Erzählung von Freiherrn v. Schlicht.
in: „Hamburger Fremdenblatt” vom 29. und 30.Sept. 1896 und
in: „Point d'honneur”.
In dem Herrenhause des adeligen Gutes Danneberg herrschte fieberhafte Thätigkeit. Geschäftig eilten Diener und Mädchen hin und her, um die im oberen Stockwerke gelegenen beiden Fremdenzimmer — Wohn- und Schlafzimmer — herzurichten, und die Herrin des Schlosses wachte mit scharfem Blick darüber, daß die Anordnungen, die sie gegeben hatte, um die Zimmer so traulich und gemüthlich wie nur denkbar einzurichten, bis auf das Kleinste befolgt wurden. Sie selbst rückte hier einen Sessel, dort eine Decke zurecht, sah in der Schlafstube nach, ob die Kanne und die Caraffe voll Wasser gefüllt wären und tadelte den Diener, daß er, obgleich es ihm nun mindestens schon ein Dutzend Mal gesagt worden sei, trotzdem den silbernen Leuchter auf dem Nachttisch noch immer nicht geputzt habe.
„Was soll der junge Herr denn nur denken?” fragte sie, dem Sünder das corpus delicti vor die Augen haltend, und mehr von dem Bestreben geleitet, den Beifall und die Anerkennung des jungen Herrn zu finden, als aus Furcht vor dem Unwillen seiner Herrin, zog sich der Diener mit dem Stein des Anstoßes in seine Silberputzkammer zurück.
„Komme elf Uhr zwanzig Minuten mit dem Schnellzug” hatte das Telegramm gelautet, das der Bote vor kaum einer Stunde gebracht hatte. Eine Unterschrift hatte gefehlt — aber aus der entfernten Residenzstadt, die zugleich Garnison war, konnte doch Niemand anders sein Kommen so lakonisch anzeigen, als ihr Sohn Otto, der dort als Secondelieutenant bei dem vornehmsten Cavallerie–Regiment stand.
„Der junge Herr kommt!” Mit Windeseile hatte sich die Nachricht verbreitet und überall Freude hervorgerufen. Im Gegensatz zu seinem Vater, der trotz seiner Herzensgüte oft herrisch und hochmüthig war, erfreute sich der Sohn wegen seines leutseligen, offenen und feinen Wesens überall einer großen Beliebtheit. Für jeden der Arbeiter, der ihm begegnete, hatte er ein freundliches, heiteres Wort, wenn er auf dem Felde den Arbeiten zusah, für Alle ein Wort des Lobes und der Anerkennung, für die Kranken ein Wort des Trostes und eine stets offene Hand. Gar mancher Arbeiter, dem der Vater in leicht aufbrausendem Jähzorn wegen einer geringfügigen Ursache gekündigt hatte, verdankte seiner Vermittlung, daß er sich noch in Stellung befand und nicht mit den Seinen der Noth preisgegeben war.
Die größte Freude herrschte natürlich im Elternhause. Seit mehr als einem Jahr war er nicht zu Haus gewesen, der Dienst hatte ihn stets daran gehindert, seine Reisepläne auszuführen, und noch vor vierzehn Tagen hatte er geschrieben: „Auch in diesem Jahr wird es Nichts mit dem Urlaub werden, zu viele Officiere sind abcommandirt, so daß wir Wenigen, die wir noch in der Front sind, bei dem Dienst nicht entbehrt werden können. Ach, ich möchte so gern einmal ausspanen, mit Dir, mein lieb' Mutting, einmal wieder durch Hof und Garten, mit dem Vater durch Wald und Feld schweifen!”
Und nun kam er doch.
„Wie mich Das für den Jungen und für uns freut, daß er endlich einmal eine Zeitlang Ruhe hat!” hatte der alte Baron zu seiner Gattin geäußert, „aber Das ist es nicht allein: ich sehe es unter den von Otto in seinem letzten Brief geschilderten dienstlichen Verhältnissen als eine Anerkennung, als eine Belobigung für ihn an, daß er jetzt Urlaub bekommt. Nun wollen wir ihn aber auch pflegen und päppeln, Mutter,” und brummend hatte er hinzugesetzt: „der alte Rheumatismus hätte sich zu seinem Besuch bei mir auch wirklich eine gelegenere Zeit aussuchen können, als gerade jetzt. Nicht einmal zur Bahn kann ich hinfahren! — Mutter, willst Du nicht für mich mitfahren?”
Aber die Mutter hatte den Vorschlag abgelehnt, es gab ja noch so viel zu thun im Haus, und dann hatte sie eine ausgesprochne Abneigung gegen alle Abschieds- und Begrüßungsscenen auf dem Bahnhof, wo jedes Wort, das man spricht, jede Zärtlichkeit, die man erweist oder erfährt, neugierigen Augen und Ohren preisgegeben ist.
