”, daß er fortan stets seine Kritiken mit der Redensart: „ich meine” begann.

Sein Glaube kam ihm erst wieder, als er eines Tages, wie so Viele vor ihm und so Viele nach ihm, daran glauben mußte und seinen Abschied bekam.

Da glaubte er, daß ihm schwer Unrecht geschehen sei.

Das glauben sie Alle, Alle, Alle.

Ich habe einen Bekannten, der als ganz junger Offizier seinen Abschied nahm und jetzt wohlbestellter und wohlbestallter — er hat zwei Wagenpferde und zwei Renngäule — Doktor juris utriusque ist.

„Warum, o Caligula” — er heißt Meier — fragte ich ihn eines Tages, „hast Du so bald das schillernde Lieutenantsgewand mit dem simplen Frack vertauscht? Gingst Du oder wurdest Du gegangen?”

„Ich gung,” erwiederte er stolz, und als ich ihn weiter, als begeisterter Anhänger der Alliteration, fragte: „Warum, o Wanderer mit dem Wotanshute, wolltest Du?” sagte er:

„Ich glaube, das verstehst Du doch nicht.”

„Doch,” gab ich zur Antwort, meine Fähigkeit, die schwierigsten Sachen zu begreifen, damit bis zur Evidenz beweisend.

Eine Weile sah er mich prüfend an, dann fragte er: „Weißt Du was es heißt: Ich glaube?”

„Um Gottes Willen,” rief ich, „nur kein Gespräch über Politik und über Religion, das verdirbt den Charakter, und meiner ist gerade schlecht genug, das verdanke ich dem Umstand, daß die Namen meiner drei Pathen mit einem „W” anfingen, und Du weißt ja, das dreifache Weh — Wein, Weib und Würfelspiel —”

Er unterbrach mich: „Ich sagte es ja, Du verstehst mich doch nicht.”

„Doch,” betheuerte ich von Neuem.

„Sieh' mal,” fuhr er fort, „kennst Du den Glauben, der in Dir das Gefühl hervorruft, als seiest Du mit tausenden von eisernen Ketten an die Erde geschmiedet, als liefen sämmtliche Ameisen dieser Welt auf Deinem nackten Leib umher und kitzelten Dich, daß es in Dir prickelte und krabbelte bis zur Bewußtlosigkeit, und Du könntest Dich doch nicht rühren und wärest ohnmächtig, Dich zu wehren? Kennst Du das Gefühl, kennst Du den Glauben, der dies Gefühl hervorruft?”

Verwundert blickte ich ihn an: „Mein Sohn, ich habe zwar nie Theologie studirt, aber als ich auf dem Gymnasium saß, mußte ich mancherlei Glaubensbekenntnisse lernen, auch hinterher mich viel mit der Religion fremder Völker beschäftigen, aber einen Glauben, wie Du ihn schilderst, kenne ich nicht. Sage, wo gedeiht der Galube, der solche Früchte trägt?”

„Beim Militär,” lautete die Antwort. „Sieh', wenn meine Vorgesetzten zu mir sagten: „Ich glaube” — dann hatte ich stets die Empfindung, die ich Dir zu schildern versucht habe. Gegen das Wort „ich glaube” ist, wie gegen den Tod, kein Kraut gewachsen.”

„Nehmen wir ein Beispiel. Bei einer Felddienstübung bekommst Du die Meldung, daß Adorf vom Feinde besetzt ist. Du siehst in dem Augenblicke, da Dir die Meldung überbracht wird, nach Deinem Chronometer. Es ist neun Uhr, genau neun Uhr, weder eine Minute früher noch später.”

„Bei der Kritik wirst Du gefragt:”

„Wann erhielten Sie die Meldung, daß Adorf besetzt sei, Herr Lieutenant?”

„Um neun Uhr, Herr Oberst.”

Allgemeines Kopfschütteln.

„Um neun Uhr? Aber das ist ja nicht möglich — Sie müssen die Meldung spätestens um drei Viertel auf neun Uhr erhalten haben.”

„Verzeihen der Herr Oberst, die Uhr war neun, genau neun Uhr.”

„Ihr Wort in Ehren, lieber Dingsda, aber ich glaube, Sie irren sich. Sie werden sich in der Eile versehen haben — so etwas ist ja leicht möglich — ich will Ihnen daraus ja absolut keinen Vorwurf machen, wenngleich es natürlich wünschenswerth ist, daß der Soldat unter allen Umständen seine Ruhe und Besonnenheit bewahrt und sich seinen Blick durch nichts trüben läßt — aber, wie gesagt, es ist ja immerhin möglich, so etwas kann ja mal vorkommen,” so geht das weiter, und wenn der Kommandeur geendet, steht die Thatsache fest: die Uhr war nicht neun, sondern dreiviertel auf neun.”

„Mein Sohn, was will man dagegen machen?”

„Nichts, gar nichts.”

Der Doktor utriusque juris — der anstatt einmal ja nun zweimal Recht hat — (Kalauer sind bekanntlich Männer aus Kalau) schwieg.

„Aber Du wolltest mir doch erzählen, warum Du Deinen Abschied genommen?” fragte ich ihn.

„Hast Du Zivilrock das noch nicht begriffen,” fuhr er mich an.

„Nein!” antwortete ich offen und ehrlich.

Und nun frage ich die Leser dieser Arbeit — vorausgesetzt, daß sie überhaupt Leser findet und nicht ungelesen zum Einwickeln von Butterbroden verwendet wird &mdash, nun frage ich zum zweiten und zum dritten: „Begreift Jemand, wie das „ich glaube” der Vorgesetzten einen Untergebenen in solche Verfassung bringen kann, daß er seinen Abschied einreicht?”

„Glaubt es Jemand oder glaubt es Jemand nicht?”


Fußnote:

(1) In der Buchfassung heißt es hier: „na, wart'”. — Wahrscheinlich war das ursprüngliche Manuskript hier zu undeutlich geschrieben. (zurück)


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