Das Geschäft geht vor.

Humoreske von Freiherr von Schlicht
in: „Die aus Liebe hassen”


Änne Hollmann, die einzige Tochter der verwitweten Frau Landesgerichts­präsidentin, hatte ihr Zimmer aufgesucht, um zu hassen, jawohl, einzig und allein, um zu hassen und nicht etwa, um nach Art anderer junger Mädchen einen Brief zu schreiben, ihre Blumen zu begießen, eine Handarbeit vorzunehmen oder sich sonst irgendwie mehr oder weniger nützlich zu beschäftigen.

Änne Hollmann hatte sich, als sie ihr Zimmer betreten, in ihren bequemen Lehnstuhl gesetzt, der so stand, daß sie sich von dem aus, wenn sie es wollte, in der großen Spiegeltür ihres Kleiderschrankes sehen konnte, und haßte nun so, wie sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gehaßt hatte und hoffentlich auch nie wieder hassen würde, denn schon in der Schule hatte sie bei irgendeiner Gelegenheit einmal gelernt, daß man nie hassen solle und dürfe, denn der Haß sei etwas sehr Häßliches. Und außerdem sollte der Haß, den man in seinem Busen hege, auch sehr häßlich machen. Das letztere aber hatte sie nicht in der Schule gelernt, sondern von einer Freundin.

Und da sie natürlich nicht häßlich werden wollte, bemühte sie sich nun plötzlich, nicht weiter zu hassen. Aber das ging nicht. Ob sie wollte oder nicht, sie mußte ihren Robert, den sie nun in den nächsten Monaten heiraten würde, vorausgesetzt, daß sie ihn nun, da sie seinen wahren Charakter erkannt, überhaupt noch jemals heiratete und ihre Verlobung nicht noch, bevor es für immer zu spät war, wieder auflöste — ja, ob sie wollte oder nicht, sie mußte ihren Robert hassen, weil sie ihn wirklich haßte, denn wie hatte er es nur fertig gebracht, ihr vorhin mit rücksichtsloser Offenherzigkeit zu erklären: das Geschäft geht vor. Wie kam er dazu? Er war doch kein geschäftswütiger Engländer und auch kein Amerikaner, der auf der Welt kein anderes Vergnügen und keinen anderen Ehrgeiz kannte, als den, „Geld zu machen”. Er war doch ein Deutscher, sogar einer, der im Kriege vor dem Feinde mit glühendster Begeisterung für sein geliebtes Vaterland gekämpft hatte und der auch, als er von seiner ersten schweren Verwundung genesen, nichts von einem Erholungsurlaub wissen wollte, sondern der nicht eher ruhte, bis er wieder draußen bei seiner Truppe war. Und ein solcher Mann, den sie in mancher Weise für einen Idealisten und Schwärmer gehalten, hatte ihr nun heute beinahe brutal erklärt: das Geschäft geht vor.

Und das hatte er ihr zu erklären gewagt! Ja, hatte er denn im Augenblick ganz vergessen, wer und namentlich wie hübsch sie war? Hatte er es ihr nicht angesehen, daß sie drauf und dran gewesen war, den Verlobungsring, wenigstens in Gedanken, von ihrer Hand zu ziehen und ihm den zurückzugeben? Hatte er es vielleicht darauf abgelegt, einen Bruch mit ihr herbeizuführen? Lockte und reizte es ihn plötzlich etwa nicht mehr, sie und gerade sie in absehbarer Zeit mit den Worten „Endlich allein” in das Brautgemach zu führen, in dem das Brautlager sie beide erwartete, sie beide, aber doch hauptsächlich sie? Waren seine Leidenschaften etwa für sie verflogen und begehrten seine Sinne sie nicht mehr?

Unwillkürlich flog ihr Blick hinüber zu ihrem Spiegelbild und die Antwort, die sie sich gleich darauf auf ihre Frage gab, lautete: Es ist ganz unmöglich, daß er dich nicht mehr lieben und dich nicht mehr voller Ungeduld und Sehnsucht begehren sollte, denn alles, aber auch alles an dir ist mehr als hübsch.

Sicherlich, sie war nicht eitel, wenigstens nicht mehr, als es sich für ein junges Mädchen von zweiundzwanzig Jahren, das etwas auf sich hält, gehörte, aber trotzdem, waren nicht allein ihre kleinen, aber auch nicht zu kleinen Füße, deren rosige Haut durch die ganz dünnen seidenen Strümpfe hervorleuchtete, ein Meisterwerk der Natur? Ihre Füße hatten auch, wenn sie die Schuhe und die Strümpfe ausgezogen, nicht den allerkleinsten Schönheitsfehler, und wie wenige ihrer Freundinnen konnten das mit gutem Gewissen von ihren Füßen behaupten? Oder wenn sie es dennoch taten, wie wenig blieben sie da bei der Wahrheit, sie selbst aber brauchte deswegen nicht die kleinste Lüge auszusprechen. Ihre Füße waren wirklich schön, und wie schön war nicht allein der hohe Spann! Allerdings hatte ihr Schuster ihr letzthin erklärt, der Spann wäre in der letzten Zeit zu hoch geworden, das käme von den ungesunden, mehr als hohen Absätzen, die sie trüge, und im Anschluß daran hatte der Mann sie gewarnt, weiter solche Schuhe zu tragen, und er hatte ihr von einer weltbekannten Filmkünstlerin erzählt, die durch die hohen Absätze, die sie jahrelang getragen, nicht nur vollständige Plattfüße, sondern sogar ein Überbein bekommen habe.

Da war sie leise zusammengeschauert, denn ein Überbein, oder gar zwei Überbeine wollte sie natürlich nicht bekommen, obgleich sie keine Ahnung hatte, ob diese Überbeine sich auf dem Spann der Füße, in den Gelenken und Fesseln oder, noch entsetzlicher, in den Beinen selbst bildeten. Aber trotzdem, ehe sie mit niedrigen, ganz unmodernen Absätzen durch die Straßen ging, eher ging sie in das Wasser oder in ein Kloster, und außerdem, so schnell würden die Überbeine, wenn sie die überhaupt jemals erhielt, schon nicht kommen, und wenn sie erst eine ganz alte Frau und dann sowieso häßlich war, kam es bei allen sonstigen Gebrechen auf ein Paar Überbeine ja schließlich auch nicht an.

Vorläufig aber sollten ihre Beine wenigstens noch die nächsten fünfundzwanzig Jahre so bleiben, wie sie waren, und unwillkürlich zog sie nun den ohnehin schon sehr modernen und sehr kurzen Rock, während sie weiter in den Spiegel hineinsah, etwas in die Höhe, um sich an dem Anblick ihrer schlanken, aber auch nicht gar zu schlanken, selbstverständlich schnurgeraden Glieder zu erfreuen. Und wöhrend sie das tat, umspielte unwillkürlich ein leises glückliches Lächeln ihren feingeschnittenen, entzückend kleinen Kußmund, denn wieviel Unheil hatten diese ihre schlanken schönen Beine nicht schon angerichtet. Mit denen war sie schon als Backfisch in den Tanzstunden die begehrteste Tänzerin und die Flamme aller fünfzehn- und sechzehnjährigen Jungen gewesen. Alle hatte nur mit ihr tanzen wollen, ihretwegen war es sogar zu manchem Streit gekommen, und wie oft waren ihre Beine nicht schon damals von ihren jungen Verehrern angedichtet worden. Ach und wie mancher hatte in seinem Gedcht nicht von schlaflosen Nächten gesprochen und davon, daß er sich das Leben nehmen werde und müsse, wenn sie ihn nicht erhöre. Inwiefern sie ihn erhören solle, hatten sie beide damals natürlich noch nicht gewußt, weder sie, die die Verse bekam, noch er, der sie verbrach, oder wenn sie es doch instinktiv wußten, dann hatte sie natürlich ebensowenig daran gedacht, ihn wirklich zu erhören, wie er wohl auch in seinen kühnsten Träumen nicht daran glaubte, daß sie ihn wirklich erhören würde, denn sie waren damals doch noch halbe, wenngleich selbstverständlich schon modern aufgeklärte Kinder. So hatte sie ihren Verehrer als Dank für seine Verse denn nur soweit erhört, daß sie ihm heimlich die Hand drückte, daß sie ihm tiefer, als es sich wohl eigentlich gehörte, in die Augen sah, und daß sie sich bei dem Tanz fester und dichter an ihn schmiegte, als es in dem Buch für Anstand und gute Sitte vorgeschrieben war. Und da das, was dem einen Verehrer recht, dem anderen natürlich billig war, und da alle sie in gleicher Weise verehrten und andichteten, mußte sie natürlich allen in gleicher Weise danken, und so kam sie aus dem heimlichen Händedrücken, aus dem In-die-Augen-blicken und erst recht aus Dem-dichten-Anschmiegen bei dem Tanzen gar nicht heraus. Und wenn ihr das auch alles sehr viel Spaß machte, auf die Dauer fand sie es andererseits doch auch sehr anstrengend und ermüdend, so daß sie schon darüber nachdachte, wie sie dem allem ein Ende machen könne. Aber das Ende kam dann ganz von allein, denn eines Abends in der Tanzstunde erschienen alle ihre Verehrer mit zerkratzten, verbeulten und verprügelten Gesichtern, die in allen Regenbogenfarben schillerten, und dann erfuhr sie auch den Grund der allgemeinen und gegenseitigen Prügelei, die am Vormittag in der Schule während der großen Pause stattfand. Da hatte einer unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit, da er das süße Geheimnis nicht mehr länger für sich behalten konnte, es einem anderen voller Glückseligkeit anvertraut, wie sie, die dunkelblonde, schwarzäugige Änne, ihn ausgezeichnet und ihm ihre Liebe zu verstehen gegeben habe. Aber ein Faustschlag ins Gesicht und der Ruf: „Du Schuft, du lügst! Die Änne liebt nur mich, nur mir hat sie die Hand gedrückt, nur an mich hat sie sich bei dem Tanzen so dicht herangeschmiegt, daß ich ihre jungen Glieder an den meinen fühlte,” war die Antwort gewesen. Doch der Zweite war von einem Dritten Lügen gestraft worden, der Dritte von einem Vierten und Fünften, die beiden von dem Sechsten und Siebenten und schließlich hatten sich alle ihre Verehrer gegenseitig mit Fäusten bearbeitet und in einem solchen dichten unentwirrbaren Knäuel auf dem Schulhof herumgewälzt, daß selbst die Machtstimme des herbeigeholten Direktors keine Ruhe schaffte und daß der Schuldiener den langen Gartenschlauch an die Wasserleitung anschrauben und die Streiter kalt abduschen mußte. Da erst hatten die Kämpfer einander losgelassen, nachdem einer dem anderen noch einmal voll grenzenloser Verachtung die Worte: „Gemeiner Schuft und Lügner!” zugerufen.

Alle Einzelheiten dieses Vorfalles hatte sie natürlich erst ein paar Tage später erfahren, an jenem Abend hatte die Schar ihrer Verehrer sie lediglich umringt und umdrängt, um aus ihrem Munde zu hören, wer der Eine, der einzig Eine sei, dem sie ihre Gunst und ihre Liebe geschenkt, damit er, der Eine, dann nochmals der Reihe nach alle die anderen verprügeln könne, die da mit frecher, kecker Miene behaupteten, auch ihnen habe sie die Hand gedrückt.

Wie es ihr gelungten war, sich so vor ihren Verehrern herauszureden und herauszulügen, daß sie keinen Namen zu nennen brauchte, und daß doch jeder einzelne glaubte, nur er, er allein sei derjenige welcher, das hatte sie schon an dem Abend nicht mehr gewußt, als sie endlich mit schlagenden Pulsen, klopfendem Herzen und mit einem nicht ganz reinen Gewissen im Bett lag, und heute erinnerte sie sich der Einzelheiten natürlich erst recht nicht mehr. Genug, sie hatte sich so glänzend herausgeflunkert, daß ihre jugendlichen Verehrer ihr alle treu blieben und sie weiter anschwärmten und andichteten. Aber sie selbst hatte sich fortan gehütet, ihrerseits auch nur einem einzigen ein Zeichen ihrer Gunst zu geben.

Und die Zahl ihrer Verehrer wuchs und nahm zu, je älter sie selbst und je kürzer mit der Mode ihr Rock wurde.

Sicherlich, die Mode war sehr hübsch, und gerade ihr stand sie sehr gut, aber trotzdem war sie nicht ganz mit der einverstanden, denn sie wollte doch nicht nur ihrer Beine wegen geliebt und verehrt werden.

An ihr war doch nicht nur ihr Unterkörper schön, sondern auch alles andere, von den schlanken, schmalen Hüften angefangen bis zu dem Busen, der nicht, wie der ihrer vielen Freundinnen, durch die Kriegsernährung seinen Halt und seine Formen verloren, sondern der auch, ohne daß sie ein Korsett trug, formvollendet war. Allerdings, ihren Busen sahen ihre vielen Verehrer ja nicht, wohl aber sahen sie ihr feingeschnittenes, entzückendes Gesicht mit der weichen Haut, die zart und rosig war, wie die eines Pfirsichs. Und dazu hatte sie nicht nur einen mehr als verführerischen Kußmund, sondern auch eine selten schöne kleine Nase und entzückende kleine rosige Ohren.

Und in diesem in jeder Hinsicht so schönen Körper wohnte auch eine schöne Seele und ein sehr schöner Charakter. Der letztere äußerte sich schon allein dadurch, daß sie keinem Menschen, der sie gekränkt oder ihr etwas zuleide getan hatte, auch nur das geringste nachtragen konnte. Das lag ihr absolut nicht, statt dessen aber waren die Menschen und die Freundinnen, mit denen sie jemals einen kleinen Streit hatte oder gehabt hatte, für sie auf der Stelle für immer erledigt. Die waren dann für sie sofort tot und begraben, die existierten für sie einfach nicht mehr, über die konnte sie stolpern und fallen, ohne sich auch nur nach ihnen umzusehen, und sie dachte erst recht nicht daran, den anderen das, was sie ihr angetan, zu verzeihen. Heute erzürnen, morgen wieder vertragen und übermorgen vielleicht wieder erzürnen, das kannte sie nicht, das hätte ja so ausgesehen, als handele auch sie nach dem Wort: Pack schlägt sich, Pack verträgt sich.

Daß sie aber nicht verzeihen und nicht vergessen konnte, lag einzig und allein daran, daß bei jedem Streit einzig und allein die anderen unrecht hatten, denn sie hatte immer recht. Das hatte sie schon als kleines Kind gehabt, aber nicht, weil man ihr immer recht gegeben und sie verwöhnt und verzogen hätte, sondern weil ihr das Immer-recht-haben eben angeboren war, wie anderen Leuten die Gabe, aus den Karten die Zukunft herauszulesen, oder sonst irgendwie in die Zukunft sehen zu können. Es war manchmal geradezu unheimlich, wie recht sie immer hatte und wie sie immer recht behielt. Das hatte sie damals am besten erfahren, als sie vor ein paar Jahren in einem großen Pensionat weilte. da war unter den vielen jungen Mädchen eine, Nina Sanders, ein hübsches, auffallend temperamentvolles und leidenschaftliches junges Ding von achtzehn Jahren, das plötzlich erkrankte, ohne daß man hätte herausbekomen können, was ihm fehle. Beinahe von Tag zu Tag wurde die Nina häßlicher, ihre Wangen verloren die frischen Farben, unter ihren Augen bildeten sich tiefe, schwarze Ränder und um ihren Mund legten sich ganz eigentümliche Falten. Das alles mußte, wie die Freundinnen vermuteten, mit einem Magenleiden zusammenhängen, denn die Nina klagte beständig über Appetitlosigkeit, und wenn sie doch einmal etwas aß, behielt sie die Speisen nie lange bei sich. Selbst der alte Arzt vermochte sich das nicht zu erklären, bis sie dann eines Tages de Diagnose stellte, die da kurz und bündig lautete: Die Nina ist in anderen Umständen und wird nächstens ein Baby bekommen.