So war der Kutscher denn allein gefahren, und nun standen die Eltern am Fenster und sahen hinaus auf den Hofplatz, ob der Wagen denn immer noch nicht käme.
Endlich bog das mit zwei feurigen Juckern bespannte leichte Gefährt auf das Gut ein und wenige Secunden später hielten Vater und Mutter den Sohn umschlungen. Stürmisch erwiderte er die Begrüßung der Eltern und mit fast kindlicher Zärtlichkeit schmiegte er sich an die Mutter, deren Abgott er, das einzige Kind, stets gewesen war.
Sie nahm den Kopf ihres Lieblings zwischen ihre beiden Hände und küßte seine Stirn.
„Wie blaß und elend Du aussiehst, Du Armer, gewiß bist Du müde und hungrig von der langen Nachtfahrt, laß uns frühstücken, Alles ist bereit, und dann leg' Dich etwas nieder, damit Du heute Mittag wieder frisch und munter bist”
Nun saßen sie am Frühstückstisch und Otto mußte erzählen von dem Dienst und den Kameraden, den Familien, in denen er im letzten Winter verkehrt hatte, von den Casinofesten, seinen Pferden und Hunden, überhaupt Alles schildern, was geschehen war, seitdem er zum letzten Mal auf Urlaub gewesen.
„Und wie lange wirst Du dieses Mal bei uns bleiben?” fragte die Mutter, „unter vier Wochen lasse ich Dich nicht fort.”
„Wie lange ich bleibe, Mutter? Das ist ganz ungewiß, kann sein, daß ich schon nach einigen Tagen wieder fort muß, vielleicht kann es auch einige Wochen dauern, bis man mich wieder zurückruft, aber von der Abreise wollen wir jetzt nicht sprechen, wo ich kaum bei Euch angekommen bin. Erzählt mir lieber, wie es Euch ergangen ist, seitdem wir uns zum letzten Mal sahen, was machen die Nachbarn, wie steht's mit der Ernte?”
Er fragte und erkundigte sich nach Allem, aber mehr um zu sprechen, denn um Auskunft und Bescheid zu erhalten, und ein öfteres „Ach so, ja — richtig, Das sagtest Du ja schon” bewies, daß er nur mit halbem Ohr den Worten der Eltern lauschte. In seinem Wesen lag eine innere Hast und Unruhe, die er durch sein lebhaftes Sprechen verbergen zu wollen schien, aber in Wirklichkeit dadurch nur um so deutlicher verrieth. Er bemerkte es nicht, daß der Vater ihn aufmerksam und prüfend beobachtete, und fühlte auch nicht, daß der Blick der Mutter verwundert auf ihm ruhte.
„Du solltest lieber keinen Cognac mehr trinken,” bat die Mutter, als Otto abermals sein Glas füllen wollte, „er ist Dir ja von Herzen gegönnt, aber ich fürchte, Du verdirbst Dir den Appetit für das Mittagessen — Du bist schon bei Numero fünf angekommen.”
„Wirklich?” erstaunt sah er sie an und stellte die Flasche wieder aus der Hand, „Du magst wohl Recht haben, soviel gegessen und getrunken habe ich seit undenklichen Zeiten nicht” — er sah nach der Uhr, „wahrhaftig schon Zehn — von eurer ländlichen Angewohnheit um zwei Uhr zu essen, seid Ihr wohl immer noch nicht abgekommen, da muß man sich ja beeilen, wenn man vorher noch etwas schlafen will.”
Er erhob sich, küßte den Vater auf die Stirn und bat dann: „Nein, Mutting, bleibe nur unten, was willst Du meinetwegen mit nach oben laufen, ich kenne den Weg und kann mir schon denken, wie schön Du wieder Alles für mich hergerichtet hast.”
Er nickte den Eltern noch einmal freundlich zu und ging dann auf sein Zimmer.
„Höre mal, Mutter,” sagte der Baron zu seiner Gattin, als sie nunmehr allein waren, „der Junge gefällt mir nicht, so kenne ich ihn ja garnicht, so zerstreut, unruhig und doch wieder so still. Wo hat der Bengel denn seinen Humor gelassen und musicirt hat er auch noch nicht, während er sonst doch oft von Tisch aufstand, um uns ein neues Lied, ein neues Couplet, oder einen neuen Walzer, der gerade Mode ist, vorzuspielen.”
„Er wird müde sein von der langen Eisenbahnfahrt, bedenke, wie Du zerschlagen an allen Gliedern bist, wenn Du die Nacht im Coupé gesessen hast.”
„Dafür bin ich ein alter Mann,” gab er zurück, „mag ja sein, daß Du Recht hast und daß er noch etwas unter dem Einfluß der „Urlaubsflasche” steht, die er, wie es ja in der Armee üblich, den in der Garnison zurückbleibenden Kameraden hat stiften müssen — kann sein, daß Du Recht hast, kann aber auch nicht sein.”
