Gesühnt.

Erzählung aus dem Offiziersleben von Freiherrn von Schlicht.
in: „Hamburger Nachrichten”, belletristisch-literarische Beilage, vom 4.8., 11.8. und 18.8.1895 und
in: „Point d'honneur”.


Das gemeinsame Mittagessen im Kasino war beendet, die Ordonnanzen waren damit beschäftigt, die Teller und Gläser von der Tafel fortzunehmen und auf den Anrichtetisch zu setzen, was zum Entsetzen der sparsamen Tischkommission wie immer viele Scherben kostete. Die Offiziere standen in zwanglosen Gruppen vereint umher, die Cigarre oder Cigarette zwishen den Lippen, den Erben Lukas Bols in der Rechten und beratschlagten, was sie thun sollten, ob sie die gemütlichen warmen Räume verlassen und in das Theater gehen, oder ob sie sich heute abend zur Abwechslung einmal im Kasino festkneipen wollten. Ein Teil der Herren hatte sich in das Nebenzimmer begeben und dort Platz genommen: es war dies ein großer, mit behaglicher Eleganz eingerichteter Raum, der durch die dicken schweren Portieren und durch den großen, den ganzen Boden bedeckenden weichen Teppich besonders wohnlich wurde. An den Wänden und in den Nischen standen große, bequeme Fauteuils, für jeden Herrn der Tischgesellschaft einer, ein Geschenk, das ein reicher Gönner des Regiments diesem aus Anlaß des Jubiläums vor mehr als Jahresfrist überreicht hatte. Aber so traulich und „verdaulich”, wie einst ein Kamerad diese Ecken getauft hatte, diese Plätze auch waren, am gesuchtesten waren doch stets nach Tisch die fünf um den großen Kamin in einem Halbkreis aufgestellten Sessel. „Die Adjutantenecke” hieß dieser Platz, weil dort nach Beendigung der Mahlzeit die Adjutanten stets ihren Kaffee zu trinken und ihre Gespräche über die am Nachmittag eingelaufenen Postsachen zu führen pflegten. Teilweise war es also nur Neugierde, die die jüngeren Kameraden nach jener Ecke führte, in der Hoffnung, 'mal zu hören, was denn eigentlich oben los sei, andrerseits war es aber der Wunsch, sich mit den Adjutanten anzufreunden; denn der Adjutant ist ein vielvermögender Herr und von Zeit zu Zeit ist es ganz angebracht, sich einmal wieder in empfehlende Erinnerung zu bringen und einmal zu horchen, ob nicht bald wieder ein Kommando oder dergleichen frei wird. Ist dies der Fall, so bewerben sich schon am nächsten Tage alle mit nicht genug anzuerkennendem Eifer um den frei werdenden Postem und die Adjutanten erhalten an jenem Tage mehr Einladungen auf eine Flasche Sekt, als sonst im ganzen Jahre. Aber auch sonst, an den Tagen, da das Gespräch über den Dienst ruhte, war die Ecke gesucht und jeder pries sich glücklich, dem es gelungen war, einen etwa durch einen Zufall leeren Platz dort zu erobern; sind doch fast immer die Adjutanten nicht nur die tüchtigsten, sondern auch die beliebtesten Kameraden, deren Gesellschaft gerne aufgesucht wird.

Auch heute umstand wieder eine größere Anzahl von Herren die Stühle, teils nur zuhörend, teils sich an der Unterhaltung beteiligend, die heute lebhafter war als gewöhnlich. War es der bei Tisch reichlich genossene Champagner, war es eine andere Veranlassung — genug, der sonst etwas stille und wie es seine Stellung mit sich brachte, etwas weniger mitteilsame Regimentsadjutant, Premier­lieutenant von Marbach, war heute nicht wieder zu erkennen. Er war die Gesprächigkeit und Ausgelassenheit selbst, ein Witzwort jagte das andere, die Fähnriche und die jüngeren Kameraden konnten sich vor seinen Neckereien nicht retten, und obgleich diese in der anscheinend übermütigen Stimmung, in der Marbach sich befand, nicht gerade immer sehr zahm ausfielen, dachte doch kein Mensch daran, ihm dieselben zu verargen; hatte er doch im Regiment den Ruf, daß er zu jenen Leuten gehöre, denen man nichts übel nehmen könne. Marbach erfreute sich sowohl bei seinen Vorgesetzten wie bei seinen Kameraden großer Beliebtheit. Erst vor einem Jahre in das Regiment hineinversetzt, hatte er es in kürzester Zeit durch seine dienstliche Tüchtigkeit, durch seine tadellosen Manieren, durch die ganze Art und Weise, wie er sich gab, verstanden, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sodaß er, als die verantwortliche Stellung des Regiments­adjutanten frei ward, hierzu ernannt wurde. Von allen wurde die Wahl gutgeheißen und die Glückwünsche, die man ihm brachte, waren aufrichtig und herzlich, keiner mißgönnte ihm die Auszeichnung und jeder war überzeugt, daß Marbach den Platz, den er jetzt einnahm, voll und ganz ausfüllen würde. Er rechtfertigte alle Erwartungen: er versah seinen Dienst mit der peinlichsten Genauigkeit, er war den Kameraden in jeder Beziehung ein treuer Berater und verstand es, die unter seinem Vorgänger etwas locker gewordenen kameradschaftlichen Bande unmerklich fester und fester zu ziehen. In der Gesellschaft erfreute Marbach sich als amüsanter Plauderer, dessen Wissen das seiner Kameraden weit übertraf, und als flottester Tänzer der größten Beliebtheit, und auch hier wußte er die Beziehungen zwischen den Civilkreisen und dem Regiment inniger und vertraulicher zu gestalten. So war es denn nur natürlich, daß er bei allen gesellschaftlichen Unternehmungen der Anführer und Ratgeber war, dessen Anordnungen unbedingt Folge geleistet wurde, und auch heute sollte er die Antwort geben auf die sich wiederholende Frage: „Was machen wir heute?”

„Was ihr thun sollt, Kinder,” antwortete er, „das ist doch so einfach. Ihr bleibt hier, wo ihr seid, spielt, musiziert und treibt Allotria. Was wollt ihr euch bei diesem schauderhaften Wetter in das Freie wagen, um doch wieder nach spätestens einer Viertelstunde in irgend einer vollgeräucherten Kneipe zu landen.”

„Und was machst du?” fragte ihn ein Kamerad. „Du sprachst per Ihr, das läßt darauf schließen, daß du etwas anderes vorhast.”

„So ist's, mein Feldherr,” citierte er mit Pathos.

„Und darf man, ohne indiskret zu sein, fragen —”

„Gewiß, warum nicht,” unterbrach ihn Marbach, „es ist kein Staatsgeheimnis, ich bin heute abend bei dem Kommandeur.”

„Schon wieder?” Das klang so erstaunt, daß Marbach nicht umhin konnte, den Sprecher lächelnd anzusehen, dann sagte er anscheinend harmlos und gleichgültig: „Schon wieder? Es sind fast acht Tage her, daß ich zum letztenmal dort war, und selbst, wenn ich erst gestern abend da gewesen wäre, warum sollte ich heute denn nicht wieder hingehen?”

„Gewiß — ja — ich meinte ja auch nur,” erwiderte der Angeredete, aber trotzdem er sofort gewaltsam das Gespräch auf ein anderes Thema brachte, konnte er es doch nicht verhindern, daß die Kameraden sich verlegen ansahen. Es war anscheinend ein Wort gefallen, das besser ungesprochen geblieben wäre, aber da es einmal geschehen, stand man noch unter seiner Wirkung und versuchte vergebens, sich davon zu befreien. Eine peinliche Stille trat ein, der Sprecher, der fühlte, daß niemand zuhörte, hielt mitten in einem Satze inne und alle blickten auf Marbach, der ruhig, als ob er von allem, was um ihn herum vorging, nichts merke, seine Uhr zog, dann aber erschrocken in die Höhe sprang: „Weiß Gott — schon ein halb Acht, es wird die höchste Zeit für mich. Wenn ihr nicht zu früh zu Bette geht, sehe ich auf dem Rückweg vielleicht noch einmal vor. Sonst — gute Nacht, meine Herren.”

Nach einer höflichen Verbeugung verließ er das Zimmer, die Kameraden sich überlassend, die noch immer schweigend dastanden und sich verlegen anblickten. Da klangen plötzlich vom Klavier her die Töne eines flotten Marsches, alle atmeten erleichtert auf, wie von einem schweren Alp befreit, und alle umringten den Freund, der, wie man wußte, am Klavier unermüdlich war und der sein unerschöpfliches Repertoire in Liedern und Couplets aller Art mit zwerchfell­erschütternder Komik und hübscher Stimmer vorzutragen verstand. Wenige Minuten später war der Zwischenfall vergessen.

Nur die Adjutanten blieben auf ihren Plätzen sitzen und schoben den leer gewordenen Stuhl weit beiseite, damit nicht ein Unberufener sich zu ihnen geselle. Es lag wie ein Bann über ihnen, jeder hatte das Bedürfnis, das, was sein Herz bewegte, auszusprechen, und doch getraute es sich keiner, weil er nicht wußte und nicht wissen konnte, wie die Freunde seine Worte aufnehmen würden.

„Er treibt es, weiß Gott, zu toll,” sagte plötzlich und unvermittelt Lieutenant von Reischach, indem er gleichgültig die Asche seiner Cigarre abstreifte und sie achtlos auf den Teppich fallen ließ, „wohin soll das führen? Fast jeden Abend, den er sich frei machen kann, bringt er bei dem Kommandeur zu und wenn er es so weiter treibt, wird er es nicht verhindern können, daß man sich über die Theestunden, die er bei Frau von Maltow zubringt, allerlei Gedanken macht.”

„Dasselbe habe ich ihm gegenüber gestern nachmittag auch schon angedeutet,” bestätigte Herr von Reibnitz, nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß kein Lauscher in der Nähe war; „ich bemerkte ihm, daß in der Stadt schon über die Art und Weise, wie er Frau von Maltow den Hof mache, gesprochen würde.”

„Nun, und was erwiderte er?” fragte man gespannt.

„Er sah mich mit seinen großen dunklen Augen drohend an und einen Augenblick schien es, als ob er aufbrausen würde, dann entgegnete er ruhig: „Wer so wenig von militärischen Dingen versteht, daß er glaubt, die Gattin eines Kommandeurs lasse sich von einem Lieutenant in unerlaubter Weise den Hof machen, thut mir leid. Uebrigens bin ich gerne erbötig, jedem, dem es notthut, Anstandsstunden zu geben, damit er lernt, wie man über eine Dame, wie Frau von Maltow, zu sprechen hat.”

Wieder schwiegen die Freunde geraume Zeit, ihren Gedanken nachhängend, bis endlich Lieutenant von Pleskow das Wort ergriff: „Ich glaube, wir thun Marbach alle unrecht, ich kenne ihn besser als ihr alle, fast so gut, wie mich selbst. Seit einem halben Jahr wohne ich schon mit ihm zusammen und kein Tag vergeht, an dem wir nicht zusammenkämen. An Marbach ist kein Falsch. Nie würde er sich zu einer Schlechtigkeit verleiten lassen, nie würde er, der Kavalier vom Scheitel bis zur Zehe, es wagen, seine Augen zu einer verheirateten Frau, zu der Gattin eines Kameraden zu erheben. Frau von Maltow und er sind Jugendgespielen, ich weiß es aus seinem eigenen Munde, und dieser, dem Obersten doch natürlich wohlbekannte Umstand läßt ihn häufiger in dem Hause des Vorgesetzten verkehren, als es sonst üblich ist.”