Ein Schrei der Entrüstung aus dem Munde der Freundinnen war die Antwort gewesen. Man hatte es nicht begriffen, wie sie es auch nurn im Scherz wagen könne, von einer Mitpensionärin so etwas zu behaupten, und wäre sie nicht von früher her so beliebt gewesen, dann hätte man sie todsicher der Pensionsvorsteherin angezeigt und darauf bestanden, daß sie aus dem Pensionat fortgeschickt würde. Aber wenn man sie auch nicht anzeigte, sie hatte es trotzdem mit den anderen verdorben, keine sprach mit ihr, keine wollte auf den gemeinsamen Spaziergängen neben ihr gehen, keine gab ihr mehr die Hand, und man behandelte sie, soweit man das konnte, ohne dadurch den Argwohn und den Verdacht der Vorsteherin zu erregen, wie Luft. Aber sie nahm den Freundinnen ihr Verhalten weiter nicht übel, weil sie sich eingestand, daß die von ihrem Standpunkt ganz recht hätten, dann aber auch, weil sie selbst von der Wahrheit dessen, was sie über Nina Sanders sagte, nicht allzu fest überzeugt gewesen war. Sie hatte lediglich eine Vermutung, einen Verdacht, eine Möglichkeit geäußert, ja, wie sie sich selbst offen eingestand, sogar eine sehr häßliche Möglichkeit, aber dann war kaum vierzehn Tage später ein Wunder, nein, das Wunder geschehen, denn da zeigte es sich, daß sie mit ihren Worten recht hatte. Nina Sanders hatte sich der Pensionsvorsteherin anvertrauen müssen, und da war alles herausgekommen. Die Nina war während der letzten Ferien viel mit einem entfernten Vetter zusammen gewesen, der, ein früherer Offizier, nun nach der Auflösung des Heeres und da es ihm hier in der Heimat nicht gelang, sich eine neue Existenz zu gründen, im Begriff stand, nach drüben zu gehen, um dort sein Glück zu versuchen. Die beiden hatten sich immer schon geliebt und in früheren Zeiten davon geträumt, sich dereinst als Mann und Frau angehören zu können. Jetzt war es mit dem Heiraten, wenigstens für die nächsten Jahre, nichts, aber die Liebe bestand trotzdem weiter. Ja, die wurde in der Stunde des Abschiednehmens so groß und stark, daß sie sich in die Arme sanken und darüber alles vergaßen.

Das alles hatte die Nina, wie eins der Dienstmädchen, das an der Tür gelauscht, ihnen allen brühwarm wiedererzählte, der Vorsteherin gebeichtet und war dann, schon am nächsten Tage, Knall und Fall nach Hause geschickt worden. Die Vorsteherin selbst aber mußte ein paar Tage lang das Bett hüten, um sich von dem Schrecken und von dem Entsetzen zu erholen, ein sittlich und moralisch derartig verkommenes und entartetes junges Mädchen in ihrem keuschen, reinen Heim beherbergt und mit dem zusammen sogar an einem Tisch gesessen zu haben, denn das Kinderkriegen war und blieb nun doch einmal das Vorrecht der verheirateten Frauen, und wer sich als junges Mädchen vor der Ehe, oder gar, ohne die Möglichkeit, heiraten zu können, sich einem Mann, wenn auch aus noch so großer Liebe hingab, war nicht würdig, auf dieser schönen Welt zu weilen, und dem wäre besser, es wäre nie geboren.

Das waren so ungefähr die Worte gewesen, in denen die Vorsteherin, als sie endlich körperlich und seelisch einigermaßen und notdürftig wieder zu Kräften gekommen, ihre anderen Zöglinge, wenn auch nur ganz im allgemeinen, ohne dabei den Namen Nina Sanders in ihren sittenreinen und keuschen Mund zu nehmen, auf die Gefahren aufmerksam machte, die ihnen durch die Männer drohten, und als sie auf das Entsetzliche eines sittenlosen Lebenswandels hinwies. Sie selbst aber, Änne Hollmann, war von dem Tage an, da Nina ihr kleines Kind hatte eingestehen müssen, die Heldin gewesen, nein, noch viel mehr, beinahe die Göttliche und die Unfehlbare, zu der alle aufblickten wie zu einer Wunderfee.

Und von der Stunde an wagte ihr erst recht niemand mehr zu widersprechen oder das, was sie sagte, auch nur in Zweifel zu ziehen, und alle sahen es ein, daß sie tatsächlich mit der Gabe des Immer-recht-habens auf die Welt gekommen sei.

Aber sie war nicht nur auffallend hübsch und sie hatte nicht nur viele vortreffliche Eigenschaften des Charakters und des Herzens, sie war auch sehr klug und hatte sehr viel gelernt. Das letztere bewies am besten das glänzende Abgangs­zeugnis, mit dem sie aus dem Pensionat in das Haus ihrer Mutter zurückkehrte. In allen Fächern hatte sie „gut”, im Deutschen, in der Literatur und in den fremden Sprachen sogar „sehr gut”, und das gute Zeugnis hatte sie auch verdient, denn ihre Schuld war es doch nicht, daß einige ihrer Lehrerinnen in sie vollständig verliebt und vernarrt waren, ihr beständig die Wangen streichelten und sie oft zu sich auf ihr Zimmer riefen, angeblich, um ihr etwas Nachhilfe zu erteilen, in Wirklichkeit aber, um sie küssen zu können. Diese Küsse waren ja allerdings oft widerlich gewesen, denn sie war ein durchaus normal veranlagtes Menschenkind, aber viel Spaß gemacht hatte es ihr trotzdem, als sie es erleben mußte, wie die Lehrerinnen ihretwegen eifersüchtig aufeinander wurden, und es hatte ihr erst recht Spaß gemacht, fortan mit den drei alten Jungfern zu kokettieren und jede von ihnen in dem Glauben zu lassen, sie wäre die einzige, die sie mit ihren hübschen Augen anschmachte und der sie zuweilen heimlich, leise und verstohlen die Hand drücke. Aber ihre stille Hoffnung, daß die drei verrückten Schachteln, wie sie die nannte, sich ihretwegen ebenso in die Haare kriegen würden wie vor vielen Jahren ihre Verehrer aus der Tanzstunde und daß auch zwischen sie der starke Wasserstrahl aus der langen Gartenspritze fahren müsse, um die drei auseinander zu bringen, nein, diese stille Hoffnung erfüllte sich leider nicht.

In der Erinnerung an die drei verrückten Schrauben, die so blödsinnig verliebt in sie gewesen waren, umspielte nun doch ein leises Lächeln ihren hübschen Mund, aber ebensoschnell wie das gekommen war, verjagte sie es wieder, denn sie saß doch nicht hier, um zu lachen, sondern um zu hassen, und deshalb begriff sie auch plötzlich gar nicht, daß sie bis jetzt soviel an sich und so wenig an den Robert gedacht hatte, der es da wagte, ihr die tödliche Beleidigung in das Gesicht zu schleudern: „Das Geschäft geht vor.”

Woher nahm er den Mut, so zu ihr zu sprechen, ausgerechnet zu ihr? Wußte er denn nicht, welchen kostbaren, nein, welches mehr als kostbare Juwel er in ihr besaß? Wußte er denn immer noch nicht, daß sie nicht nur um ihrer äußeren Schönheit, sondern auch um ihrer vielen vortrefflichen Eigenschaften willen und schon, weil sie immer, aber auch immer recht hatte, ein ganz seltener Ausnahmemensch war? Und da hatte er es gewagt, ihr zu erklären, daß er sie natürlich über alles liebe, daß sein Leben und seine Zeit in erster Linie zwar ihr gehörten, daß das Geschäft aber trotzdem vorginge, so daß er weder in der Lage, noch willens sei, sich ihr ganz ausschließlich zu widmen und ihretwegen das Geschäft zu vernachlässigen. Und nicht nur das, er hatte hinzugesetzt, es sei ihm sehr lieb, daß der Punkt schon heute zur Sprache gekommen wäre, da wisse sie nun hoffentlich gleich, woran sie in der Hinsicht bei ihm sei, und werde später nicht mit falschen Hoffnungen und Gedanken in die Ehe treten.

Ja, nun wußte sie, woran sie war, leider! Und sie sah es voraus, daß ihr später die Ehe eine ganz große Enttäuschung bereiten würde, vorausgesetzt natürlich, daß es ihr nicht gelang, ihn dahin zu bringen, daß er die Ansichten, die er heute äußerte, ihr zuliebe änderte. Natürlich arbeiten und verdienen mußte er, er mußte sogar viel verdienen, um ihr jeden ihrer Wünsche zu erfüllen und um ihr alles, was sie brauchte und was sie so gern haben wollte, kaufen zu können. Er sollte noch viel, viel reicher werden, als er es ohnehin schon war, und nichts wäre ihr gräßlicher, als wenn er ihr als Hochzeitsgeschenk die Erklärung abgeben würde: Ich habe meine Firma aufgelöst, ich setze mich mit meinen fünfunddreißig Jahren zur Ruhe und werde fortan nur noch für dich leben. Nein, für einen Mann, der auf der Welt weiter nichts zu tun hatte, als bei ihr herumzusitzen, sie auf Schritt und Tritt zu begleiten, womöglich jeden ihrer Briefe zu lesen und alles, was sie tat, und vielleicht selbst das, was sie dachte, zu kontrollieren, nein, für einen solchen Mann bedankte sie sich bestens, denn soweit es möglich war, wollte sie sich auch in der Ehe ihre persönliche Freiheit bewahren, obgleich sie auf der anderen Seite auch den ernsten Willen und die feste Absicht hatte, ihrem Mann eine gute, und wenn nicht ganz unvorhergesehene Dinge dazwischen kamen, auch eine treue Frau zu werden und zu bleiben. Ja, sie hatte sogar die feste Absicht, sich später nicht einmal scheiden zu lassen, obgleich es doch heutzutage eigentlich vollständig unmodern war, schon bei dem ersten Mann bis zu dem eigenen oder bis zu seinem Lebensende auszuharren. Aber trotzdem, sie persönlich wollte und würde sich später nie scheiden lassen, und gerade weil sie mit solchen für die jetzige Zeit geradezu unerhört guten Vorsätzen vor den Altar und in die Ehe treten wollte, und weil sie fest entschlossen war, die mit solchen Vorsätzen nun einmal verbundenen großen Opfer zu bringen, sollte und mußte auch ihr Mann ihr Opfer bringen, und zwar nicht nur solche, die mit Geld zu bezahlen, oder die für Geld zu haben waren. Und war es denn überhaupt ein Opfer, wenn er ihr gelegentlich einen Schmuck für hunderttausend Mark schenkte und wenn er vielleicht schon am nächsten Tag durch einen günstigen Geschäftsabschluß nicht nur diese hunderttausend Mark wiederverdiente, sondern unter Umständen noch weitere hinderttausend Mark hinzu erwarb?

Nein, das Opfer, das sie in erster Linie von ihm verlangte, das er aber natürlich niemals als ein Opfer, sondern als etwas ganz Selbstverständliches betrachten mußte, war, daß er stets für sie Zeit hatte, wenn sie ihn brauchte, um sie auf eine Gesellschaft, in ein Theater, oder auf eine Reise zu begleiten. Allerdings, reisen würde sie ja schleißlich später auch allein können, da nahm sie sich dann einfach ihre Zofe mit, und ihn zu bitten, sie auf der Hochzeitsreise zu begleiten, würde sie, trotz seines Grundsatzes, wohl nicht erst nötig haben. Da ließ er sie sicher nicht allein fahren, denn die Männer waren ja nun einmal krasse Egoisten, und wenn es sich um ihr eigenes Vergnügen handelte, dann ließen sie zuweilen trotz allem Geschäft eben Geschäft sein und vergaßen darüber Abschlüsse, Ausnutzung der Konjunktur, Hauptbuch, Kassenbuch, Börse und wie alle die anderen schrecklich langweiligen Sachen sonst noch immer hießen.

Ja, reisen konnte eine Frau, von der Hochzeitsreise abgesehen, schließlich zur Not immer allein, aber auf Gesellschaften und in das Theater mußte der Mann sie zuweilen begleiten, namentlich in das Theater, denn es gab nun doch einmal Stücke, die sich eine Frau, selbst wenn sie dazu den besten Willen hatte, der Welt wegen nicht allein ansehen konnte und durfte.

Und was für eine Frau in solchen Fällen der Mann, das war für eine Braut naturgemäß der Verlobte.

Deshalb durfte ihr Robert auch nicht an seinem Wort festhalten: Das Geschäft geht vor. Er mußte seine dringend notwendige Geschäftsreise, bei der für ihn, wie er es ihr erklärte, große Summen auf dem Spiel standen, doch noch aufgeben und er mußte sie ganz einfach in die erste Aufführung des „Reigen” von Schnitzler begleiten, der hier nun endlich in der nächsten Woche gegeben werden sollte, nachdem der Direktor nach langen erbitterten Kämpfen, die deswegen in den Zeitungen und in der Stadt­verordneten­versammlung geführt worden waren, die Spielerlaubnis erhalten hatte. Selbstverständlich kannte sie den Reigen schon längst in- und auswendig, den hatte sie bereits im Pensionat zu wiederholten Malen in den Religionsstunden gelesen, aber trotzdem hatte es sofort bei ihr festgestanden, daß sie der Erstaufführung beiwohnen müsse. Erstens, weil es eine Erstaufführung war, zweitens, weil man einen Theaterskandal befürchtete und weil sie bei dem unbedingt dabei sein wollte, drittens — ja, was war doch noch drittens, viertens und fünftens? Ach so, richtig, nun fiel es ihr wieder ein: drittens, weil sie sich ein eigenes Urteil darüber bilden wollte und mußte, ob die zehn Szenen auf die Dauer wirklich langweilig und ermüdend wirkten, wie manche, die das Stück in Berlin gesehen, behaupteten. Viertens, weil sie sich davon überzeugen wollte, ob die Dialoge auf der Bühne ebenso aufregend wirkten, wie die damals vor Jahren auf sie bei der Lektüre gewirkt hatten. Fünftens aber wollte und mußte sie in das Theater, weil sie mehr als neugierig darauf war, wie ihr Robert sich da während des Spielens an ihrer Seite verhalten würde.

Das letztere zu erfahren, reizte sie naturgemäß am meisten und soviel wußte sie schon heute, wenn er ihr etwa während der Vorstellung den Vorschlag machen sollte, doch lieber das Ende nicht erst abzuwarten, sondern mitten in einer der Szenen fortzugehen, dann würde sie sich dem mit aller Entschiedenheit widersetzen, schon weil das ja vor den anderen Leuten hätte so aussehen können, als sei sie so dumm, die Dialoge unpassend oder gar unanständig zu finden. Und dem Reinen und nun erst der Reinen war doch alles rein, und sie war ganz rein und unverdorben. Ja, wirklich! Und wenn ihr Robert das vielleicht vorübergehend von ihr nicht glauben sollte, dann mußte sie ihm das dadurch beweisen, daß sie bis zum Schluß im Theater blieb. Bis zum allerletzten Schluß.

Ganz im stillen hatte sie eigentlich befürchtet, ihr Robert würde von Anfang an ihrer Absicht, gemeinsam der ersten Vorstellung des „Reigen” beizuwohnen, ein energisches Nein entgegensetzen. Um diesem etwaigen Nein aber von vornherein vorzubeugen, hatte sie deshalb auch nicht gebeten. sie an dem Abend in das Theater zu begleiten, sie hatte ihm deshalb auch nicht den Vorschlag gemacht, sondern ihm einfach auf das Bestimmtste und als etwas ganz Selbstverständliches erklärt: „Da gehen wir zusammen hin.” Aber so fest und so bestimmt ihre Stimme auch dabei klang, im geheimen hatte sie doch befürchtet, er könne und werde ihr widersprechen und ihr klar zu machen versuchen, daß sich der Besuch eines solchen Stückes weder für ein junges Mädchen ihrer Kreise, noch für eine junge Braut, wie sie es doch sei, gehöre. Ganz abgesehen davon, daß diese zehn Szenen, wenn man sie auf der Bühne sähe, noch viel mehr als deren Lektüre geeignet wären, namentlich einer Braut die ganze Illusion an dem zu nehmen, was später in der Ehe zwar nicht gerade die Hauptsache, so doch immerhin aber auch keineswegs etwas ganz Nebensächliches wäre, nämlich das geschlechtliche Zusammenleben.

Auf alle, aber auch auf alle Einwände, die ihr Robert etwa machen könne, war sie vorbereitet gewesen und für jeden hatte sie sich im voraus ihre Entgegnung zurechtgelegt, aber glücklicherweise hatte ihr Robert ihr gar nicht erst widersprochen, sondern ihr gleich beigestimmt, so daß sie ihm am liebsten dafür einen sehr herzlichen und einen zugleich sehr aufregenden Kuß gegeben hätte, wie sie ihn vor Jahr und Tag einmal voller Entsetzen, zugleich aber auch voller Entzücken — doch nein, von wem sie ihn gelernt hatte, das war ja einerlei und außerdem war es ganz zwecklos, noch an den hübschen Alex zu denken, einmal, weil sie nun doch verlobt, dann aber auch, weil der andere auf dem Felde der Ehre gefallen war. Aber vergessen würde sie den hübschen Alex trotzdem natürlich niemals, das war sie ihm schon deshalb schuldig, weil er sein junges Leben für sie alle in der Heimat und damit auch für sie geopfert hatte.