Und dieses „kann aber auch nicht sein” ward umsomehr bei ihm zur felsenfesten Ueberzeugung, je länger der Sohn nun schon bei ihm war. Dieser, für den es sonst kein größeres Vergnügen gegeben hatte, als durch Wald und Feld zu reiten, zu jagen, stundenlang auf dem in der Nähe befindlichen See im Kahn zu sitzen und zu angeln, die Nachbargüter zu besuchen, kleine Picnics und Ausflüge zu arrangiren, in die Stadt zu fahren und mit alten Bekannten zusammen den Becher der Lust und der Freude zu heben, ging still und ernst im Haus umher. Stundenlang konnte er am Fenster sitzen und auf den Hof hinausblicken, alle Vorschläge, Ausfahrten und Besuche zu machen, wies er zurück: „Wenn es nicht absolut sein muß,” war seine stete Antwort, „so quält mich bitte nicht damit. Endlich bin ich nun einmal bei Euch, wer weiß, wann ich wiederkomme, laßt uns die kurzen Tage des Zusammenseins allein genießen.” Wurde seine Bitte erfüllt, so war er wohl für kurze Zeit lustig und ausgelassen, aber sein Humor war erzwungen, seine Heiterkeit gekünstelt.
„Mit uns jungen Herren is düt Mal irgend wat nich in Ordnung,” sagten die Leute, wenn sie, ohne, wie sonst, von ihm angere det zu werden, an ihm vorübergingen, „hochmödig ward de nich — nee, nee, irgend wat stimmt da nich.”
„Du solltest wirklich einmal mit Otto sprechen,” bat die Baronin, „mir weicht er aus, er sagt, ihm fehle gar Nichts und doch muß irgend Etwas ihn bedrücken.”
Aber der Baron lehnte das Ansinnen ab. „Nie habe ich Vertrauen gefordert, wo es mir nicht freiwillig entgegengebracht wurde und nie werde ich es thun — am wenigsten bei meinem eigenen Sohn. Wenn ihn Sorgen bedrücken, so weiß er, wo sein bester Freund ist — weiß er es nicht, sagt sein Herz es ihm nicht, so nützt es auch Nichts, daß mein Mund es ihm sagt. Keine Redensart ist in meinen Augen thörichter als die: „Habe Vertrauen zu mir” — ja noch mehr, das Wort ist demüthigend für Den, der es ausspricht.”
So blieb Alles beim Alten.
Gut acht Tage mochten so verflossen sein, als die Bewohner des Schlosses eines Nachts durch das wüthende Bellen des auf der Diele sich aufhaltenden Berhardiners und durch ein starkes, nicht nachlassendes Klopfen und Schlagen gegen die Thür geweckt wurden. Otto, der gerade im Begriff gewesen war, sich hinzulegen, traf unten mit seinem Vater, der schon der Ruhe gepflegt hatte, zusammen. Gemeinsam bemühten sie sich, den wie toll sich geberdenden Hund zu beruhigen, dann fragte der Baron:
„Wer begehrt Einlaß?”
„Ich habe ein Telegramm abzugeben.”
„Jetzt? Mitten in der Nacht?”
Die Thür wurde geöffnet.
„Hier, Herr Baron, eine dringliche Depesche, erst vor einer Stunde ist sie eingelaufen — ich habe meine alten Beine nicht geschont.”
„Es ist gut, Peters, bleiben Sie nur heute Nacht hier, morgen früh fährt doch ein Wagen zur Stadt, der kann Sie dann mitnehmen.”
„Danke schön, Herr Baron, hoffentlich bringe ich keine traurige Nachricht.”
Der Baron wollte die Depesche öffnen, aber der Sohn wehrte ihn ab: „Das Telegramm ist für mich, Vater.”
„Für Dich?” fragte dieser erstaunt, „doch Du hast Recht,” fügte er hinzu, nachdem er schnell einen Blick auf die Adresse geworfen hatte. „Hier, bitte nimm.”
Er reichte seinem Sohn das Schreiben das dieser schnell erbrach, um gleich darauf zu erblassen. Schnell aber hatte er, den forschenden Blick des Vaters auf sich ruhen fühlend, sich gesammelt und mit einem Versuch zum Scherzen sagte er: „Ja, Vater, det is ärgerlich, indessen denn, denn hilft det nich, sie rufen mich zurück in die Garnison, ich muß fahren und zwar noch heute. Jetzt ist es ein Uhr, gegen drei Uhr geht der Zug, wenn ich mich nicht irre; ich kann ihn ereichen, wenn ich um zwei hier fortfahre — darf ich dem Kutscher Bescheid sagen, daß er zu der Zeit anspannt?”