„Gewiß,” bestätigte Reischach, „das erklärt vieles, wenn es auch nicht alles entschuldigt. Wer weiß, wie die beiden in ihrer Jugend miteinander gestanden haben. Vielleicht ist sein leicht entzündbares Herz bei dem Wiedersehen in hellen Flammen aufgegangen, vielleicht liebt er sie mehr als er sich selbst eingesteht, vielleicht mehr als erlaubt ist.”

„Reischach, hüten Sie Ihre Worte,” fuhr Pleskow auf, während die anderen verlegen vor sich hin blickten, „man soll den abwesenden Freund nicht angreifen und beleidigen.”

In Reischachs Gesicht stieg eine jähe Röte. „Nichts lag mir ferner, das wissen Sie so gut wie ich selbst.”

„Und doch thaten Sie es,” fuhr Pleskow fort.

„Und darf ich fragen, inwiefern?”

„Indem Sie ihn beschuldigen, eine Dame zu lieben, die, darin gebe ich Marbach recht, durch die Stellung, die sie einnimmt, über jeden Verdacht erhaben ist.”

„Und ist es denn ehrlos, eine verheiratete Dame zu lieben?” fragte Reischach. „Können wir denn unserem Herzen gebieten und zu ihm sprechen: Sieh dir diese Damen an, in diese darfst du dich verlieben, in diese nicht. Ich denke an das Wort des Dichters: ,Und sprich, wie kommt die Liebe? Sie kommt nicht, sie ist da —'”

„Und doch gebrauchten Sie selbst vorhin den Ausdruck ,vielleicht mehr als erlaubt ist'.”

„Gewiß,” bestätigte Reischach, „aber nicht alles, was nicht erlaubt und nicht recht ist, ist deshalb ehrenrührig.”

„Das sind Wortfechtereien, weiter nichts,” brauste Pleskow auf, sich nur mit Mühe beherrschend; „das sind Ansichten, die ich, offen und ehrlich gestanden, von Ihnen nicht erwartet hätte. Durch den Stand, dem wir angehören, durch den Rock, den wir tragen, nehmen wir in der Gesellschaft eine Ausnahmestellung ein. Nicht als ob wir besser wären als die anderen, — nur thörichte Knaben können die Ansicht haben, daß die Ehre ein Privilegium des Offiziers sei, — aber es ist ein je ne sai quoi, was das Wort ,Offizier' in sich schließt. Man nennt uns — ob mit Recht oder Unrecht, überlasse ich den Feinden unseres Standes — ,die Träger der Ehre' und doppelt und dreifach müssen wir uns hüten, etwas zu thun, was auch nur den Schatten des Unehrenhaften aufkommen läßt. Mögen andere es für begreiflich und verzeihlich halten, daß man sich in die Gattin eines Freundes verliebt — in unseren Kreisen ist der bloße Gedanke an eine solche That schon ein Verbrechen. Das Höchste und Heiligste, was es für uns giebt, ist die Ehre. Ich denke an das Wort, das einst unser hochseliger Kaiser sprach: ,Ich werde einen Offizier, der nicht versteht seine Ehre zu schützen, ebensowenig in meiner Armee dulden, wie jenen, der es wagt, die Ehre eines Kameraden anzutasten.' Und wie könnte dies wohl in sündhafterer Weise geschehen, als wenn jemand es wagte, einem Kameraden das Herz der Gattin abwendig zu machen?”

„Um Gottes willen, Kinder, zankt euch doch nicht,” versuchte Reibnitz zu scherzen, als er sah, welchen Eindruck Pleskows Worte hervorriefen. „Pleskow, Sie fassen die Sache auch gleich zu tragisch auf, wer denkt denn an so etwas? Einer solchen That, wie Sie sie heraufbeschwören, halten wir Marbach ebensowenig für fähig, wie Sie selbst; Reischach, der mit Marbach eng befreundet ist, gewiß am allerwenigsten. Also liegt gar kein Anlaß zum Streit vor. — Kommt, Kinder, reicht euch die Hände und sprecht: Wir wollen es nicht wieder thun.”

Mit komischem Ernst legte er die Hände der beiden ineinander, aber die gedrückte Stimmung, die durch das Gespräch hervorgerufen war, wollte nicht weichen. „Laßt uns heimwärts gehen,” bat Pleskow endlich, „noch heute abend will ich ernsthaft mit Marbach sprechen, schon daß wir seinetwegen so aneinander geraten konnten, beweist, daß er nicht richtig handelt — so geht es nicht weiter.”

„Dann wären wir ja glücklich wieder bei dem Ausgangspunkt unseres Gespräches angekommen,” scherzte Reischach, aber die Freunde waren heute nicht in der Stimmung darauf einzugehen und still und schweigsam trennten sie sich.

Unterdessen schritt Marbach der Wohnung des Kommandeurs entgegen. Nachdem er sich von den Kameraden getrennt, war er noch einmal zu seiner nur wenige Minuten von den Kaserne liegenden Wohnung hinaufgestiegen, hatte dort etwas Toilette gemacht und dann die Räume wieder verlassen. Er hätte diesen Umweg nicht nötig gehabt, denn Marbach gehörte zu jenen Leuten, die immer, selbst in der einfachsten Kleidung elegant und vornehm aussehen, es lag ihm nur daran, sich zu sammeln und die Unruhe, die die Freunde durch ihre Frage in ihm erregt hatten, zu beschwichtigen. Er wollte Zeit gewinnen, sich zu fassen, und erst als er glaubte, daß ihm dies gelungen, schlug er den Weg ein, den er in den letzten Wochen so oft, fast täglich gegangen war und den er fortan noch häufiger zurücklegen würde. Noch häufiger? Er fühlte es, wie dieser Gedanke allein genügte, sein Herz heftiger schlagen zu lassen, er wußte es, und wenn er es nicht schon früher gewußt, so hätte der heutige Abend es ihm zeigen müssen, daß man anfing, seine häufigen Besuche im Hause des Vorgesetzten zu besprechen und zu kritisieren. Noch konnte er allen etwa auftauchenden Gerüchten frei und offen die Stirn bieten, noch war nichts geschehen, was auch nur den leisesten Verdacht hätte auf ihn werfen können, noch nicht, aber würde es fortan so bleiben?

Als Nachbarskinder waren Frau von Maltow und er in Schlesien, wo ihre Väter große Besitzungen besessen, zusammen aufgewachsen. Beide Güter stießen hart aneinander und so war es nur natürlich, daß die beiden, zumal sie ohne Geschwister waren, in der Einsamkeit des Landlebens, wo es ihnen an gleichalterigen und gleichgestellten Gespielen fehlte, täglich zusammenkamen. Entweder machte er sich schon frühmorgens auf den Weg, um den Tag auf dem Gut von Lisbeths Vater zu verleben, oder Lisbeth kam in ihrem kleinen Ponywagen auf den Hof seiner Eltern. Das war selbstverständlich, das war schon so lange gewesen, wie sie denken konnten, und sie würden es nicht begriffen haben, wenn aus diesem oder jenem Grunde eine Aenderung im Verkehr eingetreten wäre. Beide Eltern, innig miteinander befreundet, freuten sich des munteren Zusammenseins ihrer Kinder und ließen ihnen ein gemeinsame Erziehung zu teil werden. Lisbeth war ein aufgewecktes, munteres Mädchen, das fleißig lernte, aber auch zu jeder Zeit zu jedem tollen Streich bereit war, und stets fand sie an Fritz einen treuen Gefährten, der, wenn sie beide ertappt wurden, stets die Schuld auf sich nahm und sich getreulich die nie ausbleibenden väterlichen Prügel verabfolgen ließ.

„Warum läßt du dich immer für mich schlagen? Ich, ich ganz allein habe die Strafe verdient,” klagte dann Lisbeth, indem sie sich an ihn schmiegte und ihm mit ihrem Taschentuch die Thränen trocknete, die er zurückzuhalten vergebens sich bemühte, „ich will das nicht länger haben, sag, warum bekennst du dich immer für schuldig?”

Verwundert schaute er sie dann an; er war doch der Junge, war es da nicht selbstverständlich, daß er für sie eintrat? Eine andere Erklärung gab er niemals, er wußte nicht, daß es ihm Freude machte für sie zu leiden und alles für sie zu thun. Er war ja noch ein Kind, wie konnte er sich da die Regungen seines Herzens deuten? Aber die Kinderjahre gingen dahin, Fritz war zwölf, Lisbeth zehn Jahre und es wurde bald Zeit, vernünftig zu werden, da Fritz das Kadettencorps besuchen und Offizier werden sollte. Das war selbstverständlich in seiner Familie; auch sein Vater hatte lange Jahre seinem Könige treu gedient und die Feldzüge ruhmvoll mitgemacht, nun sollte auch der Sohn, bevor er diese Besitzung übernahm, in ein Regiment eintreten, sich die Welt ansehen und das Leben kennen lernen.

Der erste Gedanke, der Fritz befiel, als ihm der Vater seinen Entschluß mitteilte, war Lisbeth. Was würde er ohne sie anfangen und wie würden sich für sie ohne ihn die Tage gestalten? Sie beide waren so aneinander gewöhnt, daß sie glaubten, die bevorstehende Trennung nicht überleben zu können; sie bemühten sich, sich gegenseitig zu trösten, und trockneten einander die Thränen, die die bevorstehende Scheidestunde ihnen entlockte. Fritz war es, der sich zuerst zu trösten begann, ihn lockte doch vieles, die Menge der gleichaltrigen Genossen, die er kennen lernen würde, die bunte Uniform, auf die er stolz war, ohne sie vorher je gesehen zu haben, die große Stadt mit ihren vielen schönen Läden und Sehenswürdigkeiten, das alles entflammte sein jugendliches Herz und die Thränen, die er fortan vergaß, weinte er nicht seinet-, sondern Lisbeths wegen, das Mitleid, das ermit ihr, die allein zurückbleiben mußte, empfand, war es, das seine Augen feucht werden ließ. So kam die Abschiedsstunde heran, zum letztenmal war Lisbeth auf dem Gute seines Vaters, sie hatten sich gewünscht, daß sie noch einmal einen ganzen Tag allein zusammen sein dürften, um noch einmal alle ihre Spiele spielen zu dürfen. Natürlich wurde ihnen ihr Wunsch erfüllt, aber nun, da sie mit dem Spielzeug in der Hand ihrem gewöhnlichen Tummelplatz entgegengingen, wunderten sie sich plötzlich selbst darüber, daß sie nicht wie sonst in wilder Jagd einherstürmten.

„Lisbeth, warum bist du denn so launisch?” fragte er sie endlich, „wir hatten uns doch so darauf gefreut, noch einmal zusammen toben zu können.”