Ja, sie war drauf und dran gewesen, ihrem Robert einen sehr, sehr schönen Kuß zu geben, aber dann hatte sie es doch unterlassen, einmal, weil man die Männer in der Hinsicht nicht verwöhnen durfte, dann aber auch, weil ihr Kuß ihn auf den Gedanken hätte bringen können, als sei sie nicht auf sein so unbedingtes und sein so schnelles Einverständnis gefaßt gewesen. Und wenngleich ihr Robert Gott sei Dank auch glücklicherweise alles andere als dumm oder beschränkt oder kleinlich und prüde war, so überraschte seine sofortige Zusage sie dennoch so, daß sie, als er ihr heute von seiner unaufschiebbaren und so wichtigen Geschäftsreise sprach, im ersten Augenblick unwillkürlich dachte: er schützt die Reise nur vor, oder er macht sie überhaupt nur, um nicht mit dir in den „Reigen” gehen zu müssen. Entweder hat er das von Anfang an nicht gewollt und hat damals im ersten Augenblick nur nicht den Mut gehabt, dir das offen und ehrlich einzugestehen, oder er hat sich die Sache inzwischen anders überlegt und feige, wie ja schließlich alle Männer, besonders einem hübschen jungen Mädchen gegenüber sind, wagt er es auch jetzt nicht dir die Wahrheit zu sagen, sondern hat sich zu dem Zweck eigens die Reise erfunden. Aber dann hatte er ihr doch so klar bewiesen, daß selbst sie nicht daran zweifeln konnte, wie die Reise keine Finte, sondern eine geschäftliche Notwendigkeit war, die sich auch nicht auf einen anderen Tag verschieben ließ, da er in Berlin mit einigen anderen Herren zusammentraf, die nur seinetwegen dorthin kamen und die ihrerseits wieder aus geschäftlichen Gründen gezwungen waren, an dem für die Konferenz von ihnen allen vereinbartem Tag unter allen Umständen festzuhalten.

Trotzdem aber hätte er nie und nimmer sagen dürfen: „Das Geschäft geht vor.”

Und was wurde nun aus der kleinen Loge, für die er die Billetts schon längst gekauft hatte und die sie eigens gewählt, damit sie in der mit ihrem Robert ganz allein säße und nicht etwa durch dumme Zwischen­bemerkungen der anderen Leute, die mit ihnen in einer großen Loge zusammengesessen hätten, in dem Genuß der Vorstellung gestört worden wären?

Außerdem konnte man doch auch nicht wissen, ob das Ansehen der zehn Szenen und namentlich ob das Fallen des Zwischenvorhanges, der gewisse Vorgänge auf der Bühne verhüllte, nein, nur andeutete, nicht ihr Blut und sein Blut, nein, sein Blut und ihr Blut, oder nur das seine in Wallung gebracht, so daß er den Versuch gemacht hätte, ihr heimlich und verstohlen die Hand zu drücken, oder gar ein klein wenig mit ihr zu fußeln. Und vielleicht hätte sie dann auch wiedergefußelt, wie sie das vor vielen Jahren und Tagen zum allerersten Mal in ihrem Leben mit dem bildhübschen Heinz tat, obgleich der damals erst sechzehn Jahre zählte. Aber an den durfte sie natürlich auch nie mehr denken, denn sie war doch verlobt und das Denken an den anderen war auch ganz zwecklos, denn auch der hatte als blutjunger Mensch sein Leben auf dem Felde der Ehre gelassen. Aber vergessen würde und durfte sie ihn natürlich niemals, das hatte er schon durch seinen Heldentod für sie alle in der Heimat und damit auch durch seinen Tod für sie nicht verdient.

Ja, was wurde nun aus der kleinen intimen Loge? Daß sie allein gerade zu diesem Stück in das Theater ging, war natürlich leider Gottes vollständig ausgeschlossen, das würde die Welt wohl wirklich unerhört unpassend gefunden haben, schon weil sie doch nicht allen ihren Bekannten von ihrem Platz aus zurufen konnte: „Mein Verlobter hat verreisen müssen, nur deshalb komme ich allein.” Aber selbst wenn sie das allen bekanntgegeben hätte, die wären imstande gewesen, ihr nicht zu glauben. Na und daß sie ihre Mutter mit in das Theater nahm, war natürlich erst recht ausgeschlossen, die würde entweder schon in der Mitte der ersten Szene entrüstet davonlaufen, und dann mußte sie mitlaufen, oder ihre Mutter würde, wenn sie doch sitzenbleiben sollte, sicherlich bei dem Theaterskandal, der da kommen sollte und kommen würde, aus dem Pompadour ihren Hausschlüssel ziehen und sich auf dem und mit dem an dem Gepfeife und Gejohle beteiligen.

Was wurde nun aus der kleinen Loge, für die ihr Robert, da die Preise sehr erhöht waren, zweihundert Mark hatte bezahlen müssen?

Sollten gerade an dem Abend, auf den sie sich so wahnsinnig blödsinnig gefreut, andere Leute, vielleicht irgendwelche reichgewordene Proleten, auf den beiden Stühlen sitzen und sollte sie selbst an dem Abend zwar mit der Mutter zusammen, aber trotzdem mutterseelenallein zu Hause sitzen und ein gutes, ernstes Buch lesen, wie ihre Mutter das so oft von ihr verlangte, da die mit ihren veralteten Anschauungen sie unbegreiflicherweise zuweilen etwas leicht und oberflächlich und ganz zuweilen sogar für etwas zu freidenkend hielt? Und was sollte sie auch wohl lesen? Etwas Schiller und Goethe, oder die Sonntags­plaudereien für christliche junge Mädchen? Das sollte ihr gerade einfallen!

Deshalb, schon um dem zu entgehen und um ihrer Mutter nicht vielleicht sogar etwas aus einem derartigen Schmöker vorlesen zu müssen, stand plötzlich eins für sie fest: ihr Robert durfte wenigtens vorläufig die Billetts noch nicht wieder zurückgeben, dnn es war doch immerhin möglich, daß sich die Reise im letzten Augenblick noch zerschlug, oder daß sie auf einen anderen Tag verschoben wurde. Bei Gott war ja kein Ding unmöglich, warum sollte da nicht einer der Herren, die zur Konferenz nach Berlin kommen wollten, nicht plötzlich sterben können, oder wenigstens so krank werden, daß er an keine Reise dachte, das selbst dann nicht, wenn Millionen und aber Millionen für ihn auf dem Spiel standen. Und wenn keiner der anderen Herren krank wurde, da mußte Robert ganz einfach erkranken, natürlich nicht sehr ernsthaft und nicht gefährlich, höchstens an einer Influenza oder an einer Grippe. Beides war ja harmlos, wenn nicht unglücklicherweise eine Lungenentzündung hinzutrat und wenn sie heute abend den lieben Gott in ihrem Gebet bat, ihrem Robert eine Influenza zu schicken, dann würde sie die bei dem lieben Gott schon ohne Lungenentzündung bestellen, gewissermaßen so, wie letzthin bei ihrem Schlachter die fünf Pfund Rindfleich ohne Knochen. Und Gott würde ihr Gebet schon richtig auffassen und es nicht als Herzlosigkeit bezeichnen, denn herzlos war es keineswegs gemeint, sondern es war zu Roberts Bessem, denn wie leicht konnte ihm auf der Reise nicht ein Unglück zustoßen, und wie groß würde nicht seine Enttäuschung sein, wenn das Geschäft sich in Berlin zerschlug, oder wenigstens nicht in der Art zustande kam, wie er es hoffte und wünschte.

Schon, um ihm diese etwaige große Enttäuschung zu ersparen, war es von Anfang an besser, er fuhr gar nicht fort. Der liebe Gott mußte und würde ihr Gebet erhören, aber nein, fiel ihr plötzlich ein, er durfte es nicht erhören, unter gar keinen Umständen, denn was hatte sie davon, daß ihr Robert krank wurde? An seiner Influenza oder seiner Grippe lag ihr gar nichts, im Gegenteil, das brachte sie höchstens in Gefahr, daß er sie bei einem Kuß oder auch nur durch einen Händedruck ansteckte und daß sie dann unter Umständen auch selbst wochenlang das Bett hüten mußte. Und das wollte sie natürlich nicht, denn sie wollte doch in die Erstaufführung des „Reigens”, und Robert sollte und mußte sie dahin begleiten. Folglich war es sehr dumm und sehr unüberlegt von ihr gewesen, Gott bitten zu wollen, ihn krank werden zu lassen, damit er nicht reisen könne. Na, noch hatte sie ja nicht gebetet, und wenn sie es getan, wäre es auch noch so gewesen, denn der liebe Gott hätte sie ganz sicher doch nicht erhört, weil der, wenn er überhaupt existierte, ganz andere Dinge zu tun hatte, als auf all den Unsinn hinzuhören, den die Menschen sich des Abends im Bett, sei es aus Angst oder aus sonstigem Egoismus, im Selbstgespräch zusammenreden und das sie Gebet nennen, weil sie dabei die Hände falten, anstatt sich mit denen auf dem Kopf zu kratzen, oder sich mit denen, wenn sie noch kleine Kinder sind, in der Nase herumzubohren.

Nein, krank werden durfte Robert unter keinen Umständen, er mußte mit ihr in das Theater gehen und damit er das auch täte, und damit er das Geschäft nicht weiter vorgehen ließe, würde und wollte sie morgen so nett zu ihm sein, wie sie es nur immer konnte, und erst recht wollte sie sich sehr, sehr hübsch und verführerisch für ihn anziehen. Gott sei Dank, daß es Sommer war, da konnte sie sich hell und ganz duftig für ihn kleiden, von den dünnsten seidenen Strümpfen angefangen, bis zu den ganz, ganz dünnen Batisthemdhosen. Die letzteren würde er ja allerdings nicht sehen und das war eigentlich und uneigentlich sehr schade, denn die waren in ihrer Zartheit tatsächlich ein Gedicht, und wenn sie erst später seine Frau war, und wenn sie sich ihm da in denen zeigte, würde er sicher, wie er es ja auch sollte, entzückt sein und würde sie dann sicher, wie er es ja ebenfalls sollte, auf ihre rosige Haut, die sich zwischen dem oberen Rand der ganz langen Strümpfe und dem unteren Rand der ganz kurzen Hemdhosen zeigte, küssen. Und gerade der Kuß sollte, wie ihr einmal eine jung verheiratete Freundin erzäht hatte, von allen Küssen der schönste sein, schon weil die Männer bei dem so verliebt wären, daß sie ihren Frauen jeden, aber auch jeden Wunsch erfüllten. Glücklicherweise wußte sie schon heute, was sie sich wünschen würde, bevor ihr Robert sie zum erstenmal dahin küßte, nein, bevor er sie dahin küssen durfte, denn wie alles auf der Welt, mußten auch die Wünsche, ehe man die aussprach, sehr reiflich überlegt sein. Ja, die ganz besonders, denn wenn man plötzlich vor die Erlaubnis gestellt wird, sich etwas wünschen zu dürfen, fällt ja einem nur in den allerseltensten Fällen gleich das Richtige ein. Man wünscht sich ja ohnehin stets soviel, daß man dann, wenn man sich etwas nicht nur wünschen darf, sondern sich sogar etwas wünschen soll, nicht zu bescheiden sein darf, damit man es hinterher nicht bereut, die Gelegenheit nicht gehörig ausgenutzt zu haben. Und die muß man ausnutzen, schon weil es um jede Reue etwas Schreckliches ist.

Na, morgen konnte und durfte sie sich ja noch nichts wünschen, schon weil ihr Robert die Hemdhose nicht zu sehen bekommen würde. Aber vielleicht ahnte er es, daß sie die angezogen hatte, um ihm dadurch eine, wenn auch gewissermaßen nur unsichtbare Freude zu bereiten, und vielleicht konnte sie es ihm irgendwie zu verstehen geben, oder es ihm andeuten, wie hübsch sie sich für ihn gemacht habe, und das allein würde hoffentlich schon genügen, um ihn auf das Geschäft pfeifen zu lassen. Auf jeden Fall aber wollte sie morgen für ihn ihre ganz besonders tief ausgeschnittene Bluse anziehen, damit er ihren selten schönen jungen Busen nicht nur ahnen, sondern damit er den auch wirklich, wenn auch nur zum Teil, sehen könne, obgleich sie im stillen schon die vorwurfsvolle Stimme ihrer Mutter hörte: „Aber Änne, wie hast du dich denn heute wieder ausgezogen, statt angezogen?”

Ach ja, mit der Mutter war es zuweilen wirklich ein Unglück.

Die Freude, nein die Gewißheit, daß es ihr morgen gelingen werde, ihren Robert dahin zu bringen, daß er ihr zuliebe seine Berliner Reise aufgäbe, ließ sie jetzt beinahe ihren Haß gegen ihn vergessen, aber auch nur beinahe, denn sie haßte ihn immer noch und das schon deshalb mit vollem Recht, weil sie ja stets bei allem, was sie tat und sagte, recht hatte. Aber sie haßte ihn nicht nur weiter, wenn auch ein ganz klein wenig weniger als vorhin, sondern sie wunderte sich auch, daß sie ihn bisher im stillen immer noch „ihren Robert” genannt hatte, denn nachdem er sich ihr gegenüber so benommen und ihr eine solche tödliche Beleidigung in da Gesicht geschleudert, hätte sie auf Grund ihrer vortrefflichen Charkter­veranlagung, die nie etwas verzieh, doch schon seit Stunden so vollständig mit ihm fertig sein müssen, daß er für sie auf der Welt gar nicht mehr existierte und daß sie, bildlich und wörtlich gesprochen, über ihn hätte fallen können, ohne sich daran erinnern zu können, daß er ihr vorher schon jemals begegnet sei.

Und plötzlich dachte sie nun an den Abend, an dem er ihr zum erstenmal begegnete. Es war auf einem Gesellschafts­abend bei den Eltern ihrer Freundin Mary Brandenstein gewesen, und sie hatte sich auf das Fest ganz besonders gefreut, weil sie mit ziemlicher Sicherheit darauf rechnete, daß der Rechtsanwalt Pfannschmidt, der ihr schon seit einiger Zeit sehr stark den Hof machte, sie zu Tisch führen und bei der Gelegenheit weiter derartig um ihre Gunst werben würde, daß er entweder gleich nach aufgehobener Tafel, oder spätestens am nächsten Morgen um sie anhielt. Voll freudiger Erregung, oder wie die blödsinnigen Romanschriftsteller das nennen, unruhig klopfenden Herzens, sah sie den kommenden Ereignissen entgegen, denn wie sie sich von dem Rechtsanwalt geliebt glaubte und geliebt wußte, so liebt sie auch ihn, wenn auch nicht in der Art eines verrückten Backfisches, sondern in der eines vernünftigen und erwachsenen jungen Mädchens. Sie dachte bei Tage viel an ihn und des Nachts träumte sie sogar von ihm, aber auch das letztere natürlich nicht in der Art eines verrückten, bleichsüchtigen und ein klein wenig hysterisch veranlagten Backfisches, der Lebertran schlucken muß, um körperlich und dadurch auch geistig wieder normal zu werden, sondern ebenfalls in der Art eines vernünftigen erwachsenen jungen Mädchens, das da ganz genau weiß, daß erwachsene Menschen sich nicht nur mit dem Herzen lieben und daß die Liebe in der Hauptsache ein Verlangen nach dem gegenseitigen Besitz ist, zu dem auch heutzutage leider Gottes noch das Standesamt und der Geistliche die Einwilligung und den Segen erteilen müssen, damit Tante Christine und Tante Hanna es nicht im höchsten Grade unpassend und unmoralisch finden, wenn die Liebenden sich eines Abends vereinigen und einander angehören. In einem für ganz junge Mädchen bestimmten Lesebuch hätte sie das, was sie manchmal träumte, nicht veröffentlichen können, aber sie selbst war zu erwachsen, zu vernünftig und zu normal veranlagt, um ihre Träume irgendwie unpassend zu finden, oder um sich ihrer nach dem Erwachen zu schämen. Und vor wem hätte sie sich auch wohl schämen sollen? Etwa vor sich selbst? Das wäre doch mehr als dumm und albern gewesen, und um sich vor anderen zu schämen, fühlte sie schon deshalb keine Veranlassung und keine Verpflichtung, weil sie natürlich keinem Dritten ihre Träume erzählte, selbst ihren intimsten Freundinnen nicht. Wohl aber ließ sie sich gelegentlich von denen beichten, was die sich nach den Bällen oder in den warmen Frühlingsnächten zusammenträumten, und wenn sie das erfahren, kam sie sich selbst zuweilen so rein und keusch und unverdorben vor, wie ein Säugling im Steckkissen.

Eine Freundin hatte ihr einmal erklärt: „Wenn unsere späteren Männer wüßten, was wir uns vor der Ehe des Nachts alles zusammengeträumt haben, würden die Männer uns entweder im letzten Augenblick gar nicht heiraten, oder sie würden sich sehr bald wieder von uns scheiden lassen.”

Na, das war eine Ansicht und eine Auffassung, die sie selbst ganz bestimmt nicht teilte, denn die jungen Mädchen sündigten vor der Ehe doch nur in Gedanken — leider. Die Männer aber sündigten vor der Ehe doch in Taten. Erst recht leider.

Und außerdem, so etwas, wie die Freundin sich da zusammenzuträumen schien, träumte sie selbst denn doch nicht, dazu war sie wirklich zu rein und zu unverdorben.