„Gewiß, selbstverständlich,„ erwiderte der Vater, und zu dem Boten gewandt, fuhr er fort: „Peters, Sie legen sich ja doch wohl auf Ihren alten Platz schlafen, sagen Sie doch dem Kutscher Bescheid, er solle in einer Stunde vorfahren. Wenn Sie wollen, können Sie dann ja gleich mit zurückfahren, sonst bleiben Sie bis zum Morgen, mir ist es eins.”
Der Bote entfernte sich und Vater und Sohn waren allein. Vergebens wartete der Erstere auf ein Wort der Aufklärung; als der Sohn immer ihm noch wortlos gegenüberstand, sprach er: „Du wirst Deine Sachen packen wollen — ich werde inzwischen die Mutter benachrichtigen, sie wird Dir Adieu sagen wollen.”
Aber der Sohn hielt ihn zurück: „Nein, Vater, nur Das nicht — gönne ihr ihren Schlummer — ich weiß es, auch wenn sie es mir nicht sagte, daß sie sich genug in dieser Zeit über mich gegrämt hat — aber Vater, wenn Du nur bleiben wolltest, bis ich fortfahre, ich würde Dir sehr, sehr dankbar sein.”
„Gewiß, mein Junge, geh nur voran auf Dein Zimmer, ich will nur meinen Anzug etwas vervollständigen und der Mutter Bescheid sagen, damit sie sich nicht ängstigt, dann komme ich zu Dir.”
Einige Minuten später saßen Vater und Sohn sich in dem traulichen Wohnzimmer des Letzteren gegenüber. Der Sohn vergebens nach Worten suchend, um Das zu sagen, was ihn bedrückte.
„Vater,” begann er endlich, nachdem er vergebens auf ein Wort der Aufmunterung und der Zurede gewartet hatte, „Vater, einmal werdet Ihr, Du und die Mutter, es ja doch erfahren — Vater, würdet Ihr sehr traurig sein, wenn ich das nächste Mal , wenn ich zu Euch komme, nicht mehr Officier bin?” —
Starr, fassungslos blickte ihn der Vater an: „ich verstehe Dich nicht, erkläre Dich deutlicher. — Denkst Du etwa daran, jetzt schon Deinen Abschied zu nehmen? Du bist mündig, Herr Deines Vermögens und kannst ja schließlich thun, was Dir gut dünkt, aber ich fühle mich noch zu jung, um Dir hier schon das Feld zu räumen. Fünf Jahre bist Du erst Officier, etwas länger hatte ich geglaubt, würde Deine Passion anhalten, was willst Du beginnen, wenn Du den bunten Rock ausgezogen hast?”
„Weiß ich's, Vater?” lautete die Antwort.
„Nun, so mache keine Dummheit, die Du hinterher genug bereuen wirst, und bleibe im Dienst.”
Eine ganze Weile war es still im Zimmer, dann sprach der Sohn fast tonlos: „Ich kann nicht bleiben, Vater.”
„Und warum nicht?” brauste der alte Baron auf. „Sitzt Du wieder etwa bei dem Gurgler drinnen? Hast Du allen Ermahnungen und Bitten zum Trotz doch wieder Schulden über Schulden gemacht, daß Du zur Abwechslung einmal wieder nicht ein und aus weißt?” Aber als er das blasse Gesicht seines Sohnes sah, setzte er ruhiger hinzu: „Nun, so schlimm, wie ich denke, wird die Sache vielleicht ja gar nicht sein. Die letzte Ernte ist gut gewesen und auch dieses Jahr verspricht einen schönen Reinertrag. Mutter und ich brauchen hier ja nicht viel, was wir haben und was wir verdienen, gehört ja doch einst Alles Dir — es ist ja Dein Geld, das Du verschleuderst. ich will nicht wissen, wofür es verausgabt ist, ich kann es mir ja denken, auch ich war jung und habe meinem Vater eine schöne Summe gekostet — ich weiß aus Erfahrung, daß Einem in solchen Augenblicken mit Worten Nichts genützt ist — schreibe an unseren Banquier, wie viel Du brauchst, ich werde ihn benachrichtigen, daß er Dir schickt, was Du forderst — aber in Deinem, nicht in unserem Interesse, bitte ich Dich, bedenke das Ende — wir sind reich — aber möchtest Du kein Bettler sein, wenn Deine Eltern die Augen schließen!”
Dankbar küßte der Sohn des Vaters Hand. „Vater, Du bist sehr gut, vielleicht zu gut mit mir, aber ich lehne Dein Anerbieten ab, weil ich es nicht brauche, ich habe mehr Geld als ich brauche, viel, viel mehr.”
„Und wie kamst Du zu diesen Schätzen, hast Du vielleicht gar in der Lotterie gewonnen?”
„Nein, Vater, nicht in der Lotterie, wohl aber im Spiel.”