Einen Augenblick sah sie ihn still an, dann begann sie so bitterlich zu weinen, daß sie glaubte, ihr Herz würde ihr brechen. Wortlos stand er ihr gegenüber, dann nahm er sie in seine Arme und küßte sie — zum erstenmal, aber er wußte nicht, welchem Gefühl dieser Kuß entsprang.

Am nächsten Morgen fuhr Fritz von dannen, sein Vater selbst brachte ihn hin in das Kadettencorps, dessen Kommandeur ihm persönlich bekannt und befreundet war. „Grüß' die Lisbeth und die Mutter,” das war sein letztes Wort an den Vater gewesen, als dieser ihn am Abend verließ. Dann begann das Leben im Corps, ein Tag verging wie der andere, es fehlte trotz des ewigen Einerlei nicht an mancherlei Abwechslung und Zerstreuung, aber manches Schwere blieb auch ihm nicht erspart. Trotzdem war er immer lustig, immer heiter, lebte mit allen seinen jungen Kameraden in stetem Frieden und war immer glücklich.

„Sag' mal, Fritz, warum bist du immer so lustig?”

Wie oft wurde er so gefragt und immer hatte er nur die eine Antwort: Ich weiß es nicht. Immer schwebte ihm Lisbeths Bild halb unbewußt vor seiner Seele, er war immer heiter und glücklich, wenn er an sie dachte, und seine Gedanken weilten stets bei ihr.

Grenzenlos war die Freude, als er zum erstenmal Urlaub bekam und wieder mit ihr wie früher durch Feld und Wald tobte und ihre Blicke voll Verwunderung an seiner Gestalt hingen.

„Fritz, wenn ich größer bin, heirate ich dich.” Damals hatte sie es zum erstenmal gesagt und ihn dabei so seltsam angeschaut, daß es ihm gar sonderbar um das Herz ward. Er fühlte, in ihren Worten lag, trotz ihrer Jugend, mehr als nur ein Scherz. Von diesem Augenblick an nannten sie sich nur Braut und Bräutigam: aus den Stielen der Gänseblume hatte sie zwei Ringe geflochten, die sie sich gegenseitig auf die Finger steckten und hoch hielten, als wären sie von Gold und Edelstein.

Die Jahre gingen dahin: aus dem Kadetten der Vorschule war ein Selektaner geworden, der in wenigen Monaten als Offizier in die Armee eintreten sollte, und Lisbeth weilte nun schon seit zwei Jahren in der großen Pension einer mitteldeutschen Residenz. Die Beziehungen zwischen ihnen waren die alten geblieben, sie standen nach wie vor in lebhaftem Briefwechsel miteinander und keiner verhehlte dem andern, was irgendwie Bedeutendes oder für sie Wichtiges sich ereignete. Lisbeth war ein großes, schlankes und dabei doch kräftiges junges Mädchen geworden, die durch ihren Liebreiz die Eifersucht und den Neid ihrer Freundinnen und die Bewunderung der Herrenwelt erregte. Sie galt, zumal bei ihrem bedeutenden Vermögen, für eine begehrenswerte Partie und es fehlte ihr trotz ihrer Jugend, sie zählte achtzehn Jahre, nicht an Bewerbungen, über die sie immer sofort an Fritz zu berichten pflegte. „Denke dir nur, schon wieder hat sich einer in mich verliebt,” schrieb sie dann lustig und ausgelassen, „ich begreife das gar nicht. Denn ich denke, alle Meschen müßten es mir gleich ansehen, daß ich immer noch in dich verliebt bin. Denke dir mal, immer noch, ob es wohl ewig so bleiben wird?” Und stets fügte sie dann in einem Nachsatz hinzu, daß nur ihre Unart ihr die letzte Frage diktiert habe, er wisse sehr wohl, daß sie nie einen anderen heiraten würde als ihn, d. h. wenn er sie später noch wolle.

Immer und immer wieder las er diese Briefe, die er wie ein Heiligtum aufbewahrte.

Da trat ein Ereignis ein, das eine große Umwälzung der ganzen Verhältnisse herbeiführte. Sowohl Lisbeths wie sein eigener Vater hatten sich überreden lassen, sich an der Gründung einer Zuckerfabrik, von der man sich großen Gewinn versprach, mit einem bedeutenden Kapital zu beteiligen. Aber die Hoffnungen schlugen fehl: statt des erwarteten Gewinnes traten Verluste ein und man mußte sich zu immer neuen Opfern entschließen, wenn man nicht das bisher aufgewendete Geld ganz verlieren wollte. Nur zu bald erwies sich die Fabrik als ein Faß ohne Boden, das Unsummen verschlang, ohne jemals auch nur den geringsten Nutzen abzuwerfen. So sahen sich die beiden Freunde eines Tages dem Unglück gegenüber, sie mußten, um ihren eingegangenen Verpflichtungen nachkommen zu können, ihre Güter verkaufen und sie retteten für sich und die Ihrigen nur ein ganz geringes Kapital, dessen Zinsen kaum hinreichten, sie vor der ärgsten Not zu schützen. Sein Vater zog in eine in der Nähe gelegene Stadt, während Lisbeths Eltern ihren Wohnsitz nach Ostpreußen verlegten, wo der Vater sich durch die verwandtschaftlichen Beziehungen seiner Frau eine Stellung zu erringen hoffte. Natürlich blieb dies Ereignis auch nicht ohne Folgen für die Kinder. Lisbeth mußte die teure Pension verlassen und zu ihren Eltern zurückkehren, während Fritz, der gehofft hatte, bei einem Gardekavallerieregiment eintreten zu können, nun gezwungen war, sich bei einem Linien-Infanterie­regiment einstellen zu lassen. Aber als guter Sohn beklagte er den Verlust des Geldes nicht seinetwegen, mit Schrecken dachte er daran, wie die Eltern das harte Geschick ertragen würden. Aber die Hauptfrage, die ihn erfüllte, war Lisbeth; ihre Briefe an ihn zeigten eine solche Verzweiflung, daß er ernstlich für sie zu fürchten begann, und wie ein roter Faden zog sich durch ihre Briefe immer der Angstschrei: „Fritz, verlaß mich nicht, was soll aus mir werden, wenn die Eltern einst gestorben und auch du mich dann verlassen hast?” Er antwortete ihr stets auf das zärtlichste und spendete ihr Trost, an den er selbst nicht zu glauben vermochte. Wie konnte er, der Mittellose, ihr jemals eine Stütze sein, er, der eine Stellung einnehmen wollte, in der jegliches Verdienen ausgeschlossen war, die zur einen Hälfte mit Geld, zur anderen Hälfte mit der Ehre gelohnt wird? Er wollte versuchen, als Offizier vom ersten Tage an seine Pflicht und Schuldigkeit voll und ganz zu thun, vielleicht gelang es ihm dann bei eisernem Fleiß eine gute Carriere zu machen, an ihm sollte es nicht liegen, wenn er sein Ziel nicht erreichte, ein köstlicher Lohn winkte ihm und der Gedanke an die Geliebte würde ihm alle Hindernisse zu überwinden helfen.

Wieder waren Jahre vergangen. Die weite Entfernung, die die Wohnsitze der Eltern trennte, hatte ein Wiedersehen bisher unmöglich gemacht. Fritz stand in einer billigen Garnison Süddeutschlands, aber es bedurfte trotzdem seines ganzen Finanzgenies, um mit der geringen Zulage, die ihm wohlhabende Verwandte aus Gnade und Barmherzigkeit zukommen ließen, zu existieren, wo sollte er da die Mittel zu einer Urlaubsreise hernehmen? Aber die Trennung hatte nicht vermocht, Lisbeths Bild aus seinem Herzen zu reißen; die Briefe, die sie ihm in regelmäßigen Zwischenräumen schickte, waren sein Trost und seine einzige Freude in seinem an Arbeit und Entbehrungen aller Art so reichen Leben und er betrachtete dieselben wie einen Schatz, von dem er sich um keinen Preis der Welt getrennt hätte. Auf einem Gut eines Verwandten hatten Lisbeths Eltern ein Unterkommen gefunden, dort wollten sie bleiben, bis es dem Vater gelungen war, eine kleine Pachtung oder etwas ähnliches zu übernehmen. Aber ein Jahr nach dem andern verging, des Vaters Thatkraft war erloschen, er konnte sich zu keinem Unternehmen mehr entscheiden und so hielt ihn stets im letzten Augenblick die Furcht, auch noch den letzten Rest seins Vermögens zu verlieren und sein Kind dann bei seinem Tode vollständig mittellos auf der Welt zurückzulassen, davon ab, zuzugreifen. Lisbeth litt entsetzlich unter diesen Verhältnissen, ihr frohes Lachen, das er sonst aus ihren Briefen zu hören glaubte, war verstummt und in banger Sorge um ihre Eltern verflossen ihre Tage.

Plötzlich begann aus ihren Briefen wieder Lust und Freude am Leben zu sprechen. Ein reicher Onkel hatte sie zu sich eingeladen und sie bald so in sein Herz geschlsosen, daß sie bei ihm blieb, um ihm, da er Witwer war, den Haushalt zu führen. Hier lernte sie Herrn von Maltow kennen und bald bildete dieser den einzigen Inhalt ihres Schreibens. Er war Major bei einem in der Nähe garnisonierenden Infanterie­regiment und als leidenschaftlicher Jäger ein häufiger Gast auf dem Gut, dessen große Jagd ihm vollauf Gelegenheit zur Befriedigung seiner Passion bot. Während Fritz sonst voll Ungeduld den Tag erwartete, der ihm einen Brief von Lisbeth brachte, befiel ihn jetzt stets eine ihm selbst unerklärliche Angst, wenn er ihre Handschrift erkannte und er zögerte den Umschlag zu öffnen. Die Eifersucht hatte ihn ergriffen, er fühlte es und las es aus jedem Wort, daß ihr Herz für den Major schlug, obgleich sie ihm nach wie vor ihrer ewigen treuen Liebe versicherte. So hatte er Zeit, sich auf das, was er vorauskommen sah, vorzubereiten, aber dennoch traf es ihn wie ein Schlag, als sie ihm eines Tages ihre Verlobung mit Herrn von Maltow anzeigte: „Fritz, mein lieber Fritz, ich flehe dich an, zürne mir nicht. Ach, ich bin so unbeschreiblich glücklich, und nur das Gefühl, dir vielleicht wehe zu thun, vermag es zu trüben. Ich liebe ihn, wie sonst nur dich auf dieser weiten Welt. Ich weiß, daß du mich treulos schelten wirst, thue es nicht, es wäre unrecht. Lange, lange habe ich auf dich gewartet, du kamst nicht, weil du nicht kommen konntest und auch in Zukunft würde es nicht anders sein. Wir beide sind so arm — laß uns vernünftig sein, laß nicht nur unser Herz, sondern auch unsern Verstand sprechen. Nie würden wir zusammenkommen! Zürne mir nicht, du weißt, daß ich dich liebe, beinahe so stark wie ihn, den ich über alles liebe.”