Sie selbst hatte nach ihrer ehrlichsten Überzeugung gar keinen Grund, ihrer Träume wegen ein schlechtes Gewissen zu haben, deshalb trat sie dem hübschen, klugen Rechtsanwalt auch stets völlig unbefangen gegenüber, und das wollte sie an dem Abend bei Brandensteins erst recht tun. Und erst recht wollte sie bei Tisch völlig unbefangen neben ihm sitzen und ihm in keiner Weise zu verstehen geben, daß sie voller Ungeduld auf seinen Antrag warte, schon damit das, was sie so oft geträumt, endlich einmal und hoffentlich bald Wirklichkeit würde.

Aber als sie dann bei Brandensteins eintraf, harrte ihrer dort eine sie im ersten Augenblick beinahe niederschmetternde Überraschung. Ihre Freundin Mary hatte ganz plötzlich von einer durchreisenden ehemaligen Mitschülerin aus em Pensionat Besuch bekommen, und das hatte Mary veranlaßt, nein gezwungen, die Tischordnung im letzten Augenblick zu ändern, ja wirklich gezwungen, denn wie Mary ihr mit den heiligsten Eiden versicherte, wäre sie sonst nie auf den Gedanken gekommen, ihr den Rechtsanwalt als Tischherrn fortzunehmen und ihr dafür einen anderen, den noch jungen Großkaufmann Robert Winkler zu geben. Aber es war, wie sie es schließlich selbst einsah, wohl wirklich nicht anders gegangen, denn diese Freundin, ein Fräulein Lona Werner, das völlig ahnungslos in diese Gesellschaft hineingeschneit war, hatte darum gebeten, den Rechtsanwalt, dessen Bruder sie von dem Wohnsitz ihrer Eltern her kenne, an ihre Seite zu bekommen, damit sie mit ihrem Tischnachbar wenigstens ein Gesprächsthema habe, das sie beide interessiere, denn sie wisse sonst wirklich nicht, worüber sie sich hier unter lauter ganz fremden Menschen mit ihrem Herrn bei Tisch unterhalten solle.

Dieses offene Geständnis schien ihr, Änne, der beste Beweis dafür zu sein, daß dieses Fräulein Lona saudumm, wie sie das damals gleich nannte, sein müsse, denn gerade mit einem Herrn, der einem ganz fremd war und den man zum erstenmal sah, unterhielt man sich doch stets am besten, schon weil man mit dem zusammen das langweilige Thema gemeinsamer Freunde und Bekannter nicht zu berühren brauche. Aber diese Lona schien darüber glücklicherweise anders zu denken, und so würde der sehr kluge und amüsante Rechtsanwalt sich sicher bald sträflich langweilen, wenn sie dem fortwährend, weil sie sonst nichts zu sagen wußte, von seinem Bruder erzählte, und sicher würde der sich bei Tisch mehr als einmal wünschen, daß sie stat der Lona an seiner Seite säße. Und daß dieser Wunsch in ihm immer größer und immer sehnsüchtiger würde, ohne daß er in Erfüllung ginge, das war vielleicht ebensogut, wenn nicht noch besser, als wenn er sie tatsächlich zu Tisch geführt hätte. Da würde er ihr gleich nach aufgehobener Tafel gestehen, wie er sie vermißte, wie er sich nach ihrer Gesellschaft und nach ihrer Nähe gesehnt, und wer konnte wissen, ob er ihr dann nicht wirklich schon heute abend seine Liebe gestand und damit nicht bis zum nächsten Tag wartete. An und für sich war es ja natürlich einerlei, ob sie zwölf Stunden später oder früher Braut wurde, aber die Zeiten, in denen man lebte, waren ja leider in jeder Hinsicht unsicher, und auch für einen Heiratsantrag gat das Wort: Was man hat, das hat man.

Aus diesen Erwägungen heraus schwand nach und nach auch die letzte Enttäuschung dahin, daß der Rechtsanwalt nicht neben ihr sitzen würde, und ebensosehr wie sie im ersten Augenblick dieses Fräulein Lona im stillen in das Pfefferland verwünscht hatte, ebensosehr freute sie sich nun darüber, daß die plötzlich hierher zu Besuch gekommen sei. Ja, sie freute sich über deren Anwesenheit plötzlich so, daß sie ihr am liebsten, als sie einander vorgestellt wurden, einen Kuß gegeben hätte, das um so mehr, als die Lona absolut nicht hübsch war. Hübsch an der waren lediglich ihre großen, rehbraunen, von dichten dunklen Wimpern beschatteten Augen, hübsch waren vielleicht auch ihre dichten braunen Haare, auch die schlanke zierliche Figur war für den, der an solchen Puppengestalten Gefallen fand, wohl nicht gerade häßlich, und auch der kleine Mund mit den blendend weißen, gesunden Zähnen wirkte nicht gerade abstoßend, aber sonst war die Lona eher häßlich als hübsch, und als sie sie nur einen Augenblick angesehen hatte, da wußte sie, daß die Lona dem Rechtsanwalt nie und nimmer gefallen würde und daß die ihr bei dem auch nicht für eine Sekunde gefährlich werden könne.

Aber als sie dann bei Tisch die beiden, die ihr schräg gegenüber saßen, beobachtete, da mußte sie zuerst zu ihrem grenzenlosen Erstaunen und dann zu ihrem nicht minder großen Schrecken feststellen, daß der Rechtsanwalt völlig unbegreiflicherweise doch an diesem Fräulein Lona Gefallen zu finden schien. Nicht nur, daß er sich auf das lebhafteste mit ihr unterhielt und daß er zuweilen sehr herzlich mit ihr zusammen lachte, sie bemerkte sogar deutlich, daß er ihr zu wiederholten Malen in die leider Gottes wirklich sehr hübschen Rehaugen sah und nicht nur das, dieses Fräulein Lona besaß die Unverfrorenheit, sich von ihm in die hineinsehen zu lassen, obgleich sie den Rechtsanwalt doch erst kaum kennengelernt hatte. Das war nicht nur stark, das war einfach schamlos, aber sie hatte ja leider kein Recht, der anderen zuzurufen, daß man sich als wohlerzogenes junges Mädchen wenigstens hier in der Stadt bei Tisch nicht so benähme. Und deren Benehmen wurde auch dadurch nicht besser, daß sie bei den Blicken des Rechtsanwaltes zuweilen leicht errötete und ihre Augen dann beschämt und verwirrt senkte. Das war von der Lona natürlich Absicht und Verstellung, damit wollte sie ihrem Nachbar selbstverständlich nur zu verstehen geben: dies Kind, kein Engel ist so rein — und dieses Kind bin ich, Lona Werner.

Wie war es nur möglich, daß der Rechtsanwalt, der doch sonst ein so kluger Mensch war, das schamlose Spiel, das die Lona da vor ihm aufführte, nicht sofort durchschaute, und wie war es nur möglich, daß er es nicht gleich bemerkte, in welcher raffinierten Weise er da eingefangen wurde? Und er wurde eingefangen, darüber konnte sie sich je länger, desto weniger täuschen, denn sie sah es ja, wie er nur noch für seine Nachbarin Augen und Ohren hatte. Zu ihr hatte er, solange sie nun auch schon bei Tisch saßen, noch nicht einen einzigen Blick hinübergeworfen, und erst recht hatte er heute noch nicht ein einzigesmal sein Glas gegen sie erhoben, um ihr, wie er es doch schon so oft getan, heimlich und verstohlen zuzutrinken.

Und so ausschließlich widmete er sich seiner Dame, daß sie selbst sich plötzlich der Erkenntnis nicht verschließen konnte: der Rechtsanwalt ist für dich auf immer verloren, der entbehrt deine Geselslchaft und deine Nähe nicht, im Gegenteil, der ist froh und glücklich, daß eine andere neben ihm sitzt, der hat dich vollständig vergessen und wird sich auch nie wieder enstlich auf dich besinnen. Der wird dir weder heute abend, noch morgen vormittag, noch sonst irgendwann einen Antrag machen, und du wirst nie in die Lage kommen, ihm die Worte zuzuflüstern: „Sprechen Sie mit meiner Mutter.”

Wie sie es fertig gebracht hatte, bei dieser Erkenntnis, deren Wahrheit sie sich leider nicht verschließen konnte, nicht ohnmächtig zu werden, war für sie auch heute noch ein Welträtsel, das auch sicher kein Ernst Haeckel, noch ein anderer Weiser zu ergründen in der Lage gewesen wäre. Genug, sie wurde glücklicherweise nicht ohnmächtig, ja sie brachte es sogar fertig, sich weiterhin, wie sie es auch getan, während sie die beiden anderen beobachtete, mit ihrem Tischherrn, dem ihr bis zum heutigen Abend auch dem Namen nach völlig unbekannt gewesenen Herrn Robert Winkler, zu unterhalten, oder sich in der Hauptsache weiter von ihm unterhalten zu lassen, bis sie mit einemmal aus alledem, was er ihr sagte, herauszuhören glaubte, daß er es darauf ablege, auf sie Eindruck zu machen. Vielleicht hatte er das schon lange getan, und das war ihr, während sie sich mit den beiden anderen beschäftigte, bisher nur entgangen. Jetzt aber wurde sie plötzlich hellhörig, schon weil sie sich sagte: du willst und du mußt es dieser Lona beweisen, daß sich auch in dich ein Herr auf den ersten Anhieb verlieben kann, und vor allen Dingen mußt du dem Rechtsanwalt zeigen, daß du seine Gesellschaft nicht eine Minute entbehrst, du die seine ebensowenig wie er die deine, und daß auch du froh und glücklich bist, daß ihr nicht auch heute wieder zusammensitzt. Und namentlich mußt du ihm beweisen, daß du, wenn du dich verloben willst, deawegen nicht auf ihn zu warten brauchst, damit er sich später nicht etwa einbildet, du säßest in deinem Kämmerlein und weintest ihm Tränen nach.

In dem Augenblick durchfuhr sie zum erstenmal der Gedanke: du verlobst dich mit diesem Herrn Robert Winkler. Und als sie ihn daraufhin nun zum erstenmal ansah, fiel ihr als Erstes — ja, was war ihr eigentlich als Erstes an ihm aufgefallen? War das seine, für sein Alter wirklich unerhörte Glatze, die ihm aber merkwürdigerweise gar nicht schlecht stand? Oder war es der selten große und selten schöne Brillantring an dem kleinen Finger seiner rechten Hand, der heutzutage sicher ein kleines, wenn nicht gar ein großes Vermpögen wert war? Und nach und nach bemerkte sie dann auch noch anderes an ihm, daß er sehr hübsche, sehr wohlgepflegte Hände hatte, daß er tadellos angezogen war, daß er in dem Frack sehr gut aussah, daß er einen sehr schönen dunklen Schnurrbart trug, unter dem seine weißen Zähne sich gut abhoben und daß er eine schlanke, elegante Figur besaß.

Sicherlich, der Rechtsanwalt war hübscher, schon weil er statt der Glatze auf seinem Kopf dichte dunkle Haare trug. Und als sie an dessen Haar dachte, störte sie Herrn Winklers Glatze nun doch etwas, obgleich die ihm wirklich gut stand, und obgleich die auch zu seinem klugen Gesicht paßte. Aber schließlich, ganz vollkommen war ja kein Mann, weder in seiner äußeren Erscheinung, noch in seinem Wesen, und ein Mann mit wenig oder gar keinen Haaren war sicher besser als ein Mann mit einem so unbeständigen und unzuverlässigen Charakter und mit einem so wankelmütigen Herzen wie der Rechtsanwalt.

Aber dann mißfiel ihr noch eins an ihm, daß er Kaufmann, allerdings Großkaufmann war. Am liebsten hätte sie natürlich, wenn es das noch so wie früher gäbe, einen Offizier geheiratet. Aber seitdem die Offiziere jetzt teilweise aus dem Unteroffiziersstande und selbst aus den Mannschaften hervorgingen, und seitdem dementsprechend auch die Offiziersdamen nicht mehr wie früher eine Klasse und eine Kaste für sich bildeten, hatte es ja leider keinen Reiz mehr, einen Leutnant oder Hauptmann zu heiraten. So stand es denn längst bei ihr fest, daß sie nur einen studierten Mann nehmen würde, nur einen solchen, wie es ihr verstorbener Vater gewesen war und wie es alle ihre männlichen Verwandten waren. Auch schon deshalb hatte sie sich für den Rechtsanwalt entschieden gehabt, obgleich sie noch lieber einen Mann gewählt hätte, der es als Staatsbeamter zu einer ganz hohen Stellung, vielleicht sogar bis zum Reichspräsidenten bringen konnte.

Und nun sollte auch dieser Traum ihrer Jugend zerrinnen, und statt eines Studierten sollte sie einen Kaufmann, wenn auch einen Großkaufmann heiraten? Das wollte ihr nun für einen kurzen Augenblick absolut nicht in den Sinn, und schon durchzuckte es sie, ihre Absicht, sich mit diesem Herrn Robert Winkler zu verloben und sich hoffentlich auch bald mit ihm zu verheiraten, wieder aufzugeben, als sie hörte, wie er sich danach erkundigte, ob sie gern Auto fahre und ob er später, wenn er hoffentlich ihrer Frau Mutter seinen Besuch habe machen düfen, denn er habe zufällig erfahren, daß sie nur noch eine Mutter besäße, wie gesagt, ob er sich dann erlauben dürfe, falls sie den Autosport liebe, sie und ihre Frau Mutter einmal zu einer Autofahrt abzuholen. Und noch bevor sie ihm darauf irgendeine Antwort hätte geben können, begann er, wohl um sie dadurch seinen eigenen Wünschen geneigt zu machen, von den Schönheiten und von der Schnelligkeit seines neuen großen Autos zu erzählen, das er sich erst vor einigen Wochen gekauft und das angeschafft zu haben, er auch heute trotz des enormen Preises nicht bereue, denn das Auto habe sich schon auf der einen und anderen größeren Tour glänzend bewährt, und er sei fest davon überzeugt, daß der Wagen das auch weiterhin tun werde, wenn und so oft er ihn statt der Eisenbahn bei gelegentlichen Ausflügen benutzen würde: „Denn,” so etwa schloß er, „mit der Bahn fahre ich nur noch dann, wenn ich es aus geschäftlichen Gründen unbedingt muß, weil man ja heutzutage wirklich nicht mehr weiß, für welche Klasse man sich eine Karte lösen soll. In der vierten fahren nach einem guten Witzwort jetzt die Kopfarbeiter, in der dritten die Handarbeiter, in der zweiten fahren die Leute, die nicht nur an Wochentagen, sondern erst recht am Sonntag und bei feierlichen Gelegenheiten „mir” und „mich” miteinander verwechseln, während in die erste nur solche hineinklettern, die „mein” und „dein” nicht auseinanderhalten können.”

Nicht nur aus Höflichkeit gegen ihn, sondern auch, weil ihr der kleine Scherz, den sie noch nicht gehört, gefiel, lachte sie über den, dann aber hörte sie voller Aufmerksamkeit und voll Interesse zu, als er ihr von den bisherigen großen Autotouren erzählte, die er bei dem herrlichen Wetter an den letzten Sonntagen in die weite Umgebung der Stadt gemacht, und wieder hatte er dabei seinen Opelwagen gelobt, dessen Motorstärke und dessen Eleganz und Bequemlichkeit er nicht genug rühmen konnte. Er hatte auch davon gesprochen, wie spielend leicht und sicher der Wagen sich lenken lasse, und er hatte ihr weiterhin erklärt, es würde ihm ein besonderes Vergnügen sein, sie späterhin, wenn er dürfe, in die Geheimnisse und in die Künste eines Chauffeurs einzuweihen, damit sie in Zukunft auch einmal den Wagen selbst steuern könne, denn so schön das Autofahren schon an und für sich sei, der größte Reiz bestände natürlich doch darin, selbst am Steuerrad zu sitzen, wie auch er das immer täte, obgleich er natürlich den Chauffeur für alle Fälle stets mitnähme.

Während er so sprach, hatte sie unwillkürlich beständig auf seine sehr hübschen, aber trotzdem sehr kräftigen Hände blicken müssen, und während sie das tat, hatte sich ihr immer mehr und mehr die Überzeugung aufgedrängt, daß sie sich und ihr Leben denen wohl nicht nur für eine, wenn auch noch so rasend schnelle Autofahrt über Berg und Tal, sondern auch wohl für das ganze Leben anvertrauen könne, ohne dabei irgendwelchen Schaden zu erleiden.

Und dann hatte sie plötzlich die Empfindung, nein die Überzeugung, daß sie das nicht nur könne, sondern daß sie das auch möchte.