Dröhnend fiel die Hand des alten Herrn auf den Eichentisch und jetzt fuhr er in die Höh, stramm und aufrecht seinem Sohne gegenüber stehend, der ebenfalls aufgesprungen war. „Das also ist es, ein Spieler ist aus Dir geworden? Konntest Du das Wort vergessen, das ich zu Dir sprach an dem Tage, da Du in die Armee eintratest: Jeden Leichtsinn, den Du begehen wirst, will ich Dir verzeihen und zu vergessen suchen — aber in der Stunde, da Du anfängst zu spielen, hörst Du auf, mein Sohn zu sein. So sprach ich, und ich glaubte, dieses Wort würde genügen, Dich für immer von dem Spiel fernzuhalten, denn Du weißt, daß ich keine leeren Drohungen auszusprechen pflege. Nun ist das Unglück geschehen, nicht ungehört will ich Dich verdammen, sprich, wie konntest Du Dich so weit vergessen, wie konnte Das geschehen?”
„Ja, wie konnte Das geschehen, Vater? Das habe ich mich schon sooft gefragt, ohne eine Antwort darauf zu finden. Nach einem Liebesmahl war es, wir hatten des Guten mehr als zu viel gethan, der Sect war in Strömen geflossen, die rauschende Musik, der Lärm der Unterhaltung, das Alles hatte die Nerven erhitzt, überreizt. Vom Casino ging es in den Club und dort geschah das Unglück, nur dem Sectgenuß kann ich es zuschreiben, daß ich mich so weit vergessen konnte.”
„Und was nun?”
„Was nun? Ja, Vater, nun ists aus mit meinem militärischen Dasein. Die Sache kam an die große Glocke, wir haben es wohl ein bischen toll getrieben in jener Nacht — meine einzige Hoffnung ist, daß man mir erlaubt, um meinen Abschied einzukommen, daß man ihn mir nicht gibt.”
Eins solche Traurigkeit, eine solche Verzagtheit sprach aus diesen Worten, daß der Vater das eigene Leid, das der Sohn ihm zugefügt hatte, vergaß und von dem Schmerz des Kindes gerührt, theilnehmend seine Hand auf dessen Schulter legte: „Nun, nun, laß nur den Kopf nicht gleich hängen, so schlimm wird es wohl nicht werden. Bedenke, daß auch die Vorgesetzten in erster Linie Menschen sind, meist Väter, die eigene Kinder haben und daß auch in ihnen ein theilnahmsvolles, warmes Herz schlägt. Du selbst hast mir oft erzählt, daß Du bei Deinem Commandeur gut angeschrieben seiest und daß er Dir trotz dieser Geschichte Urlaub, wenn auch nur für kurze Zeit gewährt hat, beweist auch mir seine freundliche Gesinnung Dir gegenüber.”
„Ja, ja, Vater, er war mir stets wohlgesonnen,” gab Otto zurück, „es gebe der Himmel, daß unsere Hoffnungen sich erfüllen. Aber Vater, wenn das Schlimmste eintritt, wenn ich meinen Abschied erhalte, was dann? Wie werdet Ihr, Du und die Mutter, dann über mich urtheilen?”
Lange schwieg der alte Baron, dann sagte er: „Eine jede Schuld findet ihre Sühne, sei es durch einen himmlischen oder irdischen Richter. Schwer, so fürchtest Du, wirst Du Deinen Leichtsinn büßen, unter den Folgen einer That, begangen innerhalb weniger Stunden, Dein ganzes Leben leiden. Der Wahn ist kurz, die Reu ist lang; auch Du, wir Alle werden die Wahrheit dieses Wortes kennen lernen.”
„Es war unser Stolz, Dich bei dem vornehmen Regiment, dessen Officierkorps nur aus den Trägern der besten und edelsten Namen besteht, zu wissen, wir waren glücklich, Dich in der geachteten Stellung zu sehen; gehst Du derselben verlustig, so ist die Strafe hart genug für Dich und es wird Dir eine Lehre sein für alle ferneren Zeiten, Dich dem Spiel fern zu halten. Unser Sohn bleiben sollst Du trotzdem — Das verspreche ich Dir — mach uns durch ein fleißiges, arbeitsames Leben vergessen, welchen Schmerz Du uns bereitet — zeige Dich, wenn auch nicht mehr als activer, so doch als Officier der Reserve würdig, des Königs Rock zu tragen, und beweise, daß Du wohl im Leichsinn fehlen und sündigen kannst, daß aber trotzdem der Kern in Dir ein guter ist und setze Deinen Stolz darein, fortan zu leben, wie ein Ehrenmann es sich selbst und der Mitwelt schuldig ist — dann will ich vergessen und verzeihen, was Du uns angethan. Und auch die Mutter wird sich an den Gedanken gewöhnen, Dich nicht mehr in dem glänzenden Kleide zu sehen — schwer, sehr schwer aber wird es ihr werden, denn Du warst ihr Stolz und ihre Freude alle Zeit. Dich auch im bürgerlichen Kleide ihrer Liebe würdig zu zeigen, sei fortan Dein Streben.”