Stundenlang saß er vor diesen wenigen Zeilen, bis er endlich begriff, daß sie auf immer für ihn verloren war. Sie hatte ja recht, was konnte er ihr bieten und wann konnte er, der ärmste Leutnant des Regiments, je daran denken, eine Frau zu ernähren. Wenn er Hauptmann war? Das konnte noch lange, lange Jahre währen, ja, sie hatte ja nur zu recht mit allem, was sie sagte, aber hart, unbeschreiblich hart war es doch für ihn. „Nur das Gefühl, dir vielleicht wehe zu thun.” Wie oft hatte er diese Worte gelesen. ,Vielleicht.' Wußte sie es wirklich nicht, wie sein Herz bluten würde von der Wunde, die sie ihm schlug, oder wollte sie sich selbst damit belügen in dem Gefühl des Glücks, das sie beherrschte? Vielleicht. Dies eine Wort kränkte ihn tiefer als die That, die sie begangen, war sie so kalt und herzlos, daß sie wirklich den Schmerz, der sein Innerstes durchwühlte, nicht mitempfand? Der Trotz stieg in ihm auf, aus seinem Munde sollte sie nicht erfahren, wie er ihretwegen litt. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, um ihr Glück zu wünschen zu dem Schritt, den sie gethan, aber während er schrieb, stieg ihr Bild wieder vor ihm auf und er konnte die Thränen nicht zurückhalten. Es war nicht allein der Schmerz, sie verloren zu haben, der ihn weinen ließ — seine Thränen galten dem verschwundenen Glück seines Lebens, dem dahingegangenen Ziel seines Strebens, nun hatte er nichts mehr auf der weiten Welt, nichts als seine Armut.

Wie ein Toter hatte er an jenem Nachmittag ausgesehen, als er in das Kasino gekommen war, und teilnehmend hatten die Kameraden ihn umringt, ja, der Doktor hatte trotz allen Abwehrens darauf bestanden, ihn zu untersuchen, „denn entwder sind Sie krank oder Sie werden krank, ein gesunder Mensch kann nicht so aussehen,” hatte er geäußert. Aber Marbach blieb gesund und verschloß sein Herz gegen jedermann; wer würde ihn auch verstanden haben, und selbst, wenn er ein teilnehmendes Gemüt gefunden hätte, niemand wäre imstande gewesen, zu helfen und zu retten. Nur die Zeit vermochte seinen Schmerz zu heilen. Anfangs rissen Lisbeths Briefe die kaum vernarbte Wunde immer wieder von neuem auf, aber allmählich wurden ihre Schreiben seltener, bis sie endlich ganz aufhörten. Die Einladung zur Hochzeit hatte er abgelehnt, er wollte sie nie wieder sehen, nicht weil er ihr zürnte, sondern weil er sich nicht stark genug fühlte, bei einer Begegnung mit ihr die Empfindungen seines Herzens zu verheimlichen. Er wollte versuchen, sie zu vergessen, und deshalb war ihm seine Einberufung auf die Kriegsakademie doppelt willkommen. Mit Auszeichnung bestand er nach drei Jahren sein Examen und wurde, um ihm eine Anerkennung seines Fleißes zu teil werden zu lassen, in sein jetziges Regiment versetzt, in dem er, wegen der für ihn bedeutend besseren Anciennitäts­verhältnisse, hoffen konnte, in zwei bis drei Jahren Hauptmann zu sein.

Ungefähr ein Jahr stand er in der neuen Garnison und er war kaum zum Adjutanten ernannt, als sein Kommandeur zum General avancierte und Freiherr von Maltow der Oberst seines Regiments wurde, und bald gab es für ihn keinen Zweifel mehr, daß Lisbeths Gatte und sein neuer Vorgesetzter eine und dieselbe Persönlichkeit wäre. Wie trittst du ihr gegenüber? Das war die Frage, die er sich stündlich vorlegte, nachdem er sich von dem ersten Schrecken, den ihm die Nachricht verursachte, erholt hatte. Wie trittst du ihr gegenüber? Die Frage war so schwer und doch ergab sich die Antwort für ihn ganz von selbst. Sie war die Gattin des Kommandeurs, mit aller Ehrerbietung und Hochachtung mußte er ihr nahen, die Jugendtorheiten mußten vergessen sein, mit keinem Wort, keinem Blick durfte er sie daran erinnern. Würde er stark genug sein, seinen Vorsatz auszuführen? Er hoffte und glaubte es, wohl fühlte er sein Herz bei dem Gedanken, Lisbeth wiederzusehen, unruhig schlagen, aber dies entsprang mehr einer gewissen Verlegenheit als der Freude, sie wieder zu begrüßen, die Liebe zu ihr glaubte er für immer überwunden zu haben.

„Ich freue mich, daß gerade Sie mein Adjutant sind. Meine Frau hat mir viel von Ihnen erzählt, ich weiß, daß Sie Jugendgenossen und Spielkameraden sind. Meine Frau ist glücklich, hier in der ihr vollständig fremden Garnison gleich einen lieben Bekannten vorzufinden, und ich bitte Sie schon heute, sich ihrer etwas annehmen zu wollen, und ich hoffe, daß Sie, mein lieber Herr von Marbach, sich später in unserem Hause wohl fühlen werden.”

Mit diesen Worten hatte Herr von Maltow ihn begrüßt und ein jähes Rot war ihm in die Wangen gestiegen. „Die Frau Gemahlin ist wirklich zu liebensüwrdig, sich meiner noch zu entsinnen — ich werde eifrigst bemüht sein, mir das Vertrauen des Herrn Oberst zu erwerben.” Verlegen hatte er diese und ähnliche leere Redensarten gestottert und war dann mit seinem neuem Kommandeur sofort auf die Wohnungssuche gegangen. Er konnte sich dabei eines eigentümlichen Gefühls nicht erwehren: in den Stunden, in denen er geträumt hatte von der Zeit, in der Lisbeth ihm endlich angehören würde, hatte er sich so oft in Gedanken die Räume, in denen sie wohnen würden, eingerichtet und nun ging er an der Seite ihres Gatten, um für sie ein Heim auszuwählen. Viele Stunden stiegen sie treppauf, treppab, bis sie endlich etwas Passendes gefunden, und Marbach hatte während dessen vollauf Gelegenheit, sich den neuen Kommandeur anzusehen. Er war ein großer, stattlicher Herr von starker kräftiger Gestalt, dem man auch ohne den bunten Rock sofort den Soldaten angehsehen hätte. Er schien höchstens anfangs der Vierzig zu sein, ein sehr geringes Alter für den hohen Rang, den er bekleidete, und ein Zeichen für seine militärischen Fähigkeiten. Lisbeth mochte recht gehabt haben, wenn sie in einem Briefe an ihn schreib: „O, könntest du ihn sehen — man muß ihn lieb haben, auch wenn er nicht so schön wäre, wie er ist.” Aus seinem ganzen Wesen sprach eine unbeschreibliche Güte und ein grenzenloses Wohlwollen gegen jedermann, und in seinen klaren Augen spiegelten sich die Empfindungen seines edlen Herzens wieder. Ein heiteres, glückliches Lächeln umspielte seinen Mund, so oft er von seiner Frau sprach, an der er mit abgöttischer Liebe zu hängen schien und der sein ganzes Sinnen und Trachten galt.

Nach etwa vierzehn Tagen traf Lisbeth ein und das erste Wiedersehen nach so langer Trennung verlief besser, als Marbach je zu hoffen gewagt hatte. Als Adjutant war er bei ihrer Ankunft auf dem Bahnhof und übereichte ihr im Namen des Regiments einen duftenden Strauß als Willkommensgruß. Voll Verwunderung hatten seine Blicke an der stolzen Erscheinung gehangen, die ihm so ruhig und unbefangen gegenüberstand, als sähen sie sich heute zum erstenmal. Sie war sich ihrer Stellung anscheinend wohlbewußt und mochte die richtige Empfindung haben, daß sie als Gattin des Kommandeurs gegen jedermann freundlich, aber mit niemandem vertraulich sein dürfe. Wie hatte ihr Aeußeres sich zu ihrem Vorteil verändert; fast zehn Jahre waren es her, daß er sie zum letztenmal gesehen und so konnte er nicht genug staunen, wie das junge, unentwickelte Mädchen zu einer sich ihrer Schönheit vollbewußten Frau erblüht war. Aus ihren Augen sprach noch immer derselbe Schalk und Uebermut, dem er so viele väterliche Schläge zu verdanken hatte, und um ihren Mund, den er so oft geküßt, spielte wie früher das heitere, harmlose Lächeln, mit dem sie jeden neuen Tag, jede der einfachen kleinen Freuden begrüßt hatte.

So viele froh verlebte Stunden traten ihm bei ihrem Anblick vor die Seele und einen Augenblick zögete er, als würde er ersticken an der feierlichen Anrede, mit der er sie begrüßen sollte. Aber gewaltsam bezwang er sich und er sprach die Worte: ,Meine sehr verehrte, gnädige Frau' mit einer Ruhe und Sicherheit, als wenn er sie nie anders genannt hätte.

Sie reichte ihm, nachdem er geendet, dankend die Hand, die er an seine Lippen führte. Dann geleitete er sie bis zu ihrer Wohnung, wo er sich verabschiedete, nachdem er sowohl dem Kommandeur wie der gnädigen Frau versprochen hatte, in den allernächsten Tagen einmal vorzusehen.

Schneller als er beabsichtigt, wurde er zu diesem Besuch veranlaßt und der Kommandeur selbst war es, der ihn dazu aufforderte: „Meine Frau kann sich hier gar nicht zurecht finden — sie kennt keinen Menschen, keine Straße und keinen Handwerker, gehen Sie ihr, bitte, mit Rat und That zu Hilfe.” So kam es, daß er ihr bei dem Einrichten der Wohnung half, daß er kleine Besorgungen für sie machte, ihr Adressen aufgab und fast täglich bei ihr vorsprach, um sich zu erkundigen, ob er ihr irgendwie von Nutzen sein könne. Ihr Verkehr gestaltete sich heiter und ungezwungen, sie lachten und scherzten miteinander wie früher, aber mit keinem Wort berührten sie je die Vergangenheit. Es war eine Komödie, die sie spielten, das fühlten sie schon nach wenigen Tagen, aber anstatt daß sie sich offen aussprachen über das, was ihnen auf dem Herzen lag, vermieden sie ängstlich jede Gelegenheit, die sich hierzu geboten hätte, und anstatt ihr Herz zu erleichtern, wurde es immer unruhiger und schwerer. Jeder erwartete, daß der andere zuerst sprechen sollte, aber Marbach war sich der Ehrerbietung, die er der Gattin des Kommandeurs schuldete, wohl bewußt, er durfte das erste Wort nicht sprechen und ein Gefühl der Scham und Verlegenheit hielt Lisbeth ab, der Vergangenheit zu erwähnen.