Aber daß sie das möchte, hatte, wie sie sich gleich darauf offen und ehrlich eingestand, nicht das geringste damit zu tun, daß er ein schönes Auto besaß, obgleich es natürlich in der Ehe sehr angenehm war, einen eigenen Wagen zu besitzen und nicht immer auf die öffentlichen Kraftdrochken angewiesen zu sein, die sie geradezu haßte, seitdem sie sich in einer solchen vor nicht allzu langer Zeit einmal eine Wanze geholt hatte. Wäre es nur ein harmloser, blutgieriger Floh gewesen, dann hätte sie sich das ja noch zur Not gefallen lassen, aber mit einer Wanze in den Kleidern und am Körper kam sie sich auch moralisch entehrt und entwürdigt vor. Und selbst als die schrecklichen Bisse an ihren Gliedern nicht mehr sichtbar waren, hatte sie immer noch den Argwohn gehabt, sie trüge das gräßliche Tier vielleicht doch noch irgendwo an sich. Der drohenden Gefahr, vielleicht zum zweitenmal von einem solchen Ungeziefer gequält und gepeinigt zu werden, war sie nach menschlicher Voraussicht für immer enthoben, wenn sie fortan nur noch im eigenen Auto fuhr, aber trotzdem würde sie natürlich niemals nur der Wanzen, nein, sie meinte selbstverständlich nur des Wagens wegen heiraten. Aber sehr angenehm war es wirklich, ein eigenes Auto zu haben, schon weil ihre Freundinnen sie alle fürchterlich um das beneiden würden. Und was würde der Rechtsanwalt erst für ein Gesicht machen, wenn sie an dem stolz vorüberfuhr und ihn aus dem Wagen heraus gnädig und herablassend grüßte. Dann würde er es wohl endlich, aber wie immer natürlich zu spät einsehen, daß sie für ihre Person doch noch viel schöner und begehrenswerter gewesen war, als diese Lona, denn der hätte sich ganz sicher niemals oder wenigstens nicht so schnell eine so glänzende Partie geboten, und die hätte nie und nimmer eine solche glänzende Heirat gemacht wie sie.

Dann aber fiel ihr glücklicherweise noch zur richtigen Zeit wieder ein, daß sie sich schon als Backfisch fest vorgenommen und es sich auch geschworen hatte, sich später bei der Wahl ihres Mannes nie durch Äußerlichkeiten und nicht durch irgendwelchen Reichtum blenden zu lassen, sondern nur den Mann zu erhören, und nur den zu heiraten, den sie auch wirklich von ganzem Herzen liebe, denn nur in der Liebe allein war und blieb doch das Glück der Ehe begründet.

Und was sie sich damals als Backfisch geschworen, das mußte sie auch heute noch halten, wenn nicht vielleicht sehr bald die Stunde kommen sollte, in der sie sich die bittersten Vorwürfe machte.

Deshalb hatte sie sich denn auch gleich die Frage vorgelegt: Liebst du diesen Herrn Robert Winkler, oder, da du ihn heute bei der bisherigen kurzen Bekanntschaft natürlich noch nicht lieben kannst, glaubst du, daß du ihn bald lieben wirst?

Und je länger sie darüber nachdachte, während sie sich bei Tisch weiter mit ihm unterhielt und während sie ihm auf seine erneute Frage hin erklärte, daß sie gelegentlich gern einmal eine Autofahrt, bei der ihre Mutter sie natürlich begleiten müsse, mit ihm machen würde, ja wirklich, je länger sie darüber nachdachte, desto mehr gelangte sie zu der felsenfesten Überzeugung, daß sie ihn nicht nur lieben werde, sondern daß sie ihn auch dann, wenn sie es nicht wolle, werde lieben müssen, schon weil kein anderer Mann auf der Welt, oder wenigstens in Deutschland, es verdiene, von ihr und gerade von ihr geliebt zu werden, denn er war nicht nur trotz oder gerade wegen seiner Glatze ein auffallend hübscher Mensch, er war auch klug und amüsant, er hatte Interesse und Verständnis für Musik und Literatur, er war weit gereist, er kannte bereits die verschiedensten Länder und wollte die Staaten, die er in den letzten Jahren des Krieges wegen nicht hatte besuchen können, jetzt bereisen, zum Teil in Geschäften, teils aber auch zu seinem Vergnügen, und er sprach ganz offen davon, daß er hoffe, bald eine Frau zu finden, die ihn überallhin begleiten werde. Er war wirklich ein kluger, guter Mensch, den man liebhaben mußte, und so fühlte sie denn schon, als man nach gut zwei Stunden vom Tisch aufstand, wie ihr reines und unverdorbenes Herz ihm entgegenschlug. Das wollte ihr allerdings zuerst selbst etwas überraschend schnell vorkommen, aber wie oft geschah es nicht, daß sich zwei Menschen in der ersten Minute für immer ineinander verliebten, sie aber hatte ihrem Herzen, das bisher nur für den Rechtsanwalt geschlagen, während zweier langer Stunden, in denen sie sich ernstlich und mehr als gewissenhaft prüfte, Zeit gelassen, sich auf ihn umzustellen.

Dann aber hatte sie sich gesagt: Ob du dich nicht trotz alledem täuschst, wird dir ja heute nacht dein Traum beweisen.

Aber ganz gegen ihre Erwartung hatte sie doch wieder von dem Rechtsanwalt geträumt und das hatte sie bei dem Erwachen im ersten Augenblick stutzig gemacht, bis sie dann für das ihr zuerst völlig Unbegreifliche und Unverständliche die einfachste und natürlichste Lösung fand: sie hatte von dem nicht geträumt, weil sie ihn noch liebte, sondern lediglich aus alter Angewohnheit, denn seinen Träumen konnte man vor dem Einschlafen, wenn die Träume ja noch gar nicht da waren, leider nicht gebieten und nicht befehlen: Bringt mir das Haupt des Jochanaan, damit ich seinen Mund küsse. Da mußte man sich zum Küssen mit dem Haupt begnügen, das die Träume brachten.

Schon ein paar Tage später hatte Herr Robert Winkler ihrer Mutter und ihr seinen Besuch gemacht und dann auch die Erlaubnis erhalten, die beiden Damen demnächst zu einer großen Autofahrt abholen zu dürfen, ohne daß er etwas davon ahnte, welche häuslichen Kämpfe sich deswegen vorher abspielten, denn als sie ihrer Mutter von dem bevorstehenden Besuch des Herrn Winklers erzählte, hatte diese auf das bestimmteste erklärt: „Eher lasse ich mir meine drei letzten gesunden Backenzähne, noch dazu ohne jede Betäubung von einem Dorfbarbier, der dabei jeden Zahn zehnmal abbricht, bevor er ihn endlich heraus hat, ausziehen, ehe ich mich, noch dazu mit meinem Herzleiden, in ein Auto setze und dann mit euch beiden in der vierten Geschwindigkeit, bei der ihr auf mich keinerlei Rücksicht nehmt und bei der ich todsicher einen dreifachen Herzschlag bekomme, durch das Weltall dahinsause, bis irgend etwas in dem Ratterkasten explodiert und bis wir in Atome zerrissen und zerfetzt gen Himmel fliegen.”

„Aber Mutter, wenn du schon vorher einen dreifachen Herzschlag bekommst, merkst du doch hinterher von der Explosion nichts mehr, und außerdem wird auch in dem Ratterkasten, wie du das Auto nennst, ganz bestimmt nichts explodieren,” hatte sie selbst halb lustig, halb wütend widersprochen, und dann hatte der Kampf begonnen, dessen allererster Anfang darin bestand, daß sie selbst zunächst einmal zur Stadt ging, und sich einen todschicken Automantel, eine ebenso schicke Autokappe und eine leider etwas weniger schicke Autobrille kaufte. Und als sie wieder zu Hause war und sich zum erstenmal vor dem Spiegel in den neuen Sachen bewunderte, während sie sich gleichzeitig sagte: es ist noch ganz ungewiß, ob du den Dreß für die Wagenfahrt wirst anziehen können, denn wenn die Mutter euch nicht als Elefant begleitet, kannst du natürlich nicht mit ihm allein fahren, und dann ist von allen anderen Enttäuschungen, die du dadurch erlebst, ganz abgesehn, auch das viele Geld für diese Sachen umsonst ausgegeben, da, ja da merkte sie erst, wie sehr, nein, wie rasend sie schon jetzt ihren Robert liebte, so rasend, daß sie sich fortan ein Leben ohne ihn nicht mehr vorzustellen vermochte.

Aus dieser Erkenntnis heraus nahm sie sich denn auch gar nicht erst die Zeit, sich wieder umzukleiden, ja sie vergaß es sogar, sich die Autobrille wieder abzunehmen, sondern so, wie sie war, stürzte sie in das Zimmer ihrer Mutter, stürzte ihr zu Füßen, unter der Brille hervor stürzten ihre Tränen, und ihre Worte überstürzten sich, als sie ihr zurief: „Mutter, wenn du nicht mit uns fährst, geht die ganze bevorstehende Verlobung in die Brüche, und dann bekomme ich einen dreifachen Herzschlag, denn das überlebe ich ganz einfach nicht. Deinen Herzschlag bildest du dir doch nur ein, der meinige ist mir aber so sicher wie einem Durstigen die Gewißheit, daß er keinen Durst mehr verspürt, wenn er erst mal zehn Liter Wasser getrunken hat. Mutter, ich beschwöre dich, lasse mich nicht irre werden an deiner Liebe und an dem alten Wort, daß es kein Opfer gibt, das eine Mutter ihrem Kinde nicht mit tausend Freuden bringt. Und welches Opfer verlange ich denn von dir? Doch gar keins, sondern nur, daß du dich an einem Vergnügen beteiligst, denn auch du wirst dich herrlich unterhalten, und auch du wirst die schöne Fahrt in vollen Zügen genießen, wenn du deine erste, beinahe kindliche und kindische Furcht überwunden hast.”

Mit einer Stimme, die so herzzerbrechend klang, daß es ihr selbst durch Mark und Bein ging, sprach sie auf ihre Mutter ein, aber sie erreichte dadurch weiter nichts, als daß die ihr abermals das Märchen von den drei Ringen, nein, das von den letzten drei gesunden Backenzähnen erzählte, denn natürlich war das ein Märchen, erstens, weil sie es ebensogut wie die Mutter wußte, daß die in Wirklichkeit nur noch zwei halbwegs gesunde Backenzähne besaß, nur zwei, keine drei, und ferner wußte sie ebensogut wie de Mutter, daß die nicht einmal einem Zahnarzt, der ohne Zange und ohne Bohrmaschine auf die Welt gekommen wäre, es erlaubt hätte, ihr auch nur in den Mund zu sehen, ohne daß der Doktor ihr vorher die ganzen Zähne unempfindlich gemacht hätte.

Was man selbst als erwachsene Tochter der eigenen Mutter zuweilen alles noch glauben sollte, war manchmal geradezu hahnebüchen.

Nur eins, was die Mutter ihr, wenn auch nur indirekt eingestand, war kein Märchen, das war deren unüberwindliche Abneigung und die Angst vor einer Autofahrt, die sie seit jener Stunde empfand, in der sie vor vielen, vielen Jahren in einer Autodroscke beinahe einmal, aber auch nur beinahe, mit einem anderen Auto, das ihnen in rasender Fahrt entgegenkam und dessen Chauffeur, wie sich später herausstellte, schwer betrunken gewesen, zusammengeprallt wäre. Daß es damals unter Umständen ein bis zwei bis drei Leichen gegeben hätte, oder wenigstens hätte geben können, glaubte sie ihrer Mutter ja gern, aber in Wirklichkeit hatte es doch keine einzige gegeben. Es war doch alles noch gut abgelaufen, und deshalb war es einfach krankhaft, die Erinnerung an die schon so weit zurückliegende Autofahrt nicht vergessen zu können und die bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten aus der Versenkung heraufzubeschwören.

Die Furcht ihrer Mutter vor einer neuen Autofahrt war echt, aber trotzdem würde sie sich an der Fahrt, zu der Robert Winkler sie beide abholen wollte, beteiligen. Das stand für sie, Änne, natürlich von Anfang an fest, und da sie mit Worten ihr Ziel nicht erreicht hatte, beschloß sie, zu handeln und ihren Worten gleich die Tat folgen zu lassen.

Hatte sie der Mutter erklärt, sie würde es nicht überleben und ihrerseits einen tödlichen Herzschlag bekommen, wenn aus der Autofahrt und damit aus der bevorstehenden Verlobung nichts würde, dann mußte sie, um die Mutter doch noch umzustimmen, nun auch sterben, oder zum mindesten so tun, als ob sie sterben wolle. Deshalb beschloß sie, sofort in einen Hungerstreik zu treten und die Annahme und die Einnahme jeder Nahrung zu verweigern. So ging sie denn, nachdem sie ihre Mutter von ihrem Vorhaben in Kenntnis gesetzt hatte, in ihr Zimmer, schloß die Tür zweimal hinter sich zu, schob zum Überfluß auch noch den Riegel vor, rückte auch noch die Kommode vor die Tür und wartete, als sie nach einigen Stunden anfing, hungrig zu werden, darauf, daß man es gewaltsam versuchen würde, bei ihr einzudringen, um sie ganz einfach zum Essen zu zwingen. Und dann war sie fest entschlossen, nicht eher einen Bissen anzurühren, bevor ihre Mutter ihr nicht in Gegenwart des Mädchens geschworen hatte: Ich tue ja alles, was ich soll und was du willst, mein süßes einziges Kind, nur tue mir den Gefallen und iß endlich etwas. Du siehst ja schon ganz blaß und elend aus, und was sollte ich wohl noch auf der Welt, wenn du dich wirklich tothungern würdest?

Aber solange und so ungeduldig sie auch auf den Augenblick wartete, in dem die Mutter an ihre Tür klopfen würde, es klopfte niemand, weder am Nachmittag, noch am Abend, und erst recht nicht in der Nacht. Da aber hielt sie es vor Hunger nicht länger aus und schlich sich in die Küche, um dort heimlich etwas zu naschen. Aber als sie die Küche betrat und dort auf dem Tisch eine große Schüssel belegter Butterbrote, eine kleine Schale mit Kartoffelsalat und eine Thermosflasche mit warmem Tee stehen sah, das alles in der sicheren Annahme, daß sie in der Nacht wie eine Maus nach Lebensmitteln suchen würde, für sie bereit gestellt war, da widerstand sie, so schwer es ihr auch wurde und so sehr ihr der Magen auch knurrte, der Versuchung, etwas von alledem anzurühren, denn sie wollte sich am nächsten Morgen von ihrer Mutter nicht auslachen lassen und erst recht durfte sie die nicht in dem Gedanken bestätigen, es sei gar nicht ihre ernste Absicht gewesen, sich totzuhungern.

Doch während sie in der Nacht wach lag und vor Hunger nicht schlafen konnte, kam ihr die Erkenntnis, daß es mit dem Hugertod doch sehr langsam zu gehen scheine und namentlich, daß ihre Mutter imstande sei, sie tatsächlich bei lebendigem Leibe vor Hunger sterben zu lassen.

Aber wenn sie sterben sollte, wenn ihre eigene Mutter ihr vielleicht gar den Tod wünschte, nur damit sie es nicht nötig habe, sich an der Autofahrt zu beteiligen, und damit die überhaupt in das Wasser fiele, dann wollte sie schneller und weniger qualvoll sterben.

So machte sie sich denn am nächsten Vormittag, als sie die Mutter hatte fortgehen hören, ebenfalls auf den Weg. Leise und verstohlen schlich sie sich aus der Wohnung, und als sie auf der Straße war, eilte sie in das nicht allzu entfernte Geschäft eines Waffenhändlers, bei dem sie sich für ein sündhaft teures Geld einen Browning kaufte und bei dem sie sich sehr gründlich und sehr ausführlich zeigen ließ, wie man die Waffe lade, wie man sie abdrücke, wie man die Waffe auf der Stirn oben über dem rechten Auge ansetzen müsse, um bei dem ersten Schuß auch gleich ganz tot zu sein, besonders aber ließ sie sich erklären, wie man die Waffe, nachdem man sie geladen, sichere, und als sie auch das gelernt, überzeugte sie sich davon, daß eine gesicherte Pistole selbst dann nicht losging, wenn man sie gegen die Stirn hielt und abzudrücken versuchte.

Um diese, für sie außerordentlich wichtigen Kenntnisse bereichert, betrat sie nach einer guten Stunde wieder die Wohnung der Mutter, nachdem sie es unterwegs absichtlich vermieden hatte, sich in einer Konditorei satt zu essen, denn je blasser, nein, je grüner sie nachher vor Hunger aussah, desto eher würde ihre Mutter ihr glauben, daß sie ganz fest, aber auch ganz fest entschlossen sei, diesem Leben, das ohne ihren Robert für sie überhaupt kein Leben mehr war, ein Ende zu machen.