„Gehe rein und geläutert hinein in die Welt, die sich nun vor Dir ausbreitet, und Alles kann noch wieder gut werden.”
„Und nun, Junge, rüste Dich zur Reise, geh muthig dem Schicksal, das Deiner harrt und das Du selbst verschuldet, entgegen.”
Er zog den Sohn an sich und küßte ihn zärtlich auf die Wangen, dann ließ er ihn allein. Er liebte seinen Sohn über Alles und er wußte, auch dieser blickte mit heißer Verehrung zu ihm empor; er sah und hatte es bemerkt die ganze Zeit hindurch, wie sein Kind litt; zu diesem Schmerz wollte er nicht den hinzufügen, daß der Sohn sah, wie der Vater über ihn weinte.
Nicht muthig und tapfer, sondern verzagt und um seine Zukunft bangend, fuhr der junge Officier durch die dunkle Nacht seiner Garnison entgegen, sich selbst anklagend und verdammend, daß er nicht den Muth gehabt hatte, seinem Vater Alles, Alles zu gestehen. Jeden Morgen war er erwacht mit dem festen Vorsatz: „Heute sprichst du dich aus und suchst Rath und Trost bei Dem, der dir allein nur noch helfen kann;” aber wenn er seinem Vater in die treuen, liebevollen Augen geblickt hatte, verschob er sein Vorhaben von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag, er brachte es nicht über das Herz, den Eltern solchen Kummer zu bereiten. Und auch im letzten Augenblick hatte ihm dazu der Muth gefehlt, die Hauptsache hatte er verschwiegen.
Nach einem Liebesmahl hatte, wie er es dem Vater gesagt, das Spiel im Club begonnen. Mit geringen Einsätzen hatte man den Anfang gemacht, aber je mehr der Wein und die Aufregung die Gemüther erhitzte, desto größer wurden die Summen, die auf dem Tisch lagen. Eine Stunde verstrich nach der andern, allmählich leerte sich das Zimmer, einer nach dem anderen ging nach Haus, um vor Beginn des Dienstes noch einige Stunden zu schlafen, nur er war noch mit zwei Civilisten sitzen geblieben. Man spielte Macao, und ebenso wie vorhin bei der lustigen Sieben war ihm das Glück hold, Schlag auf Schlag schlug für ihn, je mehr er gewann, desto eregter, desto leidenschaftlicher wurde er in der Furcht, er könne Alles wieder verlieren, ein wahrer Taumel ergriff ihn, die in jedem Menschen ruhende Sucht nach Geld und Gewinn nahm ihn gefangen, nach „mehr, mehr” lechzte seine Phantasie und trübte seinen ruhigen Blick, seine Ueberlegung und Besonnenheit. Durch kalten Sect suchte er die Nerven zu beruhigen, es gelang ihm nicht.
„Wie hohe Sätze nehmen Sie an?” fragte da sein Nachbar zur Rechten den dritten Herrn, der die Karten gab. Dieser, der die Chancen des Banquiers hatte und durch einen hohen Einsatz seiner Mitspieler den schweren Verlust, den er bisher erlitten, einigermaßen auszugleichen hoffte, erwiderte: „Ich halte jeden Satz, so hoch wie die Herren wollen.”
Ein kleines Packet Banknoten, das der Andere hinüberschob, war die Antwort. Schnell zählte der Banquier die Scheine durch und legte sie gelassen in die Mitte des Tisches.
„Und Sie, Herr Baron?”
Einen Augenblick zögerte er, dann entgegnete er, auf gut Glück in den vor ihm liegenden Haufen hineingreifend: „Wenn Ihnen Dies Recht ist?”
Es war ein kleines Vermögen, das auf dem Tisch lag.
Der Banquier gab die Karten, jedem zwei, dann stellte er die übliche Frage: „Wünscht einer von den Herren noch eine Karte?”
„Ich bitte um eine,” klang es zur Rechten des jungen Officiers.
Mit einem „verflucht” nahm der Spieler ein Bild, eine Null, in Empfang.
„Und Sie, Herr Baron?”
Er überlegte lange, lange forschend sah er seinen Gegner an, ob vielleicht dessen Mienenspiel verriethe, wie die Chancen ständen. Viel konnte der Banquier nicht in der Hand haben, hätte er den großen oder kleinen Schlag, neun oder acht besessen, so hätte er sicherlich von seinem Vorrecht Gebrauch gemacht und die Karten gleich aufgeschlagen und den Gewinn eingezogen.
Er selbst hatte eine Sechs in der Hand, wenn er Glück hatte, konnte er eine, zwei oder drei zukaufen und dann als Sieger hervorgehen, wenn er aber eine höhere Karte zog oder nicht zukaufte, waren die Aussichten für ihn mehr als zweifelhaft.