Mit der Zeit wurden seine Besuche seltener. Frau von Maltow hatte sich eingerichtet und eingelebt und er durfte nicht kommen, wenn er nicht aufdringlich erscheinen wollte. Im Hause eines Kameraden wäre es etwas anderes gewesen, dort hätte er sich einladen oder auch unangemeldet erscheinen können. In die Wohnung seines Vorgesetzten durfte er sich nur begeben, wenn ihn entweder eine dienstliche Veranlassung oder eine spezielle Einladung dorthin beriefen, das erforderte die Autorität und die Disziplin, die auch im geselligen Verkehr der militärischen Kreise niemals aufhören dürfen. Und Marbach war froh, daß ihn das Gesetz und die Sitte zwang, das Haus zu meiden, denn nur zu bald wurde es ihm klar, daß seine Liebe zu Lisbeth, die er schon seit Jahren erstorben glaubte, noch nicht erloschen war. Das erste Wiedersehen hatte genügt, um die Flamme in seinem Herzen wieder auflodern zu lassen, er hatte geglaubt, in wenigen Tagen die Neigung wieder bezwingen zu können, er hatte sie häufiger als nötig aufgesucht, um sich an das Zusammensein mit ihr wieder zu gewöhnen und das Ungewöhnliche fortan als etwas Selbstverständliches zu betrachten. Er fühlte es, unrettbar würde er sich wieder mit seiner ganzen früheren Leidenschaft in sie verlieben, nur ein Mittel gab es, sich davor zu schützen, das war, sie zu meiden. Aber das Wohlwollen, das der Kommandeur für ihn hegte, ließ seinen Vorsatz nicht zur Ausführung kommen, er mußte versprechen, einen Abend in jeder Woche bei ihm zuzubringen. Er konnte die Einladung nicht ablehnen, wenn er nicht mehr als unhöflich sein wollte, und doch suchte er nach einem Vorwand, der es ihm ermöglichte, das Anerbieten auszuschlagen. Vergebens. Aus dem ganzen Benehmen seines Vorgesetzten ihm gegenüber und aus mancherlei Aeußerungen hatte Marbach gar bald ersehen, daß dieser nicht wußte, in welchem Verhältnis er früher zu Lisbeth gestanden hatte. Warum hatte sie dem Gatten den wahren Sachverhalt verschwiegen? Hatte sie die Jugendliebe für zu unbedeutend gehalten, um überhaupt davon zu sprechen, oder war es geschehen, weil sie gleich wie er die Liebe noch nicht überwunden hatte, weil sie ihn noch immer liebte? Er fühlte, wie dieser Gedanke ihm stets das Blut in die Wangen trieb, aber war es nicht nur ein Gedanke? Mit keinem Wort, mit keinem Blick hatte sie je verraten, daß sie auch nur im Geringsten etwas anderes für ihn empfände als Freundschaft, wie kam er nur auf solche thörichten Ideen! Er mußte annehmen, daß ihr Herz nur für ihren Gatten schlug. Welchen Grund sollte er da angeben, wenn man ihn nach der Ursache seines Fernbleibens fragen würde? Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Einladung anzunehmen. Die Theestunden im Hause des Kommandeurs, an denen er als einziger Gast teilnahm, verliefen in heiterster, ungezwungenster Unterhaltung wie im Fluge, und erschrocken sah Marbach in die Höhe, wenn die Schläge der Uhr die elfte Stunde verkündeten. Nur zu gern ließ er sich dann überreden, noch ein Viertelstündchen zu bleiben und aus dieser einen wurden dann noch mehrere, bis Frau Lisbeth ihn endlich lachend zum Aufbruch mahnte. Aber bald wiederkommen, das war stets ihr letztes Wort.

So gingen die Wochen dahin. Schon lange war die alte Liebe in ihrer ganzen Glut wieder in ihm erwacht und er liebte sie heißer und inniger denn je. Entsetzen ergriff ihn, als er sich zum erstenmal seiner Leidenschaft in ihrer ganzen Größe bewußt wurde. Aber nur zu schnell versuchte er sein Gewissen zu beruhigen, war es denn wirklich etwas so Ungeheuerliches, daß er die Gattin eines anderen liebte? Kam so etwas in der Welt nicht täglich vor und läßt die häufige Wiederholung eines Verbrechens dasselbe nicht gelinde beurteilen, wenn sie es auch nicht zu entschuldigen vermag? War er denn schuldiger als so viele andere, die hocherhobenen Hauptes durch die Welt gingen? Eine innere Unruhe und eine Hast, die ihn von einem Gegenstande zu dem anderen trieb, hatte ihn ergriffen; er vernachlässigte seine Arbeiten und den Freundeskreis, er sann und dachte nichts weiter als Lisbeth und versäumte keine Gelegenheit, die sich ihm bot, sie zu sehen und sie zu sprechen. Sein Kommandeur war nach wie vor von einer sich stets gleichbleibenden Güte und Liebenswürdigkeit und ahnte nicht, was in der Brust seines jungen Freundes vorging. Marbach fühlte, wie zuweilen die Augen des Vorgesetzten väterlich wohlwollend auf ihm ruhten und diese Güte ließ sein Herz oft zum Zerspringen schlagen. Er wollte Lisbeth fliehen, er mußte sich in eine andere Garnison versetzen lassen, das war die einzige Lösung, die es für ihn gab; vorher aber wollte er aus ihrem Munde noch einmal das Wort hören, das sie früher so oft zu ihm gesprochen, das kurze Wort: ,Ich liebe dich!' Es war eine fixe Idee, die ihn ergriffen, er glaubte, daß dann, wenn er das Geständnis ihrer Liebe hätte, noch alles für ihn gut werden würde, und gestand sich nicht, daß dadurch nur neues Unrecht zu dem schon begangenen hinzugefügt würde. Er war krank, ohne es zu wissen, fieberhaft jagte das Blut durch seine Adern und das Hämmern und Pochen in seinen Schläfen, das nicht nachließ, verhinderte ein ruhiges Denken und Ueberlegen.

Marbach war vor dem Hause des Kommandeurs angelangt. Einen Augenblick zögerte er noch auf der Straße und sah hinauf zu den erleuchteten Fenstern, hinter denen er ihre schlanke Gestalt zu erblicken glaubte. Dann stieg er die Treppe hinauf und zog die Glocke.

Die Herrschaften sind zu Hause?

Der Diener bejahte. Marbach hing Mütze, Säbel und Mantel an den Garderobenhalter und begab sich in den Salon, wo er Frau Lisbeth damit beschäftigt fand, den Samowar anzuzünden. Sie reichte ihm freundlich die Hand, die er an seine Lippen führte. „Sie kommen spät, Herr von Marbach, ich glaubte schon, daß auch Sie, ebenso wie mein Mann, mich heute abend im Stich lassen würden.”

„Der Herr Oberst ist nicht zu Hause?” fragte Marbach erschrocken und er fühlte, wie ihm bei dem Gedanken an ein Alleinsein mit der Geliebten das Herz stillzustehen drohte.

Bevor sie noch antworten konnte, öffnete sich die Thür und der Kommandeur erschien auf der Schwelle. Er reichte seinem Adjutanten herzlich die Hand: „Sie müssen mich heute entschuldigen, lieber Marbach, ein alter Regiments­kamerad, der auf der Durchreise hier einige Stunden weilt, hat mich gebeten, mich seiner anzunehmen. Als Junggeselle zieht er den Besuch eines guten Restaurants einer gemülichen Theestunde vor und so muß ich ihm seinen Willen lassen. Ich hoffe, daß Sie mein Fortgehen nicht übelnehmen; selbstverständlich lassen Sie sich dadurch nicht stören, meine Frau würde es mir nie verzeihen, wenn ich Sie durch meinen Aufbruch vertriebe.”

Er küßte seine Gattin zum Abschied auf die Stirn und reichte seinem Gaste nochmals die Hand. Dann ging er hinaus und wenige Minuten später hörten sie seine Schritte auf der Treppe verhallen.

„Wollen wir nicht Platz nehmen?” fragte Lisbeth endlich, indem sie auflachte, „oder wollen wir heute abend unseren Thee im Stehen trinken?”

Es entging ihm nicht, daß sie versuchte, durch einen Scherz die verlegene Stille, die bisher geherrscht hatte, zu verscheuchen, und er hörte, wie ihre Stimme zitterte, während sie ruhig zu scheinen sich bemühte.

Er ließ sich auf seinem gewöhnlichen Platz ihr gegenüber nieder und sah sie an, während sie dem Nähkorb eine Handarbeit entnahm.

„Einen Augenblick müssen Sie sich noch mit dem Thee gedulden,” sagte sie, „ich hatte den Samowar schon ausgehen lassen und erst wieder angezündet, als ich Ihre Schritte auf der Treppe hörte.”

„So haben Sie mich erwartet?”

„Welch sonderbare Frage? Ist heute nicht Mittwoch? Ihr regelmäßiger Besuchstag?”

Das klang so ruhig und harmlos, als wenn sie nicht bemerkt hätte, daß seine Frage mehr als eine leere Redensart war. Sie wollte ihn nicht verstehen oder sie verstand ihn wirklich nicht und er schalt sich wahnsinnig, daß er sich von ihr geliebt glaubte. Aber vielleicht liebte sie ihn dennoch, vielleicht kämpfte auch sie, gleich ihm, gegen die Neigung des Herzens an. Zu lange hatten sie beide geschwiegen, als daß sie jetzt, wo sie kaum wenige Minuten allein waren, ihr Innerstes verraten sollte. Aber Gewißheit wollte er haben um jeden Preis, nicht länger konnte er diesen qualvollen Zustand ertragen. Er wollte sie in Sicherheit wiegen, ruhig und unbefangen erscheinen wie immer, dann würde auch sie die Furcht vor dem Alleinsein mit ihm verlieren und dann, wenn sie glaubte, daß keine Gefahr ihr drohe, wollte er sie fragen: ,Lisbeth, hast du mich lieb?'

So begann er denn in seiner heiteren lustigen Art und Weise mit ihr zu plaudern, erzählte ihr, was sich neues in der Stadt zugetragen, moquierte sich in scherzhafter Weise über die lieben Mitmenschen und zog Vergleiche zwischen der hiesigen Gesellschaft und den Kreisen, in denen er früher in anderen Garnisonen verkehrt hatte. Unmerklich und anscheinend unbeabsichtigt brachte er so das Gespräch auf ihre gemeinsame Jugendzeit und sein Herz frohlockte, als er sah, wie ihre Wangen sich färbten und wie sie heftig aufstand, um sich an dem Theetisch zu schaffen zu machen. Er sah, wie sie unter seinen Worten litt und auf einmal bereitete es ihm ein teuflisches Vergnügen, sie zu quälen, sie die Leiden entgelten zu lassen, die er ihretwegen ausgestanden hatte.

„Ein oder zwei Stück Zucker, Herr von Marbach?”

„Immer nur noch eins, gnädige Frau. Ich bin der Alte geblieben, sowohl in meinen Gewohnheiten, wie in meinen Gesinnungen.”

Er that, als bemerke er es nicht, wie das Glas in ihrer Hand zitterte, sondern nahm es ruhig mit einem höflichen Wort des Dankes entgegen.

Dann sprach er lustig weiter, erkundigte sich nach tausend nebensächlichen Dingen, brachte das Gespräch auf das Theater und auf die neuesten Erscheinungen der Kunst und Litteratur, bis er wieder plötzlich bei der Jugendzeit angekommen war. Aber sein ganzes Wesen und sein ganzes Gebaren verriet, trotz seiner Bemühungen es zu verheimlichen, eine solche Unruhe, daß auch sie davon ergriffen wurde, und ihr Lachen klang gekünstelt und gezwungen. Marbach merkte dies wohl und wurde immer heiterer und ausgelassener, er weidete sich förmlich an den Qualen seines Opfers.