Eine weitere Stunde später kam ihre Mutter von ihren Besorgungen aus der Stadt zurück, und nachdem sie ihr Zeit gelassen, Hut und Mantel abzulegen und sich in ihr Wohnzimmer zu begeben, ging sie zu ihr, um ihr ohne jede weitere Einleitung zu erklären: „Ich habe es mir heute nacht überlegt, Mutter, obgleich es nach dem, was ich dir gestern sagte, da für mich eigentlich nichts mehr zu überlegen gab. Nun heißt es: entweder — oder. Entweder willigst du sofort ein, an der Autofahrt teilzunehmen, damit es während der oder gleich nach der zu meiner Verlobung kommt, wofür ich mich dir gegenüber verbürge, oder —”

Und die Fortsetzung dieses Oder-Satzes illustrierte sie dadurch, daß sie vor den Augen ihrer entsetzten Mutter mit einer Geschicklichkeit, als sei sie eine echte Farmerstochter aus dem Kientopp, ihren Browning lud und den, nachdem sie ihn gesichert, mit einer Ruhe und Gelassenheit an die Schläfe setzte, als handle es sich für sie nicht darum, in der nächsten Minute für immer in das Jenseits zu gehen, sondern nur für ein paar Minuten, lediglich um einmal nachzusehen, was da oben die Uhr wäre und was die Leute im Himmel heute für Wetter hätten.

Aber sie kam natürlich und glücklicherweise gar nicht dazu, auch nur den Versuch zu machen, den gesicherten Revolver abzudrücken, denn mit einem Aufschrei, der selbst dann nicht gräßlicher und markerschütternder gewesen wäre, wenn sie sich wirklich bei einem Dorfbarbier ohne jede Betäubung ihre beiden letzten, noch halbwegs gesunden Backenzähne stückweise hätte ausziehen lassen, stürzte ihre Mutter vor ihr auf die Knie, die Tränen stürzten ihr aus den Augen, und ihre Worte überstürzten sich, als sie nun ihr Kind beschwor, die entsetzliche Waffe gleich in den Abort oder sonst wohin zu werfen, wo sie kein Unheil anrichten könne, und während sie ihr weiter schwur, sie würde gern und freudig den ganzen Rest ihres hoffentlich noch langen Lebens mit ihr, ihrem einzigen und geliebten Kinde, in einem Auto zubringen, das selbst dann, wenn dies während der ganzen Zeit nicht eine Minute Halt machen und nicht in der vierten, sondern in der vierzigsten Geschwindigkeit dahinsausen solle. Nur totschießen dürfe sie sich nicht, alles, nur das nicht, und dazu läge ja auch gar keine Veranlassung vor, denn daß sie ihr gestern in der Küche das schöne Abendbrot bereitgestellt, habe doch für sie, ihre geliebte Änne, das Zeichen sein sollen, daß sie ihren Widerstand gegen die Autofahrt längst aufgegeben habe, denn auf die Dauer könne und wolle und würde sie doch nicht dem Glück ihres einzigen Kindes entgegenstehen.

Das schöne Abendessen, das in der Küche auf sie wartete, war also, wenn sie sich im stillen so ausdrücken durfte, der auf Brotschnitten gelegte mütterliche Verlobungssegen gewesen! Das hätte sie gestern abend, nein, heute nacht wissen sollen, dann hätte sie ganz gehörig in den hineingebissen und den nicht einfach stehen- und liegenlassen. Vor allen Dingen aber hätte sie sich dann das Geld für den Browning gespart, und da sie es natürlich voraussah, daß es nicht zum wirklichen Totschießen kommen würde, hätte sie die Waffe am liebsten auch nicht gleich fest gekauft, sondern erst mal zur Ansicht oder zur Probe mit nach Hause genommen, um das Mordinstrument dann am Nachmittag durch das Mädchen mit der Bestellung zurückzuschicken, es täte ihr sehr leid, aber zu ihrem Bedauern hätte sie nach reiflicher Überlegung für den Revolver doch keine Verwendung. Aber als sie dem Waffenhändler nur Andeutungen darüber machte, daß sie die Waffe gern erst mal so mitnehmen möchte, hatte ihr der Verkäufer sofort auf das bestimmteste erklärt: „Nein, Fräulein, darauf kann ich mich nicht einlassen. Das Geschäft geht so miserabel, daß die männlichen und weiblichen Selbstmord­kandidaten noch meine einzige Kundschaft sind, und wenn ich nicht einmal an die gleich fest verkaufen, sondern auch von denen die Waffe zurücknehmen würde. sobald sie ihre Absicht, sich totzuschießen, wieder aufgegeben haben, dann verkaufte ich überhaupt nichts mehr, denn totschießen wollen sich heutzutage viele, aber wirklich totschießen tut sich keiner, und erst recht keine.”

Sie aber hätte sich doch beinahe totgeschossen, denn was dann, wenn der Browning, als sie ihn an die Stirn setzte, nicht ordentlich gesichert gewesen, und wenn der Schuß bei dem Abdrücken richtig losgegangen und wenn die Kugel ihr in das Gehirn gedrungen wäre? Das wäre eine schöne Geschichte geworden, und vielleicht hätte sie dann nicht einmal ein ordentliches christliches Begräbnis mit Glockengeläute bekommen, und doch liebte gerade sie es so, wenn die Glocken bimmelten und bammelten. Allerdings, als Tote in ihrem Sarg hätte sie von den Glocken, selbst wenn die ihr frühes Ende noch so laut beklagten, wohl nicht allzuviel gehört, aber davon ganz abgesehen, war es sehr gut, daß sie noch nicht hatte sterben müssen, schon weil dadurch ihrer guten Mutter die entsetzlichen Gewissensqualen erspart blieben, ihr einziges Kind in den Tod getrieben zu haben.

Sie lebte, sie durfte weiterleben, und namentlich durfte sie nun mit Herrn Winkler, da die Mutter mitfuhr, die Autofahrt machen.

So fiel sie denn der Mutter mit einem Jubelschrei um den Hals, und als die Autofahrt etwa acht Tage später bei dem denkbar schönsten Wetter vor sich ging, da nahm die ihren programmäßigen Verlauf, denn als die drei am späten Abend wieder nach Hause kamen, hatte die Mutter unterwegs nicht mal einen, geschweige den einen dreifachen Herzschlag erlitten, sie selbst aber war glückliche Braut geworden, obgleich das damit nicht ganz so schnell ging, wie sie das eigentlich erhofft und als ganz selbstverständlich erwartet hatte, denn wozu holte ein Herr ein junges Mädchen in seinem eigenen Auto ab, wenn er sich nicht mit ihr verloben wollte? Das hatte sie sich während der Fahrt ein paarmal gefragt, als ihr Robert, wie sie ihn schon im stillen nannte, zu ihrem grenzenlosen Erstaunen zuerst so gar keine Anstalten machte, ihr zu nahe zu treten. Dann aber hatte er plötzlich seinen linken Fuß anstatt auf die Bremse auf ihren rechten Fuß gesetzt, denn natürlich saß sie neben ihm, da man vorn doch viel besser sah, als hinten im Wagen, und da er sie doch auch in die Geheimnisse, selbst ein Auto zu lenken, einweihen sollte. Daß er sie auf den Fuß trat, war ganz gewiß keine Absicht von ihm, und es war auch keine Liebkosung, dazu trat er viel zu energisch, und kaum hatte er sie getreten, da wollte er sich deswegen, wie sie ihm deutlich anmerkte, bei ihr auch entschuldigen, doch dazu ließ sie ihm absichtlich keine Zeit. Noch bevor er auch nur den Mund hätte aufmachen können, trat sie ihn auf den Fuß, und nicht nur das, während sie das tat, schmiegte sie ihr rechtes Knie an das seine, natürlich so leise und so diskret, daß er es kaum spüren konnte und eigentlich auch gar nicht spüren sollte. Und wenn er es wider alles Erwarten doch merkte, sollte er selbstverständlich glauben, diese leichte Berührung sei nur ein Zufall. Und glücklicherweise schien er das auch so aufzufassen. Aber trotzdem, als sich ihre Füße und ihre Knie erst einmal durch einen Zufall gefunden hatten, da fanden sie sich durch den noch ein paarmal weiter, namentlich, als man die Fahrt schließlich unterbrach, um in einem entzückend gelegenen kleinen Wirtshaus ein zwar nur einfaches, aber dennoch sehr lustiges und vergnügtes Mittagessen einzunehmen.

Und als sich ihre Füße und ihre Knie erst gefunden, da fanden sich auch bald ihre Hände zu einem heimlichen verstohlenen Druck, und dann fanden sich auch endlich ihre Herzen, und als die beiden sich erst hatten, da fanden sich auch Gott sei Dank ihre Lippen, und als er sie geküßt, fand er denn auch endlich, endlich die Frage, ob sie fortan nur noch ihn küssen wolle, ihn ganz allein, und ob sie ihm jetzt als seine Braut und später als seine Frau angehören wolle, bis der Tod sie beide dereinst trenne.

Daß er sie fragte, ob sie fortan nur noch ihn küssen wolle, hätte sie ihm eigentlich übelnehmen müssen, denn das hörte sich ja beinahe so an, als glaube er von ihr, sie habe vor ihm schon andere geküßt, oder als vermute er, daß sie auch jetzt noch ein, wenn nicht gar mehrere Kußverhältnisse habe, und deshalb lag es ihr auch für einen Augenblick auf der Zunge, sich gegen seine Bemerkung zu verteidigen. Aber dann unterließ sie es jedoch, denn sonst hätte sie ihn vielleicht schon in dieser ersten Minute des höchsten und des reinsten Glückes belügen müssen, und das wollte sie nicht. Vielleicht waren seine Worte ja auch nur scherzhaft gemeint gewesen. So ging sie denn auch nicht weiter auf die versteckte Anspielung in seiner Frage ein, sondern schwur ihm, wie er es ja auch von ihr erwartete, daß sie nie, niemals einen anderen Mann in ihrem ganzen Leben küssen und lieben werde, als nur ihn, und da sie in dem Augenblick selbst fest daran glaubte, glaubte er es natürlich erst recht und preßte sie als Zeichen seines Dankes für ihre große Liebe so fest und so stürmisch an sich, daß sie froh war, kein Korsett zu tragen, denn sonst hätte er ihr sicher ein paar Korsettstangen in das Fleisch gedrückt.

Mit ihrer schönen schlanken Hand fuhr Änne sich jetzt über die Stirn, sie mußte sich wirklich erst wieder auf sich besinnen, so sehr hatten die Erinnerungen, die da plötzlich in ihr wach geworden, sie der Gegenwart entrückt. Sie mußte sich erst überlegen, in welcher Veranlassung sie denen eben so lange nachhing. Nun aber fiel es ihr wieder ein: richtig, sie war in ihr Zimmer gegangen, um ihren Robert, nein, um diesen Robert zu hassen, und da hatte sie sich von neuem einmal wieder klar gemacht, wie die Liebe zwischen ihnen beiden entstand, und wie sie seine Braut geworden war. Seine Braut! Als wenn er es verdiente, eine solche Braut wie sie zu besitzen.

Ahnte er etwas von den Kämpfen, die sie seinetwegen mit der Mutter ausgefochten? Wußte er etwas davon, wie sie eines Tages seinetwegen gehungert und gedurstet hatte? Ahnte er es auch nur, daß sie sich aus Liebe zu ihm eines Morgens um ein Haar eine Kugel in den Kopf gejagt hätte? Wußte er, daß sie seinetwegen beinahe ohne Glockengeläute und ohne geistlichen Trost, der allerdings wohl mehr ihrer Mutter als ihr gegolten hätte, fast wie ein räudiger Hund auf dem Friedhof der Selbstmörder eingescharrt worden wäre? Und ahnte er auch nur etwas davon, welches große, nein, welches unerhört große Opfer ihre über alles geliebte arme Mutter ihr und damit auch ihm brachte, als sie sich trotz ihres schweren Herzleidens, nur damit er mit ihr, ihrem einzigen, über alles geliebten Kinde, glücklich würde, an der Autofahrt beteiligte? Wußte er etwas davon, daß sie sich den Tod hätte holen können, als sie, von dem wahnsinnigen Hunger gepeitscht, aus dem warmen Bett aufstand und nur mit dem ganz dünnen Nachthemd bekleidet in die beinahe eisig kalte Küche ging, und wußte er, was sie für Höllenqualen gelitten, als sie seinetwegen, nur aus Liebe zu ihm, der Versuchung widerstand, in den mütterlichen Segen, nein, in die wundervoll belegten Butterbrote hineinzubeißen und sich an denen satt zu essen?

Nein, das alles ahnte und wußte er leider nicht, und er würde es auch nie erfahren, denn sie liebte ihn viel zu sehr, hatte ihn wenigstens bisher viel zu sehr geliebt, um über das, was sie in ihrer Liebe zu ihm und aus dieser Liebe heraus für ihn getan und gelitten hatte, auch nur ein Wortzu verlieren. Schon ihr Stolz verbat ihr, ihm jemals davon zu sprechen, denn dann wäre er vielleicht imstande, ihr für das, was sie seinetwegen durchgemacht, zu danken. Aber das wollte sie nicht, denn die wahre Liebe verlangt keinen Dank, die tut das, was sie tut, als etwas ganz Selbstverständliches. Die Liebe ist selbstlos!

Aber trotzdem, wen er auch von alledem nichts ahnte und nichts wußte, und wenn das bis zu einem gewissen Grade, aber auch nur bis zu einem gewissen, zu seiner Entschuldigung diente, hatte er um ihretwillen auch nur den hundertsten Teil dessen erlitten, was sie für ihn erlitt? Er hatte, als er sie zu seiner Braut und zu seiner späteren Frau begehrte, lediglich die Hände nach ihr ausgestreckt und sie sich nach Männerart ganz einfach genommen.

Ach, das Wort war ja leider nicht neu, sonst hätte sie es in diesem Augenblick erfunden, aber so alt es auch war, es blieb leider immer wahr: Die Männer waren die krassesten Egoisten, die man sich nur denken konnte.

Und ihr Robert war der krasseste, wie hätte er es sonst fertiggebracht, ihr, die soviel für ihn getan, um seinem glühenden Wunsch gemäß für immer die Seine werden zu können, wie hätte er es sonst fertig gebracht, ihr mit brutaler Rücksichtslosigkeit die Worte in das Gesicht zu schleudern, nein, nicht zu schleudern, sondern zu schlagen: „Das Geschäft geht vor.” Das hieß doch klar und bündig: „Gewiß liebe ich dich, und ich sehne mich nach der Hochzeitsnacht, in der du mir deinen jungen, schönen, schlanken Körper zum erstenmal geben und schenken wirst, aber trotzdem, geliebte Änne, wenn ich heute vor die Wahl gestellt würde, entweder dich oder mein Geschäft aufgeben zu müssen, dann würde ich mich nicht einen Augenblick besinnen, sondern dir kalt wie eine Hundeschnauze den Laufpaß geben.”

Wie sie ihn haßte, wie glühend sie ihn, den sie einst über alles geliebt, haßte, so heiß und wild, wie sie nie geglaubt hatte, daß sie überhaupt hassen könne.

Und wie würde sie ihn erst morgen hassen, wenn er sein Wort, das Geschäft geht vor, nicht zurücknahm, und wenn er ihr nicht fest versprach, unter allen Umständen mit ihr der ersten Aufführung des „Reigens” in der kleinen verschwiegenen Loge des Theaters beizuwohnen.

Aber nein, sie würde ihn ja morgen glücklicherweise nicht mehr und erst recht nicht noch mehr zu hassen brauchen, denn er gab ja todsicher nach. Ihr fiel ein, daß sie noch ein Paar geradezu märchenhaft schöne hellgraue seidene Strümpfe besaß, die sie hier zufällig einmal in einem Geschäft entdeckte. Selbst ihrer Mutter hatte sie die noch nie gezeigt, schon um der nicht vorlügen zu müssen, sie hätte sie unglaublich billig, für nur fünfundzwanzig Mark, erstanden, während sie in Wahrheit beinahe das Achtfache kosteten. Hätte sie den wirklichen Preis genannt, hätte die Mutter sie natürlich wegen ihrer Verschwendung gescholten, hätte sie ihr aber in der Hinsicht die Jacke, um nicht zu sagen die Bluse, vollgelogen, und hätte die Mutter das hinterher irgendwie wiedererfahren, würde die sie bei ihrer Wahrheitsliebe natürlich auch gescholten haben. Es war ein Elend, man konnte es machen wie man wollte, man machte es leider immer falsch, und es war weiß Gott gar nicht so einfach, durch die Welt zu kommen, ohne beinahe täglich gegen eines der zehn Gebote verstoßen zu müssen. Jawohl, zu müssen, denn man wurde ja geradezu gezwungen, zu sündigen, und diese Erkenntnis, die ihr natürlich erst mit den Jahren gekommen, war wohl schon unbewußt der Hauptgrund gewesen, weshalb sie schon in frühester Jugend in der Schule immer behauptete, es wäre viel besser gewesen, wenn der liebe Gott, oder Martin Luther, oder Moses, oder wer es sonst war, den Menschen nur fünf Gebote beschert hätte. Sie war schon damals dafür gewesen,die fünf anderen ganz einfach abzuschaffen, oder wenigstens nur fünf auswendig zu lernen, aber ihre Mitschülerinnen, diese dummen Gören, hatten sie natürlich nicht verstanden und geglaubt, aus ihr spräche lediglich die Faulheit oder die Unmöglichkeit, die zehn Gebote nicht nur zu lernen, sondern auch zu behalten. Aber je älter sie seitdem geworden, desto klarer und deutlicher hatte sie inzwischen eingesehen, warum sich schon in ihrer Kindheit so vieles in ihr gegen die Tatsache der zehn Gebote auflehnte.