Und da packte ihn der Satan des Spiels und raubte ihm den letzten Rest seiner Besinnung, seiner Ueberlegung.
Langsam glitt sein Blick von dem Antlitz seines Gegners und blieb ruhen auf den Karten, die der Andere so in der Hand hielt, daß er hineinsehen konnte.
Auch der Banquier hatte sechs, sie standen gleich, der Einsatz wurde getheilt.
„Nun, Herr Baron?”
Niemand hatte den Blick bemerkt — dennoch zögerte er abermals — sein Gewissen regte sich für eine Secunde, aber auch nur für eine Secunde — dann sprach er ruhig:
„Ich danke.”
Nun war es an dem Banquier zu zögern — er vermuthete, daß sein Gegner ebenfalls sechs hatte. Hätte er weniger gehabt, so würde er bestimmt um eine Karte gebeten haben, hätte er die Sieben in der Hand, so wäre eine solche lange Ueberlegung überflüssig gewesen.
Für einen Augenblick lockte den Banquier der Gedanke, sich mit dem fetten Einsatz zu begnügen, dann aber schlug er nach kurzem Besinnen mit einem heftig ausgesprochenen. „Ach was, fix oder Nichts!” eine Karte um — es war die Fünf, er hatte sich überkauft, der Baron hatte gewonnen.
Da legte sich eine Hand auf die Schulter des jungen Officiers: „Danneberg, dürfte ich Sie einen Augenblick sprechen?”
Sich umwendend, erblickte er einen älteren Kameraden.
Er sprang auf, aber fühlte, wie seine Kniee zitterten.
„Gewiß, wenn die Herren mich einen Augenblick entschuldigen wollen.”
Er folgte dem Kameraden in eine entfernte Ecke des Zimmers.
„Danneberg, als älterer Kamerad befehle ich Ihnen, sofort mit dem Spiel aufzuhören, nicht daß Sie spielen, sondern wie Sie spielen, werfe ich Ihnen vor.”
Er fühlte, wie er erbleichte. „Ich verstehe Sie nicht,” stammelte er, „ich weiß nicht, wie ich mir Ihre Worte deuten soll?”
Da sah ihm der Andere scharf in die Augen und sagte: „Danneberg, ich frage Sie auf Ehre und Gewissen, hätten Sie sich auch dann keine Karte zugekauft, wenn Sie nicht gewußt hätten, daß der Banquier gleich Ihnen eine Sechs in der Hand hielt?”
Für eine Minute war es todtenstill, dann aber sprach Danneberg:
„Auf eine derartige Frage gibt es in meinen Augen nur eine einzige Antwort — ich bedaure, daß Zeit und Umstände es mir nicht gestatten, Ihnen dieselbe gleich zu ertheilen.”
„Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung, vorausgesetzt, daß der Ehrenrath es mir erlaubt,” hatte der Andere kühl erwidert und sich dann entfernt.
Auch er hatte, nachdem er seinen Mitspielern noch drei Revancheschläge, die diese aber mit dem Bemerken, daß sie für heute genug verloren hätten, ablehnten, sich nach Haus begeben, um einen mit ihm wohnenden Kameraden zu bitten, sein Secundant zu sein, die Forderung zu überbringen und dem Ehrenrath Meldung zu erstatten.
„Morgen früh um sieben Uhr hinter den Scheibenständen Rendezvous, fünf Schritt Barrière, Kugelwechsel bis zur Kampfunfähigkeit,” das waren die schweren Bedingungen, die Danneberg gestellt hatte, und ungeduldig wartete er auf die Rückkehr des Secundanten.
„Nun?” fragte er ihn, als er endlich wieder bei ihm eintrat, „wie steht es, was hast Du ausgerichtet?”
Aber der Andere war sehr kühl und förmlich. „Ich bedaure, keinen günstigen Bescheid zu überbringen: der Ehrenrath hat das Duell vorläufig verboten. Ihr Gegner erkennt Sie nicht als voll und ebenbürtig mehr an, morgen früh wird die Angelegenheit ihre Aufklärung finden; selbstverständlich stehe ich auch dann noch zu Ihren Diensten.”
Dann war der Freund gegangen. Das vertrauliche „Du”, das früher zwischen ihnen geherrscht hatte, war dem „Sie” gewichen. — Schmerzlich hatte er es empfunden.
Nach einer unruhigen Nacht wurde er in aller Frühe zu seinem Commandeur befohlen.