„Aber Herr von Marbach, ich kenne Sie ja heute abend gar nicht wieder, was haben Sie denn nur?”

In ihrer tödlichen Angst stieß sie diese Frage hervor, in der Hoffnung, daß sie dadurch eine Aenderung seines Benehmens herbeiführen würde.

Er starrte sie an; jetzt, das fühlte er, jetzt war der Augenblick gekommen, den er seit Monaten ersehnt. Eine Sekunde zögerte er noch, für eine Sekunde verließ ihn der Mut, war es doch die Gattin seines Kommandeurs, die ihm gegenüber saß. Da erfaßte er mit seiner Rechten zufällig das Medaillon, das er seit langen Jahren an seiner Uhrkette trug und darinnen der Verlobungsring lag, den sie ihm einst auf der Wiese geflochten und von dem er sich nie getrennt hatte. Es war, als wenn ein glühender Strahl von der kleinen Kapsel ausginge, denn sein Blut begann heftiger zu fließen und stärker pochte das Blut in seinen Schläfen.

„Was ich nur habe? Wissen Sie es wirklich nicht, soll ich es Ihnen denn erst sagen, daß ich Sie liebe?”

Eine fahle Blässe überzog ihr Gesicht und erschrocken lehnte sie sich in ihren Sessel zurück: „Marbach, ich flehe Sie an, haben Sie Erbarmen!”

„Erbarmen?” Er lachte bitter auf. „Hatten Sie denn mit mir Erbarmen, als Sie mir plötzlich die Liebe kündigten und mich gehen hießen, wie einen Knecht, der seine Arbeit gethan hat? Ich bin zu stolz, um zu sagen, was ich damals gelitten, aber daraus, daß ich dich noch immer liebe, kannst du ersehen, wie unermeßlich meine Liebe war.”

Sich selber unbewußt, war er in die vertrauliche Anrede der früheren Zeit übergegangen, und auch sie schien es nicht bemerkt zu haben. Sie hatte ihr Gesicht mit beiden Händen bedeckt, aber die hervorbrechenden Thränen verrieten, was sie litt.

Er war vor ihr niedergekniet und hatte ihre Kniee umschlungen: „Lisbeth, ich liebe dich, ich weiß, daß es eine Sünde ist, es dir zu sagen, aber ich werde wahnsinnig, wenn ich das Geheimnis noch länger in meinem Innern verschließen soll. Lisbeth, hab' Erbarmen mit mir, sag', daß auch du mich liebst und dann laß mich vor Glückseligkeit sterben.”

Er hatte seinen Kopf in ihren Schoß vergraben und sie fühlte, wie sein großer, starker Körper vor Erregnung zitterte und bebte. Ein grenzenloses Mitleid mit dem Jugendfreund ergriff sie und dieser Augenblick, da er um Liebe flehend zu ihren Füßen lag, gab ihr die Gewißheit, daß auch sie ihn liebe, daß es eine Lüge gewesen war, wenn sie sich eingeredet hatte, sie empfinde für ihn weiter nichts als Freundschaft.

„Lisbeth, sage mir, daß auch du mich noch liebst.”

Es klang wie der Hilfeschrei eines Sterbenden, so verzweiflungsvoll und ergreifend, daß sie laut aufschluchzend sich zu ihm niederbeugte und ihre Arme um seinen Hals schlang. Sie küßte ihn auf die Stirn und lehnte ihren Kopf an seine Schulter: „Fritz, mein armer, armer Fritz!”

Er hob die thränenfeuchten Augen zu ihr empor: „Sprich nicht von Mitleid — was ist Erbarmen, wenn das Herz sich mit allen Fasern nach Liebe sehnt — sag' es mir nur einmal, daß du mich liebst.”

Er war aufgesprungen und hatte die willenlose Gestalt an sich gerissen, sie fühlte seine feurigen Küsse auf ihren Augen und auf ihren Lippen und war ohnmächtig, den Liebkosungen zu widerstehen. Ein wilder Taumel ergriff sie, sie erwiderte seine Zärtlichkeiten und in einem heißen Kuß brannten ihre Lippen auf seinem Mund. Immer stürmischer wurden seine Liebkosungen, immer feuriger die Worte, die er ihr in das Ohr flüsterte: „Lisbeth, noch ist es Zeit, komm mit mir, gewähre mir das Glück, das ich seit Jahren ersehnt. Mein bist du, du hast dich mir versprochen vor vielen Jahren, weil du mich liebtest. ich fühle es, du liebst mich noch, komm, laß uns glücklich sein.”

Er zog sie zu sich nieder auf den Sessel und jetzt, da sie die wilde Glut sah, die aus seinen Augen sprach, da sie seinen heißen Atem empfand und seine Arme sie immer fester und fester an sich heranzogen, da erst wurde ihr klar, in welcher Lage, in welcher Gefahr sie sich befand. Die Leidenschaft war verraucht, Angst und Entsetzen ergriff sie und mit Gewalt befreite sie sich aus seiner Umarmung. Mit starker Hand stieß sie ihn zurück, als er sich ihr näherte: „Nie, nie, Fritz, Unmögliches verlangst du von mir.”

„Lisbeth, hast du mich denn nicht lieb, hat nicht dein Blick, dein Kuß es mir verraten?”

Er trat einen Schritt auf sie zu und streckte sehnsüchtig verlangend die Arme nach ihr aus, aber abwehrend erhob sie die Hände.

„Ja, Fritz, ich liebe dich, warum soll ich verschweigen, was du doch weißt und was eine schwache Stunde dir verraten hat. Nicht vergessen ist die Zeit, in der du mir alles warst — nicht vergessen und noch nicht überwunden.”

Sie schwieg und senkte beschämt den Blick zu Boden. Er trat auf sie zu und legte seinen Arm um ihren Nacken: „Lisbeth, wenn es so ist, wie du sagst, was hindert uns denn, glücklich zu sein?”

Sie hob die Augen zu ihm empor und sprach, zuerst leise, dann immer klarer und bestimmter: „Was mich hindert? Die Pflicht! Ich bin nicht frei, gebunden bin ich an einen Gatten, der mich aus dem Nichts emporgehoben hat zu hoher, gesellschaftlicher Stellung, dem ich alles verdanke, was ich bin und was ich habe, den ich über alles schätze und dessen Ehrenhaftigkeit mich immer von neuem mit Bewunderung und Dankbarkeit erfüllt. Alles, alles schulde ich ihm, soll ich ihm das Gute, das er mir gethan, also vergelten? Er liebt mich schrankenlos, er würde sterben, wenn ich ihn je verriete, und sollen wir beide, denen geneüber er stets die Güte selbst ist, Anlaß geben, daß sein Ruf, seine Stellung, seine Carrière und sein Lebensglück zerstört werden?”

Sie sah ihn flehentlich bittend an, aber mehr als die stumme und doch so beredte Sprache ihrer Augen geben ihm ihre letzten Worte die ruhige Besinnung und Ueberzeugung wieder; jetzt erst erkannte er, was er gethan, und wie vernichtet sank er auf einen Sessel. „Mein Gott, was habe ich gewollt? Wie soll ich ihm, der stets wie ein Vater an mir gehandelt hat, je wieder gegenübertreten?”

Er starrte vor sich hin, während Lisbeth still vor sich hin weinte.

„Fritz,” bat sie endlich, „laß uns besprechen, was nun geschehen soll, nie, nie dürfen wir uns wiedersehen, das Gefühl der Scham und Schande meinem Manne gegenüber würde mich in deiner Gegenwart töten.”

„So laß mich sterben,” entgegnete er tonlos, „was liegt an mir? Ein verfehltes Leben mehr oder weniger, was macht das aus bei der großen Menge verlorener Existenzen?”

Aber mit einem Aufschrei sank sie vor ihm nieder. „Nein, Fritz, um Gottes willen, nur das nicht. Laß mich nicht schuld sein an deinem Tod, wälze nicht auch noch diese Last auf mich.”

Sie barg das Gesicht in ihren Händen und netzte seine Kniee mit ihren Thränen. Noch immer blickte er starr vor sich hin und die wenigen Minuten seines Schweigens deuchten ihr eine Ewigkeit. „Gewiß, so wird es gehen,” sprach er endlich mehr zu sich als zu ihr, „morgen schon werde ich um meine Versetzung bitten, sie wird, sie muß mir werden. Fasse Mut, Lisbeth, morgen schon nehme ich Urlaub und verlasse die Stadt und nie, nie sehen wir uns wieder.”

„Und welchen Grund willst du angeben?” fragte sie ängstlich, „willst du etwa die Wahrheit —”

Schaudernd hielt sie inne und es bemerkend, legte er tröstend seine Rechte auf ihr Haupt: „Fürchte nichts, keines Menschen Seele erfährt je das Geheimnis unserer Liebe, es lebt und stirbt mit mir.”

„Und was willst du sagen, wenn man dich fragt?”

Er lachte bitter auf. „Liebste, das einfachste, was es giebt: Schulden. Das ist ja nun einmal eine chronische Krankheit unseres Standes, an der wir alle mehr oder weniger leiden, und weil es das natürlichste, wird es mir am leichtesten geglaubt werden.”

„Ja, ja, so wird es gehen,” murmelte sie vor sich hin, aber erschrocken fuhr sie zusammen, als die Uhr die zehnte Stunde schlug.

„Fritz, ich bitte dich, laß mich jetzt allein, ich bedarf der Ruhe, ich muß mich fassen und sammeln, wenn ich nicht alles verraten will.”

Langsam erhob er sich und reichte ihr die Hand: „Lisbeth, so lebe wohl, habe Dank für deine Liebe, die du mir geschenkt und bewahrt hast. Lebe wohl!” Seine Stimme zitterte und seine Gestalt bebte.

„Lebe wohl!” Fast unhörbar kam es von ihren Lippen, sie reichte ihm die Hand, während sie den Blick zu Boden senkte und sich mit der Linekn auf die Tischplatte stützte.

„Lisbeth,” bat er mit leiser, einschmeichelnder Stimme, „soll ich so von dir gehen, wir sehen uns nie wieder.”

Aber unbeweglich stand sie ihm gegenüber und vergebens hoffte er auf ein Zeichen ihrer Liebe.

„Geh,” bat sie leise, „geh!”

Mit einem Blick grenzenloser Liebe umfing er noch einmal die vor ihm stehende Gestalt, dann näherte er sich, rückwärts schreitend, der Thür, immer noch ein Zeichen oder ein Wort von ihr erwartend. Einen Augenblick zögerte er noch auf der Schwelle, dann stürzte er hinaus und bewußtlos sank Lisbeth, als sie allein, auf einen Sessel nieder.

Wie lange Lisbeth so gelegen, sie wußte es nicht, sie kam erst wieder zu sich, als ihr Gatte sich um sie bemühte und ihr die Stirn und die Augen mit Wasser besprengte.

„Alfred — du? Wie kommst du hierher?”

Fassungslos sah sie ihn an, plötzlich aber wurde ihr die Lage klar und laut aufschreiend barg sie sich an seiner Brust.

„Aber, Lisbeth, Kind, was ist dir nur?” fragte er erschrocken, „ich höre, daß Marbach schon seit mehr als einer halben Stunde fort ist und ich finde dich hier bewußtlos liegen. Was ist geschehen? Soll ich zum Arzt schicken?”