Ja, sie würde morgen die wunderbar schönen grauseidenen Strümpfe tragen und die ganz hoch hinaufziehen, ganz hoch und ganz straff, dann machten sie, wie sie es schon ausprobierte, geradezu herrliche Beine, und wenn sie die dann, sobald sie ihrem Robert gegenübersaß, übereinanderschlug, nachdem sie vorher von ihren kurzen Röcken den allerkürzesten angezogen, und wenn sie zu diesen Strümpfen ihre beinahe noch ganz neuen entzückenden Lackhalbschuhe mit den hohen Absätzen anzog, dann würde sich die Sache schon machen, und daraus, daß sie sich so hübsch und geschmackvoll für ihn kleidete, mußte er doch ersehen, wie lieb sie ihn hatte, und daß sie kein, aber auch gar kein Opfer scheute, um ihm eine Freude zu bereiten. Denn ein Opfer, ein ganz großes Opfer war es, wenn sie die grauseidenen Strümpfe schon morgen anzog. Die hatte sie sich gekauft, um ihrem Robert damit auf der Hochzeitsreise eine Freude und ein Überraschung zu bereiten, damit sie ihm da das Vergnügen bereiten könne, sie zwischen dem oberen Rand der ganz hohen Strümpfe und dem unteren Rand der ganz kurzen Hemdhose auf das Bein zu küssen. Und wenn er ihr dann in seiner Verliebtheit und in seiner angeborenen Gutmütigkeit jeden, aber auch jeden Wunsch freistellte und ihr den schon im voraus bewilligte, da wußte sie ebenfalls schon heute, was sie sich wünschen würde, und zwar einen sehr schönen Ring mit einem Smaragden, denn gerade für diese Steine hatte sie von jeher eine besondere Vorliebe gehabt.

Und wenn sie nun schon morgen die grauseidenen Strümpfe anlegte, verzichtete sie damit freiwillig auf den Smaragden, denn wenn ihr Robert sie zum zweitenmal in denen sah, würde das seine Leidenschaften für sie natürlich nicht in demselben Maße entflammen, als wenn er sie zum erstenmal in denen erblickte.

Na, den Ring würde sie vielleicht doch noch an einem anderen Abend von ihm als Geschenk erhalten, aber vorläufig würde sie auf den verzichten müssen, denn die Wünsche, die sie für die verschiedenen Abende der Hochzeitsreise frei hatte oder frei haben würde, waren alle schon auf das Genaueste berechnet und sogar in einem kleinen Notizbuch vorgemerkt, damit sie da nicht etwa eine Dummheit machte und die Wünsche nicht in der falschen Reihenfolge äußere. Die teuersten kamen natürlich an den ersten Abenden daran, und je länger die Reise dauerte, desto bescheidener wollte, nein desto bescheidener mußte sie leider werden, denn das war, nach allem, was sie von verheirateten Freundinnen darüber gehört, ja leider das Traurige in der Ehe oder wenigstens an den Männern, daß denen schon am zwanzigsten oder dreißigsten Abend der Verkehr mit der ihnen standesamtlich und kirchlich angetrauten Frau kein Ereignis mehr war, dem sie den ganzen Tag hindurch freudig erregt entgegenfieberten, sondern daß es ihnen schon dann weiter nichts mehr war als Gewohnheit oder eine ihrer ehelichen Pflichten.

Ach ja, es mochte wohl oft schwer sein, verheiratet zu sein, schon weil die wenigsten Männer etwas von der ganz großen Liebe ahnten, die die Frauen ihnen entgegenbrachten und die wenigsten ahnten es wohl auch kaum, wie wahnsinnig schwer es einem jungen Mädchen wurde, ihre Scham und ihre Scheu zum erstenmal zu überwinden und sich einem Mann, selbst wenn sie ihn noch so liebte, hinzugeben.

Aber heiraten wollte und würde natürlich auch sie. Und wenn sie ihrem Robert dadurch, daß sie vorläufig auf den Smaragdring verzichtete, ein ganz großes Opfer brachte, schon weil sie im Augenblick bei dem besten Willen noch nicht wußte, ob sich schon während der Hochzeitsreise der Wunsch nach dem Ring vielleicht doch noch an einem Abend zwischen den vielen anderen Wünschen werde einschieben lassen, die grauseidenen Strümpfe zog sie trotzdem morgen schon zum ersten Male an.

So sah sie denn den kommenden Ereignissen des morgigen Tages voller Ruhe und voller Siegesgewißheit entgegen, und als es morgen geworden war, da putzte und schmückte sie sich für ihren Robert vom Kopf bis zu den Füßen so schön und so raffiniert verführerisch, wie sie es nur vermochte. Aber alles war vergebens, denn nur zu schnell mußte sie einsehen, daß sie sich alle Mühe und Anstrengungen hätte sparen und namentlich, daß sie sich um ihre wunderhübschen Beine ebensogut dicke Ledergamaschen hätte wickeln und binden können, anstatt sie in das dünne seidene Gewebe zu hüllen.

Und dabei hatte sie, als ihr Robert zur verabredeten Stunde, noch dazu mit einem verhüllten Gegenstand in der Hand, bei ihr erschien, geglaubt, ihm ansehen zu dürfen, er sei entschlossen, sich von ihr umstimmen zu lassen, sie um Verzeihung zu bitten, ihretwegen die Reise aufzugeben und ihr als Versöhnungsgeschenk das zu überreichen, was er da in seinen Händen hielt.

Aber leider deutete sie sich den Ausdruck in seinen Zügen ganz falsch, denn warum machte er ein so frohes Gesicht? Warum glaubte er, daß auch sie sehr bald vor Vergnügen strahlen würde? Einzig und allein, weil es ihm gelungen war, die beiden Billetts für die Reigenvorstellung, für die er selbst zweihundert Mark bezahlt hatte, auf der Börse an einen Bekannten, der unter allen Umständen, ganz einerlei zu welchem Preise, händeringend zwei Billetts suchte, für vierhundert Mark weiter zu verkaufen, so daß er also glatt zweihundert Mark verdient hatte.

Es hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre bei dieser Schreckensbotschaft, die mit einem Schlage auch ihre letzten Hoffnungen vernichtete, nicht nur in eine fingierte, sondern in eine wirkliche Ohnmacht gefallen, obgleich ihr Ohnmachts­anfälle eigentlich nicht lagen, und obgleich sie sich schon längst vorgenommen hatte, auch während ihrer Ehe nicht an solchen zu leiden, nicht nur, weil sie das veraltet und geschmacklos fand, sondern weil es für eine Frau doch noch ganz andere und namentlich für beide Teile viel reizvollere Mittel und Wege gab, um ihren Willen und ihren Wunsch bei dem Mann durchzusetzen.

Nein, sie fiel nicht in Ohnmacht, wohl aber hätte sich ihr beinahe ein Wort über die Lippen gedrängt, das er ihr aber sicher so leicht nicht verziehen hätte, und deshalb schluckte sie es im letzten Augenblick doch noch lieber wieder herunter, zumal sie aus den Erzählungen verheirateter junger Freundinnen wußte, daß eine junge Frau es erst lernen müsse, so vieles, was sie früher nie für möglich gehalten, ruhig herunterzuschlucken. Je eher man also mit dem Lernen und dem Schlucken anfing, desto besser war es, und was hätte ihr Robert wohl auch gesagt, wenn sie ihm wirklich voller Verachtung und Geringschätzung das Wort „schäbiger Koofmich” in das Gesicht geschleudert hätte. Denn so waren die Männer ja leider nun mal: sie selbst sagten ihren Bräuten und ihren Frauen die empörendsten Dinge, „das Geschäft geht vor” und ähnliches, mit der größten Kaltblütigkeit. Aber wenn den bis auf das Blut gequälten und gepeinigten weiblichen Geschöpfen dann auch einmal die Galle überlief, wenn sie dann auch einmal ihrem Herzen mit einigen, oder wie sie es so gern getan hätte, auch nur mit zwei Worten Luft machten, dann war damit zuweilen gleich das Unglück fertig, denn es gab ja Männer, die so gemein waren, daß sie häufig nur auf die erste beste Gelegenheit warteten, um eine Verlobung wieder rückgängig machen zu können.

Heiraten aber wollte man als junges Mädchen nun doch, besonders wenn man schon verlobt war, aber es war und es blieb traurig, daß man zu der Ehe einen Mann brauchte.

Ihr Robert hatte die Billetts tatsächlich weiter verkauft, ohne es erst abzuwarten, ob die Geschäftsreise nach Berlin nicht aus irgendeinem Grunde im letzten Augenblick vielleicht doch noch verschoben würde, und er hatte an dem Geschäft zweihundert Mark verdient, aber obgleich sie ihn auch weiterhin in ihrer leicht begreiflichen Erregung einen schäbigen Koofmich nannte, ganz so schäbig schien er doch nicht zu sein, denn wie er ihr nun weiter erzählte, hatte er natürlich nicht einen Augenblick daran gedacht, die zweihundert Mark für sich zu behalten, sondern hätte sich gleich gesagt: für das Geld kaufst du deiner Änne etwas.

Als wenn man heutzutage für zweihundert Mark überhaupt etwas kaufen könne, dachte sie in ihrer leicht begreiflichen Erregung gekränkt und beleidigt. Ja, wenn er die zweihundert Mark, die er doch schon für die Billetts verausgabte, zu den verdienten zweihundert hinzugelegt und die ersten zweihundert Mark nicht wieder in seine Brieftasche gesteckt hätte, dann wären es schon vierhundert gewesen, und für diesen Betrag würde er vielleicht irgendeine ganz kleine Kleinigkeit bekommen haben, die ihr unter anderen Umständen eine kleine Freude bereitet hätte. Aber für zweihundert Mark bekam man doch wirklich nichts, und was lag ihr heute in der Wut, nein, in der Haßstimmung, in der sie sich befand, überhaupt an einem Geschenk? Sie wollte doch nichts geschenkt haben, sondern sie wollte mit ihm in das Theater, sie wollte, daß er das entsetzliche Wort, das Geschäft geht vor, zurücknähme, und ganz besonders wollte sie sich heute für ihn nicht umsonst so entzückend angezogen haben. Nun kam sie gar nicht in die Lage, sich nachher ganz dicht und ganz zärtlich an ihn zu schmiegen und ihm in das Ohr flüstern zu können: „Du, Robert, wenn du wüßtest, wie hübsch ich mich heute für dich gemacht habe, nicht nur in dem, was du siehst, sondern erst recht in dem, was du leider Gott sei Dank heute noch nicht sehen darfst.” Nun war ihr selbst die Freude, ihm eine ganz große Freude bereiten zu können, genommen, und das war doch eigentlich der schwerste Schlag, der sie jetzt traf.

Und anstatt ihm eine große Freude zu bereiten, wollte er nun versuchen, ihr eine kleine zu machen und begann jetzt endlich das Paket, das er mitgebracht, auszuwickeln, und während er wickelte, sprach er davon, er hoffe, daß seine kleine Gabe außer seinen vielen Küssen, die er ihr geben würde, dazu beitragen möge, ihr die kleine Enttäuschung, daß sie nun ganz bestimmt nicht in das Theater käme, etwas zu versüßen.

Wenn er bei dieser Gelegenheit nur nicht auch von seinen Küssen gesprochen und wenn er nur nicht das fürchterliche Wort „versüßen” gebraucht hätte, denn als er nun das Paket ausgewickelt und ihr einen Kasten der schönsten Pralinés überreichte, für die sie, wie er natürlich wußte, schon von Kindheit an eine ganz große Vorliebe besaß, da fiel ihr plötzlich wieder eine kleine Episode aus ihrer Backfischzeit ein, als sie sich einmal, wenn selbstverständlich auch nur bis zu einem gewissen Grade, für eine ebenso große Schachtel Pralinés, die damals aber nur zwanzig Mark kostete, an einen jungen Verehrer verkaufte. Er hieß Fritz Bergmann, und sie fand ihn einfach ekelhaft, schon weil er mit seinen brandroten Haaren und mit seinen vielen Sommersprossen im Gesicht mordshäßlich war. Aber er liebte sie, er liebte sie wahnsinnig, er machte jeden Tag ein neues Gedicht auf ihre Beine und auf ihre sonstigen körperlichen Reize, er liebte sie so, daß er darüber ganz krank und melancholisch wurde, bis er eines Tages auf der Eisbahn absichtlich zu ihren Füßen niederfiel und sie beschwor, sich einmal, nur ein einziges Mal, dann aber auch feste und gründlich, von ihm küssen zu lassen. Und noch bevor sie in ihrer Empörung auch nur ein Wort der entschiedensten Ablehnung über ihre Lippen hätte bringen können, fuhr er schnell fort: „Ich verlange deine Küssen auch nicht umsonst, Änne. Ich weiß, daß du für dein Leben gern Pralinés ißt, und ich will, wenn du mir meinen Wunsch erfüllst und wenn du ganz still hältst, solange ich dich küsse, dann will ich dir den schönsten Kasten mit Pralinés schenken, den es bei dem Konditor Nissen nur gibt. Ich habe mich bereits erkundigt, er kostet zwanzig Mark. In meiner Sparkasse habe ich siebzehn und woher ich die anderen drei nehme, weiß ich auch schon. Ich habe eine alte Weste, die ich bereits einem Trödler angeboten habe. Er will mir drei Mark dafür geben, vorausgesetzt, daß ich sie ihm bald bringe und nicht erst, wenn sie noch mehr abgetragen ist. Also, Änne, wie denkst du? Ich darf dich so oft küssen, wie ich will, und dafür bekommst du vom Konditor Nissen den größten und den schönsten Kasten Pralinés, also bitte sag ja.”

Aber so sehr sie die Süßigkeiten auch liebte und so riesengroß die Versuchung auch lockte, obgleich dieser Fritz Bergmann wirklich ein ihr im höchsten Grade ekelhafter Bengel war, so ohne weiteres hatte sie natürlich nicht ja gesagt. Erst mußte die Anzahl der Küsse, die er ihr geben wollte, ganz genau festgesetzt werden, denn der Begriff „so oft ich will” war viel zu dehnbar. Da mußte sie ja auch stillhalten und durfte ihn nicht von sich stoßen, wenn er ihr tausend oder gar zweitausend Küsse gab. Bis sie sich schließlich nach langen Unterhandlungen auf fünfundzwanzig einigten. Sie selbst hatte sich eigentlich nur auf zwanzig einlassen wollen, für jede Mark, die der Kasten kostete, einen Kuß, aber auf seine flehenden Bitten hin, mehr aber noch, weil ihr nichts anderes übrig blieb, wenn das Geschäft, denn etwas anderes war das Ganze doch nicht, sich nicht zerschlagen sollte, gab sie noch fünf Küsse drauf. Doch auch dann wurde noch nicht gleich geküßt. Zunächst ging sie zu dem Konditor Nissen und sah sich unter dem lügenhaften Vorwand, sie beabsichtige demnächst einer Freundin zum Geburtstag damit eine Freude zu machen, erst mal den Kasten mit Pralinés, für den sie ihren Mund verkaufen sollte, sehr genau an. Und nicht nur das, sie erhielt die Erlaubnis, aus dem Kasten zwei große gefüllte Bonbons kosten zu dürfen. Und die schmeckten! Ach, die schmeckten einfach wundervoll, herrlich, nach noch viel mehr. Und deshalb erkundigte sie sich auch, wieviel Bonbons denn eigentlich in dem Kasten wären, und als die Verkäuferin anfing, ihr die vorzuzählen, zählte sie auf das gewissenhafteste mit, bis sie bei dem Verlassen des Ladens erklärte: sie sei so gut wie fest entschlossen, den Kasten in einigen Tagen zu kaufen. Entweder würde sie ihn selbst abholen, oder ihn abholen lassen, einstweilen möchte er für sie zurückgestellt werden.

Und er wurde zurückgestellt, aber vorläufig noch nicht abgeholt, denn zwischen ihr und dem ekelhaften Fritz entstand im letzten Augenblick eine neue ganz schwere Streitfrage. Sollte sie sich erst fünfundzwanzigmal küssen lassen und dann die Süßigkeiten erhalten oder umgekehrt? Sie selbst war für das Umgekehrte, erst das Geld und dann die Ware. Aber er vertrat den Standpunkt, erst die Ware und dann das Geld. An und für sich wäre ihr das ja schließlich ziemlich gleichgültig gewesen, aber wer konnte wissen, ob er ihr nicht im letzten Augenblick mit dem Kasten Pralinés durchging und den entweder überhaupt nicht für sie kaufte oder die Süßigkeiten selber aufaß? Alle Jungens waren ja so gemein, und warum sollte da ausgerechnet dieser ihr so ekelhafte Fritz Bergmann in der Hinsicht eine rühmliche Ausnahme machen? Aber wenn sie ihm nicht traute, hatte er schließlich auch recht, wenn er ihr ebenfalls nicht traute, sondern ihr erklärte: „Was dann, wenn ich dir den Kasten im voraus schenke, wenn du mir mit dem davonläufst und wenn du mir im Davonlaufen womöglich noch deine kleine sehr hübsche Zunge ausstreckst? Da müßte ich hinter dir herlaufen und wenn ich dich eingeholt, könnte ich dich für deine bodenlose Gemeinheit nicht einmal verprügeln, denn du bist doch leider kein Junge.”

Schließlich hatten sie sich dahin geeinigt, daß er ihr ein Viertel der in dem Kasten befindlichen Bonbons in einer Tüte als Anzahlung übergäbe, aber sie hatte ihm schwören müssen, die nicht gleich aufzuessen, denn er wollte von ihren Lippen doch den frischen natürlichen Geschmack kosten und nicht den widerlich süßen, den die Bonbons zurücklassen würden.

Und auf Grund dieses Handelsvertrages, dessen gewissenhafte Innehaltung und Erfüllung sie sich gegenseitig mit Wort und Handschlag gelobten, hatte sie sich denn auch von ihm küssen lassen. Es war für sie schrecklich gewesen, entsetzlich schrecklich, schon weil er zwischen den einzelnen Küssen immer eine so lange Pause machte, während sie die doch am liebsten alle möglichst schnell nacheinander hingenommen hätte, schon um desto eher auch den Rest des Kaufgeldes im Empfang nehmen zu können. Aber so schrecklich diese Küsse auch für sie waren, sie hatte sich die eigentlich noch schlimmer gedacht, denn als er endlich bei dem zwanzigsten Kuß angelangt war, da hatte sie selbst an der Sache fast so etwas wie Geschmack gefunden, und im stillen tat es ihr beinahe leid, daß er nicht darauf bestanden hatte, ihr statt der fünfundzwanzig Küsse dreißig geben zu dürfen.

Aber kaum hatte sie sich das gesagt, da zeigte sich, wie gemein, nein, wie bodenlos gemein dieser Fritz Bergmann war, genau so gemein, wie jeder andere Junge und genau so, wie sie an seiner Stelle vielleicht auch gewesen wäre, denn als sie bei dem dreiundzwanzigsten Kuß angekommen waren, den er ihr leider ebensowenig wie die vorhergegangenen laut vorgezählt hatte, behauptete dieses Scheusal plötzlich, nun kämen noch sieben, denn eben wäre es der achtzehnte gewesen, und als sie das auf das Energischste bestritt, erklärte er ebenso energisch, sie müßten sich entweder über den Punkt in Güte einigen oder sie müßten noch einmal ganz von vorn anfangen. Und dann könnten sie ja beide laut zählen oder jeder von ihnen beiden könne einen Bleifederstrich in sein eigenes Notizbuch machen.

Aber sie hatte natürlich kein Notizbuch bei sich, und was hätten ihr die Striche auch genützt, hinterher hätte er ja doch behauptet, sie hätte ein paar Striche zuviel gemacht. Ganz von vorn wollte sie aber mit den Küssen natürlich auch nicht wieder anfangen, und so einigten sie sich denn in Güte dahin, daß der achtzehnte Kuß der neunzehnte gewesen sei, bis die Küsserei dann endlich mit dem fünfundzwanzigsten ihr Ende fand. Aber trotzdem noch nicht das allerletzte Ende, denn als er ihr zur Belohnung und als Dank den in schönes Seidenpapier gewickelten Kasten überreichte, und als sie den auswickelte, um sich davon zu überzeugen, ob in dem überhaupt was drin sei, weil sie es leider am Anfang verabsäumt hatte, sich davon zu überzeugen, und weil man doch nie wissen konnte, welcher Gemeinheit ein Junge seines Alters fähig sei, da harrte ihrer eine große freudige Überraschung. Der Kasten war nicht nur nicht leer, sondern er war sogar ganz voll. Nicht einmal den vierten Teil der Pralinés, die er ihr als Anzahlung gab, hatte er aus dem herausgenommen, sondern er hatte die extra gekauft und bezahlt, bevor er sich die in eine Tüte stecken ließ.

Und das rührte sie so, daß ein Wunder geschah, ein Wunder, das sie noch vor wenigen Minuten nie und nimmer für möglich gehalten hätte. Sie erlaubte ihm nicht nur, ohne daß er sie darum gebeten hätte, sie noch fünfmal zu küssen, sondern sie küßte ihn sogar fünfmal, oder war es nicht noch öfter, wieder, während sie die fünfundzwanzig Küsse, die er ihr gab, natürlich nur geduldet hatte. Es war spät, sehr spät, als sie an dem Abend endlich wieder nach Hause kam, um ihrer Mutter zu erzählen, es wäre bei ihrer Freundin Ella entsetzlich stumpfsinnig gewesen, denn die hätte den verrückten Gedanken gehabt, sie alle, die bei ihr waren, sollten Minna von Barnhelm mit verteilten Rollen lesen, und die hätte ihren blödsinnigen Wunsch auch durchgesetzt. Daher wäre es heute so spät geworden und dabei hätten sie doch nur die ersten drei Akte fertig bekommen. Aber zu den beiden anderen ginge sie bestimmt nicht, die könnten Ella und die Freudinnen ohne sie genießen, wenigstens glaube sie heute noch nicht, daß sie jemals wieder für einen derartigen langweiligen Abend zu haben sei. Na, aber vielleicht würde sie später, wenn sie sich erst von dem heutigen Schrecken erholt, darüber noch anders denken, das bliebe abzuwarten. Vorläufig sei sie todmüde und wolle sich gleich hinlegen. Gute Nacht.

Doch wenn sie sich auch gleich hinlegte, sie war noch lange nicht eingeschlafen, denn als sie und Fritz Bergmann sich trennten, war er von den Küssen, die sie ihm gab und wohl auch von denen, die er ihr hatte geben dürfen, so berauscht gewesen, daß er ihr sagte, er werde gleich morgen einmal nachsehen, ob er nicht noch eine Weste oder sonst irgend etwas habe, das er verkloppen könne und wenn — dann . . .

Und lange hatte sie noch im Bett darüber nachgedacht, ob er wohl noch etwas zum Verkloppen, wie er es nannte, finden würde und ob sie, wenn er noch etwas fände, sich noch einmal auf einen solchen Handels­kußvertrag mit ihm einlassen solle.

Aber er schien nichts gefunden zu haben, denn er war ihr nie wieder mit einem neuen Kußanerbieten gekommen, und das war eigentlich schade, denn sie aß doch Süßigkeiten für ihr Leben gern.

Diese Jugenderinnerung schoß ihr, als ihr Robert ihr mit dem großen Kasten Pralinés in der Hand gegenüberstand, blitzschnell durch den Kopf, und obgleich sie ihren Robert heute noch viel mehr haßte als gestern, sah sie dennoch ein, daß es unrecht von ihr war, an Fritz Bergmann zurückzudenken, denn sie war nun doch verlobt, und da mußte alles, was der Vergangenheit angehörte, für sie erloschen und erstorben sein. Aber vergessen konnte, durfte und würde sie den Fritz natürlich trotzdem niemals, denn er war der Erste, von dem sie sich fünfundzwanzigmal nach der Reihe küssen ließ, und vergessen konnte, durfte und würde sie den Fritz auch schon deshalb nicht, weil auch er, wie sie ganz zufällig erfahren, in dem schrecklichen Kriege sein junges Leben hatte lassen müssen. Auch er war für sie alle in der Heimat und damit auch für sie gestorben, und von all den Unzähligen, die der Heimat und damit auch ihr dieses Opfer brachten, war er der Einzige, der für sie seine Weste verkloppte. Und schon deshalb konnte, durfte und würde sie ihn, gerade ihn, niemals vergessen.

„Ja, freust du dich denn gar nicht über die schönen Pralinés, Änne?” erklang da in ihre Erinnerung hinein die Stimme ihres Roberts.

Ob sie sich freute? Am liebsten hätte sie ihm den Kasten aus der Hand gerissen und vor die Füße geworfen. Wie konnten ihr die Pralinés wohl ein Ersatz für die weiterverkauften Theaterbilletts sein, und wie konnten die ihr auch nur eine Minute die entsetzliche Enttäuschung, die sie heute erlebte, versüßen? Ganz abgesehen davon, daß sie sich für den Kasten mit Pralinés doch ganz gewiß nicht die entzückende kleine Hemdhose und die märchenhaft schönen grauseidenen Strümpfe angezogen hatte. Ja, wenn er ihr gesagt hätte: ich bringe dir die Bonbons mit, damit du die an meiner Seite in der Theaterloge naschst und damit du dich an denen erquickst, ja, dann hinge sie schon lange an seinem Hals und würde sich dicht, nein ganz dicht an ihn schmiegen und ihn so heiß und so wild und dabei doch so keusch küssen, wie nur sie nach ihrer Ansicht zu küssen verstand. Und dabei hatte sie doch vorläufig im Küssen noch gar keine Übung und Erfahrung, denn das ganz richtige Küssen lernte man, wie so vieles andere, ja erst in der Ehe.

Allerdings erinnerte sie sich auch, aus dem Munde einer jungverheirateten Freundin die Klage gehört zu haben: „Alles, was ich als junges Mädchen auf dem Gebiet des Küssens lernte, habe ich in meiner Ehe, obgleich ich erst ein halbes Jahr verheiratet bin, bereits wieder verlernt, denn mein Mann ist, ganz unter uns gesagt, in mancher Hinsicht ein entsetzlich langweiliger Trottel.”

„Freust du dich denn wirklich gar nicht über die schönen Pralinés?” erklang da die Stimme ihres Verlobten zum zweitenmal, und da wußte sie, auch ihr Robert war in mancher Hinsicht ein entsetzlich langweiliger Trottel. Um das zu erfahren, brauchte sie ihn nicht erst zu heiraten, denn wenn er kein Trottel wäre, hätte er eben nicht schon zum zweitenmal dieselbe dumme und alberne Frage an sie gestellt, sondern hätte es abgewartet, bis die Freude über sie gekommen und bis sie ihm die ganz von selbst, ohne zu der gewissermaßen gezwungen zu werden, gezeigt hätte.

Freuen mußte sie sich, das sah sie schließlich ein, denn die Männer schenken im Gegensatz zu einer Frau, oder im Gegensatz zu einem jungen Mädchen, ja nicht, um an dem Schenken in erster Linie selbst eine Freude zu haben, sondern sie wollen die gleich à tempo bei dem Beschenkten sehen. Da soll die aufflammen und emporlodern wie ein Scheiterhaufen, den man, bevor man ihn anzündete, mit Pech und Öl übergoß.

Alle Männer waren doch wirklich unerhörte krasse Egoisten, und es war eigentlich mehr als traurig, daß man einen solchen auch noch heiraten mußte, nur um einen Mann zu bekommen.

Aber soviel wußte sie, wenn sie den heutigen Tag und den Weiterverkauf der Reigenbilletts überhaupt je vergessen sollte, dann würde es lange, lange dauern, bis sie es täte, und sie würde später in ihrer Ehe mehr als einmal an die heutige große Enttäuschung, die sie durchmachen mußte, zurückdenken. Das allerdings in so geschickter Weise, daß ihr Mund natürlich nichts von dem verriet, was ihre Gedanken beschäftigte, so daß ihr Robert sich dann stundenlang den Kopf zerknacken konnte, um selbst die Antwort auf die dumme alberne Frage zu finden: „Aber Liebling, was hast du denn nur?”

Als wenn ein Liebling nicht immer etwas hätte oder nicht wenigstens gern etwas haben möchte.

Und dann wußte sie schließlich noch eins: wenn sie nicht schon alle Wünsche, die sie an den Abenden der Hochzeitsreise äußern wollte, bevor sie ihm erlaubte, sie oberhalb des Knies, zwischen dem oberen Rand der langen Strümpfe und dem unteren Rand der kurzen Hemdhose zu küssen, wie gesagt, wenn sie sich alle diese Wünsche nicht schon seit Wochen ausgedacht hätte, und wenn es nicht schade um die drauf verwandte Zeit und Mühe wäre, dann würde sie die Hemdhose gleich heute abend in tausend Fetzen zerreißen und diese natürlich später gar nicht erst auf die Hochzeitsreise mitnehmen, denn er verdiente es nicht, daß sie die auch nur ein einziges Mal für ihn anzog.

Da merkte sie ihrem Robert an, daß er Anstalten machte, sie zum drittenmal zu fragen: Ja, freust du dich denn wirklich gar nicht über den Kasten mit den schönen Pralinés? Und da ihr zu tun nichts anderes übrig blieb, wenn sie ihn nicht vielleicht ernstlich verstimmen und erzürnen wollte, denn die Männer waren ja leider Gottes alle empfindlich wie die zarten Mimosen, freute sie sich nun plötzlich, und da es ja gewissermaßen ein Aufwaschen war, freute sie sich auch darüber, daß es ihm gelungen war, die Billetts so schnell mit Vorteil weiterzuverkaufen, und da es auf einen Möbelwagen voll erheuchelter Freude mehr oder weniger nun ja auch nicht ankam, freute sie sich auch für ihn, daß seine geschäftliche Reise nach Berlin, von der er ihr gestern gesprochen, nun noch sicherer und bestimmter zu sein scheine, als er es ihr gestern angedeutet habe, und da man als anständiger Mensch ja nun einmal, ohne zu lügen, nicht durch die Welt kam, freute sie sich auch gleich heute seinetwegen über das glänzende Geschäft, das er hoffentlich, nein wohl sicher, in Berlin machen würde.

Sie freute sich so, daß ihr hübsches Gesicht wie eitel Sonnenschein strahlte und daß er, leider, nicht müde wurde, ihren entzückenden und verführerischen Mund zu küssen, bis es dann Gott sei Dank leider für ihn endlich Zeit wurde, sich für heute von ihr zu verabschieden.

Dann aber eilte sie in ihr Zimmer und schloß die Tür hinter sich ab und haßte ihren Robert noch viel viel mehr, als sie ihn gestern haßte. Ja, sie haßte ihn, daß ihr Haß von gestern ein reines Kinderpiel gegen den von heute war, und während sie ihn haßte, daß ihr dabei beinahe körperlich mies und elend wurde, und während sie fühlte, daß ihr bei diesem Haß die Galle rebellisch ward, fragte sie sich immer wieder: wie ist es nur möglich, daß du gegen deinen Robert einen Haß hegen kannst, der nicht nur so leidenschaftlich, sondern der auch so echt ist, wie das allerreinste Gold dieser Welt?

Darauf fand ie trotz allen Nachdenkens keine Antwort und da sie ohnehin von dem Hassen gerade genug Kopfschmerzen hatte, nahm sie nun, um sich zu zerstreuen, ein Buch, das neben ihr auf einem kleinen Tisch lag, in die Hand und blätterte in dem herum, bis ihre Augen sich immer mehr weiteten und plötzlich auf einer fettgedruckten Stelle haften blieben, die da lautete: „Hassen, wirklich hassen kann nur der, der auch einer ganz großen Liebe fähig ist.

Es gibt nur einen Haß, der wahr und echt und groß ist, das ist der, der der Liebe entspringt, und der ebenso wie die Eifersucht nichts anderes, als gekränkte oder als nicht erwiderte Liebe ist.

Jedem Haß liegt die Liebe zugrunde, und zwar ist die Liebe um so größer, je weniger man sich die in seinem Haßgefühl eingestehen will.”

Diese Worte las sie viele, viele Male, und als sie die gelesen und geistig verdaut hatte, da wurde es endlich Tag in ihr, da fiel ihr die Binde von den Augen, da sah sie ganz klar und mit einemmal wußte sie, warum sie ihren Robert so jeder Beschreibung spottend entsetzlich haßte: nicht, weil er nach Berlin fuhr; nicht weil sie nun nicht in die erste Vorstellung des „Reigen” konnte, auf die sie sich so schrecklich gefreut; nicht, weil er die Billetts gleich weiterverkauft hatte, ohne es erst abzuwarten, ob seine Reise nicht vielleicht doch im allerletzten Augenblick noch ins Wasser fallen würde; nicht, weil er sich so gefreut hatte, bei dem Billettverkauf zweihundert Mark zu verdienen; nicht, weil er ihr dadurch seine kleinliche Koofmichs­gesinnung verriet; nicht, weil er ihr den Kasten Pralinés schenkte und sich allen Ernstes einbildete, der könne ihr die große Enttäuschung versüßen — nein, deshalb haßte sie ihn nicht so heiß und glühend, und es wäre ja auch mehr als dumm und lächerlich gewesen, ihn wegen solcher unbedeutenden Kleinigkeiten auch nur einen halben Augenblick hassen zu wollen.

Nein, deshalb haßte sie ihn ganz bestimmt nicht, sondern sie haßte ihn einzig und allein – – aus Liebe.


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© Karlheinz Everts