Sie wehrte ab: „Nein, nein, laß! Ein leichter Schwindelanfall, weiter nichts — vielleicht war der Thee zu stark, du weißt, daß er mir verboten ist, nein, nein,” fuhr sie fort, als sie seinen ängstlichen Blick bemerkte, „es ist wirklich nichts, du brauchst dich nicht zu beunruhigen.”

Noch immer sah er sie besorgt an: „Hat die Unterhaltung mit Marbach dich vielleicht irgendwie erregt, habt ihr vielleicht über irgend ein Thema gesprochen — ”

„Ja, ja,” rief sie plötzlich, „das wird es sein,” und sie begriff nicht, woher sie den Mut nahm, ihrem Gatten ins Gesicht zu sehen und zu ihm zu sprechen: „Ja, ja, das wird es sein. Marbach erzählte mir von der mißlichen Lage, in der er sich befindet, seine Gläubiger drängen, er sprach von sterben, wenn es ihm nicht gelänge, in einer billigen Garnison Ordnung in seine Verhältnisse zu bringen. Morgen schon will er dich um seine Versetzung bitten — er war so todestraurig, daß er mir auf Befragen seine Lage schilderte. Du weißt, ich kenne Marbach von Jugend auf — sein trauriges Geschick hat mich tief erschüttert.”

Mit großen Schritten ging der Kommandeur in dem Zimmer auf und ab. „Wie mir das leid thut — wie ich es seinetwegen beklage, daß er sich mir nicht anvertraute, vielleicht wäre es mir möglich gewesen, ihn zu retten! Aber wer weiß, ob nicht noch Hilfe möglich ist. Ich will mir überlegen, was zu thun ist. Geh' zu Bett, Lisbeth, ich bleibe noch auf.”

Sie verstand nichts von alledem, was er sprach, sie dachte nur immer: wie ist es möglich, daß er mir meine Schuld nicht an der Stirn ansieht, wie ist es nur möglich, daß ich noch lebe und nicht vor seinem Blick zu Boden sinke. Willenlos ließ sie sich von ihrem Mädchen in das Schlafgemach geleiten, und fröstelnd und fiebernd barg sie sich in ihre Kissen, um zu vergessen und um das Antlitz des Erlösers nicht zu sehen, der aus dem über ihrem Lager hängenden Bilde sie vorwurfsvoll und strafend anzublicken schien.(1)

Taumelnd wie ein Trunkener war Marbach unterdessen durch die Straßen gegangen und hatte endlich seine Wohnung erreicht. Centnerschwer lastete die Schuld auf ihm, und je ruhiger er wurde, desto klarer wurde ihm, was er gethan. Nur eine einzige Lösung gab es für ihn: sterben; mit seinem Blut sühnen mußte er die That, die er begangen, die ihn unwürdig machte des Standes, dem er angehörte, des Rockes, den er trug. Er mußte unwillkürlich eines Falles gedenken, der sich vor langen Jahren in einer Garnison zugetragen. Ein Offizier hatte einen Kameraden mit der Gattin betrogen und mit Schimpf und Schande war er aus dem Regiment und aus dem Offiziersstande ausgestoßen worden. Er hatte versucht als Avantageur wieder in ein Regiment einzutreten, aber kein Truppenteil hatte ihn annehmen wollen. Ehrlos und gebrandmarkt für alle Zeiten hatte er das Vaterland verlassen, in dem alle, die ihn kannten, mit Fingern auf ihn wiesen. Ueberall war das Vorkommnis besprochen worden, man hatte sich eine solche ehrlose Handlung nicht zu erklären vermocht, man hatte vor einem Rätsel gestanden, das man nicht lösen konnte. Der Name des Betreffenden wurde schließlich in keinem Offiziercorps mehr genannt und er war, obgleich er lebte, tot für alle Zeit. Wie streng, wie rücksichtslos hätte er selbst damals geurteilt und den Schuldigen verdammt — und war er nun heute um ein Haar besser? Hatte er nicht auch den Kameraden betrogen nach dem Wort der Schrift: Wer ein Weib ansieht ihrer zu begehren, hat schon die Treue gebrochen in seinem Herzen? War es bei dem Blick allein geblieben, hatte sein Mund nicht Worte gesprochen, die seine Gedanken nur zu deutlich verrieten?

Gebrochen an Leib und Seele ließ er sich vor seinem Schreibtisch nieder. Er stützte das Haupt in die Hand und brütete vor sich hin, nein, nein, es gab keinen anderen Ausweg, lieber ein Tod mit Ehren, als ein Leben mit Schande. Er begab sich in sein Schlafzimmer und holte den Revolver, den er stets geladen dort neben seinem Bette liegen hatte. Er ging zurück in sein Wohngemach und legte die Waffe vor sich hin, einen Augenblick noch, dann war es geschehen. Da fiel sein Blick auf das Bild seiner Eltern und die Finger, die den Abzug schon berührt hatten, lösten sich wieder.

„Nicht so kann ich scheiden, einen letzten Gruß noch will ich ihnen senden.”

Er entnahm der Schreibmappe das Papier und schickte sich an, die Feder zu ergreifen, als heftig an der Etagenthür geläutet wurde. Erstaunt horchte er auf: So spät — schon elf Uhr, wer kann das noch sein? Vielleicht Pleskow? Der Bursche hatte sich schon schlafen gelegt, so ging er selbst die Thür zu öffnen.

„Herr Oberst, Sie?” Fassungslos sah er den vor sich Stehenden an und eine tödliche Angst befiel ihn, kein Zweifel, seine Schuld war entdeckt und er selbst kam, um Rechenschaft zu fordern von dem, der seine Ehre hatte rauben wollen. Nicht für sich selbst fürchtete er, sondern für die Geliebte, die, gleich ihm, dem Zorne des Beleidigten ausgesetzt war.

„Ja,ich selbst, mein lieber junger Freund, aber lassen Sie uns in das Zimmer treten, nicht für fremde Ohren ist unser Gespräch berechnet.”

Hoch aufatmend geleitete Marbach seinen Gast in das Wohnzimmer und bot ihm einen Sessel an, kein Zweifel, der Kommandeur ahnte nicht, was in seiner Abwesenheit geschehen war.

„Darf ich fragen, was den Hernn Oberst noch in so später Stunde zu mir führt?”

Einen Augenblick schwieg der Kommandeur, dann sagte er, seinen Adjutanten scharf anblickend, der verlegen die Augen senkte: „Meine Frau hat mir den Inhalt Ihres gemeinschaftlichen Gespräches mitgeteilt. Ich will nicht darüber urteilen, ob es nicht richtiger gewesen wäre, wenn Sie sich zuerst mir anvertraut hätten. Ich höre, Sie haben Schulden und ich will Ihnen nicht verhehlen, daß mich diese Nachricht betrübt hat. Gerade Sie als Regiments­adjutant sollen den jüngeren Kameraden in jeder Hinsicht ein leuchtendes Vorbild sein, wenigstens fasse ich Ihre Stellung so auf. Doch ich will nicht zu streng mit Ihnen ins Gericht gehen,” setzte er milder hinzu, als er das brennende Rot sah, das Marbachs Wangen färbte, „habe ich doch selbst manchesmal als junger Offizier böse in der Klemme gesessen und vielleicht wäre ich auch darin stecken geblieben, wenn sich mir keine rettende Hand genaht hätte. Ich kenne das Gefühl, wenn uns das Messer an der Kehle sitzt und wir uns vergebens nach Hilfe umschauen. Ich will Ihnen helfen, wenn ich Ihnen zu helfen vermag. Ich bin nicht reich, aber was ich entbehren kann, steht zu Ihrer Verfügung.”

Wie Keulenschläge schmetterten diese Worte Marbach nieder, der Mann, dem er das Liebste, was er auf der Welt besaß, hatte rauben wollen, saß ihm gegenüber, bereit alles für ihn zu thun, was in seinen Kräften stand. Jeder Blutstropfen wich aus seinem Gesicht und es drängte ihn, sich niederzuwerfen vor die Füße seines Vorgesetzten, ihm alles zu gestehen und seine Gnade und Verzeihung anzuflehen. Aber durfte er sprechen, mußte er nicht an Lisbeth denken, der er geschworen, daß das Geheimnis ihrer Liebe mit ihm leben und sterben werde? Nein, er durfte seine Schuld nicht bekennen und so sagte er denn tonlos: „Herr Oberst, ich kann Ihnen nie genug für Ihre Güte danken, — aber es ist zu spät.”

Tröstend legte der Kommandeur die Rechte auf Marbachs Schulter: „Mein lieber junger Freund, man ist in solchen Augenblicken nur zu leicht geneigt, seine Lage zu schwarz anzusehen. Haben Sie Vertrauen zu mir, denn der Kommandeur ist nicht nur der Vorgesetzte, sondern auch der beste Freund seiner Offiziere. Sprechen Sie offen und ehrlich, lassen Sie uns gemeinsam beratschlagen und überlegen, wir werden schon noch einen Ausweg finden, der es Ihnen ermöglicht, hier im Regiment zu bleiben.”

„Nein, Herr Oberst, kein Mensch kann mir helfen — es ist zu spät.”

Zornig sprang der Kommandeur in die Höhe und blickte vorwurfsvoll seinen Adjutanten an: „Warum kamen Sie nicht eher zu mir, vertrauten Sie mir so wenig?” Da erst gewahrte er die Waffe, die auf dem Tische lag, er nahm den Revolver in die Hand und seine Stimme klang todestraurig, als er sprach: „Marbach, steht es so mit Ihnen?”

„Ja, Herr Oberst.”

Lange, lange schwieg der Kommandeur, dann sprach er: „Ich will nicht fragen, wie Sie in diese Lage gekommen sind, da Sie sich nicht darüber aussprechen. Nur Sie selbst können beurteilen, ob Ihre Ehre es erfordert, daß Sie von dieser Welt Abschied nehmen; aber es ist so schwer, ein junges Leben scheiden zu sehen, das unserem Herzen so nahe stand. Ich kann und darf Sie nicht zurückhalten, wenn Sie scheiden wollen, denn höher als das Leben steht für uns die Ehre, wer sie verloren hat, ist tot, wenngleich er lebt.”

Marbach sah hinauf zu der großen stattlichen Gestalt, die gerade aufgerichtet vor ihm stand, ein Bild der Ritterlichkeit und Mannestugend, dessen Aeußeres nichts verriet von dem Schmerz, der in seinem Innern tobte. Er fühlte die Blicke des Obersten auf sich ruhen und die Güte und die Milde, die aus seinen Augen sprachen, ergriffen sein Herz. Er beugte sich nieder und faßte die Hand des Vorgesetzten, um sie an seine Lippen zu führen.

„Nicht so, mein junger Freund,” wehrte dieser ab, und öffnete die Arme, um den Knieenden, trotz seines Sträubens, an seine Brust zu ziehen. Dann wandte er sich, um zu gehen und vergebens bemühte er sich, die Thränen zu verbergen, die ihm in die Augen gestiegen waren, aber auf der Schwelle wandte er sich nochmals um: „Marbach, es ist meine Pflicht, nichts unversucht zu lassen, um Sie vor dem Aeußersten zurückzuhalten — denken Sie an die Ihrigen, denken Sie an das Regiment, das stets stolz auf Sie war — Marbach, müssen Sie sterben?”

„Ja, ich muß.” Das klang so fest und bestimmt, daß der Kommandeur einsah, daß jedes weitere Wort unnütz sei. Still und in sich gekehrt ging er den Weg zurück bis an sein Haus, ruhelos wandelte er die ganze Nacht in seinem Zimmer auf und ab und immer verfolgte ihn der Blick grenzenlosen Jammers, mit dem Marbach ihm, als er ging, nachgeschaut hatte. Schon nach wenigen Stunden brachte man ihm die Meldung von Marbachs Tod und sofort machte er sich auf, um die Ordnung und Versiegelung der Hinterlassenschaft anzuordnen. Er fand Marbach in seinem Schreibtischstuhl sitzend, den Oberkörper ein wenig vornüber geneigt, der Tod mußte sofort eingetreten sein.

Als der Kommandeur Marbachs Wohnung betrat, fand er dort Herrn von Pleskow bereits vor, der ihn anscheinend erwartet hatte. Nachdem die Herren sich begrüßt, nahm der Oberst zuerst das Wort: „Mein lieber Pleskow, Sie wohnten mit dem Verstorbenen zusammen und waren mit ihm eng befreundet. Ist Ihnen vielleicht bekannt, weshalb Marbach den Tod gesucht hat? Ich stehe vor einem Rätsel, das ich nicht zu lösen vermag.”

Verwundert blickte der Untergeben auf, ja, wußte der Kommandeur es wirklich nicht, oder war die Frage kluge Berechnung, die den Gedanken an das wahre Motiv mit einemmal vernichten sollte, oder aber sollte doch vielleicht ein dritter allen unbekannter Grund vorliegen? Er wußte sich selbst keine Antwort auf diese Frage zu geben, das sichere, ruhige Auftreten des Kommandeurs ließ ihn seine erste Annahme, die sich ihm aufgedrängt hatte, daß es Frau von Maltows wegen zwischen Marbach und dem Gatten zu einem heftigen Auftritte gekommen sei, doch unmöglich erscheinen. So antwortete er denn nur: „Ich fand auf dem Schreibtisch diesen Zettel, der die Worte trägt: ,Ich sterbe wegen einer Ehrenschuld, die ich, wenn auch verspätet, einlöse. Niemand vermag den Fleck, den meine Ehre erlitten, auszutilgen. Alles, was meine Schuld offenbaren könnte, habe ich vernichtet und ich bitte nicht weiter nachzuforschen.'”

„Des Toten Wille soll uns heilig sein,” sprach der Kommandeur, als Pleskow geendet, „und wir wollen Sorge tragen, daß keine unbefugte Hand sich den nachgelassenen Sachen nähert. Etwa auftretenden verleumderischen Gerüchten müssen wir entgegenzutreten uns bemühen. Jetzt aber ruft mich der Dienst von hinnen. Ich bitte Sie, bei dem Toten zu bleiben, bis die Gerichtskommission, die ich sofort hierher beordern werde, sich eingefunden hat.”

Als er etwa eine Stunde später seine Wohnung betrat, stürzte ihm seine Frau in Thränen aufgelöst, der Verzweiflung nahe, entgegen.

„Alfred, sag' mir, daß es nicht wahr ist, was die Leute mir erzählten — es kann, es darf nicht wahr sein — Marbach lebt, nicht wahr?”

Er führte die Wankende zu einem Sessel und legte teilnehmend seine Hand auf ihre Schulter. „Es ist. wie du sagst, Marbach hat uns verlassen — Lisbeth, weißt du, warum er gestorben ist?”

Obgleich er hinter ihr stand, fühlte sie dennoch seinen fragenden Blick, und ein Sturm erhob sich in ihrem Innern. Durfte sie sprechen, durfte sie das Geheimnis, das Marbach mit in den Tod genommen zu haben glaubte, verraten, durfte sie das Erlebnis des gestrigen Abends mitteilen? Mußte sie nicht fürchten, den Zorn des Gatten zu erregen und Marbach selbst noch im Tode seiner Verachtung preiszugeben? Nein, nein, sie durfte nicht sprechen. Und doch! Hatte ihr Mann nicht ein Recht, die Wahrheit von ihr zu verlangen, sollte sie mit einem schuldbeladenen Gewissen fortan neben ihm einhergehen, mußte sie das Vertrauen, das er stets in sie gesetzt, nicht rechtfertigen?

Einen Augenblick kämpften diese beiden Empfindungen in ihrem Herzen, dann sagte sie hochaufatmend mit fester, klarer Stimme:

„Ja, ich will dich nicht belügen — ich weiß, warum er starb.”

„Nun?”

„Weil er mich liebte.”

Sie fühlte, ohne es zu sehen, wie er mit seinen beiden Händen die Lehne des Stuhles umklammerte, als bedürfe er einer Stütze und sie hörte, wie schwer sein Atem ging.

„Lisbeth — und das sagst du mir erst jetzt — wo es zu spät ist, wo der Bube —”

„Halt ein,” fuhr sie auf, „höre mich an, dann richte. Ich selbst erfuhr erst gestern abend, daß Marbach mich noch immer liebte. Wir waren Jugendgespielen, und hofften uns dereinst anzugehören, bis das Leben uns trennte. Gestern gestand er mir seine Liebe —”

„Und du?” Keuchend kam es aus der Brust des Mannes, der ihre Hände umklammert hatte und zornsprühend ihr gegenüberstand, „und du?” wiederholte er noch einmal, als sie nicht sofort antwortete, „hast du dem Frechen nicht die Thür gewiesen, sag, oder hast du vielleicht seine Worte ruhig angehört?”

Wie Schraubstöcke legten sich seine Finger um ihre Handgelenke, aber des physischen Schmerzes nicht achtend, sagte sie ruhig zu ihm aufblickend: „Ich habe ihm die Liebesworte nicht verboten, ich habe seine Liebkosungen geduldet und sie erwidert und ich habe ihm gesagt, daß auch ich ihn liebe, denn die wahre Liebe höret nimmer auf.”

„Und da wagst du mir zu gestehen?”

Seine Augen weiteten sich und aus seinen Zügen sprach eine grausame Wut, doch ruhig erwiderte sie:

„Wäre es dir etwa lieber, ich belöge dich in dieser Stunde? Hältst du mich, deine Frau, einer solchen Feigheit für fähig? Wer Schuld auf sich legt, muß sie büßen, Marbach hat sein Vergehen mit dem Tode gesühnt — glaube nicht, daß ich deine Strafe fürchte.”

Unwillkürlich lösten sich seine Finger und es war, als wenn ihre Ruhe auch ihn ergriff: „Und weiter?” fragte er.

„Weiter?” wiederholte sie. „Ich gestand ihm, daß ich ihn liebte, aber ich sagte ihm auch, daß mir höher als meine Liebe die Pflicht stände.”

„Und was glaubst du, daß nun geschehen wird? Hast du nicht an die Stellung gedacht, die wir in der Gesellschaft einnehmen, hast du nicht an deine und meine Ehre gedacht?”

Sie sah ihn vorwurfsvoll an: „Glaubst du, daß nicht auch ich zu sterben gewußt hätte wie Marbach? Rein bin ich aus dem Kampf zwischen Liebe und Pflicht hervorgegangen, kein Makel haftet an deiner und meiner Ehre. Hältst du mich trotzdem für unwürdig, ferner um dich zu sein, so heiße mich gehen — glaubst du, daß du mir verzeihen kannst, so laß mich von neuem um deine Achtung und Liebe werben.”

Mit großen Schritten ging er im Zimmer auf und ab: „Daß gerade ihr beiden, die ich über alles liebte, mir solches Leid anthun mußtet!”

Sie war in einen Sessel gesunken und der Vorwurf, der aus seinen Worten sprach, zerschnitt ihr das Herz: „Kannst du mir je verzeihen?” bat sie mit thränenerstickter Stimme.

Er trat auf sie zu und küßte sie auf die Stirn; dann sprach er: „Ja, ich kann und will dir verzeihen, denn ich denke an das Wort: ,Wer zieht die Grenze zwischen Rechtthun und Schuld, wer kann richten und verdammen, wo niemand weiß, wo das Recht aufhört und die Schuld beginnt. — Im eigenen Herzen des Menschen allein liegt die Strafe und die Sühne für jede That. Nur wir selbst können uns richten oder freisprechen.' — Du sprichst dich frei — so will auch ich dich nicht verdammen. Laß uns Geschehenes vergessen sein und laß den Toten, der uns vereinen, nicht trennen wollte, nicht umsonst gestorben sein. Fester wollen wir uns fortan aneinander schließen — dann wird es dir vielleicht gelingen, mich nicht nur zu achten, sondern auch zu lieben.” —

*       *       *

Wie immer hatten sich die Kameraden am Tage, da Marbach gestorben, in der Adjutantenecke versammelt, und still und traurig umstanden sie den Stuhl, auf dem der Tote sonst täglich unter ihnen geweilt hatte.

„Und ist es wirklich wahr, was man sich erzählt,” fragte endlich ein jüngerer Kamerad, „daß Marbach starb, weil er Frau von Maltow liebte?”

In seiner ganzen Größe richtete sich Pleskow auf, und den Sprecher vernichtend ansehend, erwiderte er: „Wer sagt das? Wer wagt es, eine solche, durch nichts erwiesene Behauptung aufzustellen? Marbach ist von uns gegangen und wir alle betrauern den Verlust eines uns lieben Kameraden. Was ihn in den Tod getrieben hat, zu untersuchen, ist nicht unsere Sache, für ewig ist das Geheimnis mit ihm gestorben. Bewahren wir ihm ein ehrenvolles Andenken, wie er es um uns verdient hat, und ich glaube, wir können dies nicht besser thun, als wenn wir ihn, der jetzt wehrlos allen Gerüchten preisgegeben ist, vor jeglicher Verleumdung schützen. Je energischer wir, seine Kameraden, dagegen auftreten, desto eher wird der Tote seine Ruhe finden, die er gesucht hat.”

Und niemals wurde seitdem wieder ein Wort über Marbachs Todesursache gesprochen — war es aus Furcht vor Pleskows Zorn, war es aus Hochachtung vor dem Toten, der einen ehrenvollen Tod einem ehrlosen Leben vorgezogen hatte?


Anmerkung des Herausgebers:
Es treten in dieser Erzählung der Regimentsadjutant (Marbach) und drei Bataillonsadjutanten (Pleskow, Reibnitz, Reischach) auf. Das bedeutet, daß die Erzählung zu einer Zeit entstand, in der ein Regiment drei Bataillone besaß. In den Jahren 1894 bis 1896 hatten die Regimenter vier Bataillone. Am 1.April 1897 wurden die vierten Bataillone zu neuen Regimentern zusammengefasst.
Da „Point d'honneur” am 26.April 1897 erschien, ist anzunehmen, daß Schlicht die Erzählung „Gesühnt” schon vor 1894 geschrieben hat.


Fußnote:

(1) Solch religiöses Gedankenbild kommt in Schlicht's Werken sonst nie vor! (zurück)


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