„Sie haben,” so hatte er zu ihm gesprochen, „heute Nacht Ihren Kameraden, Herrn v. Haugwitz, auf Pistolen fordern lassen. Sind die gegen Sie erhobenen Beschuldigungen nicht wahr, so lobe ich Sie wegen der schweren, im richtigen Verhältniß zu der Schwere der Beleidigung stehenden Bedingungen. Sind aber die gegen Sie erhobenen Anklagen wahr, so mache ich Ihnen einen groben Vorwurf daraus, einen Kameraden, der nur seine Pflicht that, vor die Mündung Ihrer Pistole zu fordern. Im Einverständniß mit meiner Person hat der Ehrenrath das Duell vorläufig untersagt. Die Untersuchung wird noch heute beginnen und so schnell wie möglich zu Ende geführt werden. Von dem Ausfall der Untersuchung ist der weitere Verlauf der Angelegenheit abhängig, die, Das bitte ich überzeugt sein zu wollen, die Sühne finden wird, die sie verdient.”
Noch an demselben Tage war das Protokoll aufgenommen worden und offen und ehrlich hatte er seine Schuld bekannt; nur dadurch konnte er auf ein mildes Urtheil seiner Richter Anspruch erheben.
„Was ich that, läßt sich nicht wegleugnen,” hatte er erklärt. „Herr v. Haugwitz hat mich beobachtet und hat seine Aussage beschworen — dessen hätte es nicht bedurft. Wie wohl ein Jeder, der bei einem Unrecht betroffen wird, versuchte auch ich zuerst, meine Schuld zu leugnen. Die Ehre aber gebietet mir, die Wahrheit zu sagen. Ich könnte Herrn v. Haugwitz Lügen strafen, ihm sagen, daß er sich getäuscht hat; meine beiden Mitspieler würden für mich eintreten, bereit sein, es zu beschwören, daß ich unschuldig bin — ich bekenne mein Vergehen, weil ich auf dessen Vergebung hoffe. Was mich entschuldigt, ist die Stimmung, in der ich mich befand. Ich war betrunken — nicht sinnlos, wie das Gesetz es verlangt, um den Thäter straffrei zu machen — aber doch so, daß ich nicht mehr Herr meiner Sinne war. Dazu kommt noch eins: Sie Alle wissen, ich habe noch nie gespielt, allen Versuchungen bin ich bisher stets aus dem Wege gegangen, oft bin ich darum ausgelacht worden, aber ich blieb meinen Grundsätzen treu. An jeden Menschen tritt täglich der Teufel in irgend einer Gestalt heran, glücklich wer sich sagen kann in seiner letzten Stunde: „Ich habe stets, wenn die Versuchung an mich herantrat, gesiegt.” Ich kann dies Wort dereinst nicht sprechen, ich unterlag. Den letzten Rest der Besonnenheit, die der Wein mir gelassen, raubte mir das Spiel. Was ich dann that, geschah im Taumel der Leidenschaft, in dem mir die Sinne verwirrenden Drang nach dem Golde, in der Sucht nach dem großen Besitz — ich bereue, was ich gethan — Das ist Alles, was ich zu meiner Vertheidigung, zu meiner Entschuldigubng anzuführen vermag.”
An demselben Abend war er bis auf Weiteres vom Dienst suspendirt worden — die Acten gingen an die Division — der Gerichtsherr mußte die Entscheidung treffen, was fernerhin in der Sache geschehen sollte — bis die Entscheidung eintraf, konnte immerhin einige Zeit vergehen — so erhielt er die Erlaubniß, die Zwischenzeit bei seinen Eltern zuzubringen, unter der Bedingung, daß er, wenn es befohlen, sofort zurückkehren würde.
Das war der Urlaub gewesen, der im Elternhause ud auf dem ganzen Gut solche Freude hervorgerufen hatte.
Und nun fuhr er der Entscheidung entgegen. „Sofort zurückkommen” hatte das Telegramm gelautet. Was harrte seiner? War es Strafe und Sühne genug für ihn, daß er zum Abschied eingegeben wurde, oder aber sollte auch noch ehrengerichtlich gegen ihn erkannt werden?
„Gehe rein und geläutert hinein in die Welt, die sich nun vor Dir ausbreitet,” hatte der Vater zu ihm gesprochen.
War ihm Das noch möglich?
Und was dann, wenn er eines Tages die Schwelle des Elternhauses übertreten und zu seinem Vater sprechen würde: „Vater, man hat mich für unwürdig erachtet, noch fernerhin Officier zu sein — man hat mir nicht nur das Kleid genommen, das ich trug, man hat mich nicht nur aus dem Officiercorps, dem ich angehörte, entfernt, sondern man hat mich aus dem Stande hinausgestoßen für jetzt und alle Zeiten. Nie wieder kann ich meinem Könige im Frieden oder im Felde dienen — für einen Menschen wie mich ist in der Armee kein Platz mehr.”
Würde der Vater, wenn er, der Sohn, also zu ihm spräche, zu ihm sagen wie vor Stunden, da er die Beichte seines Kindes vernommen: „Unser Sohn sollst Du bleiben trotzdem?” Würde die Liebe der Eltern auch Das zu überwinden vermögen? Würden sie ihn nicht von der Schwelle weisen und zu ihm sprechen: „Gehe fort von hier, da Du unwürdig bist Deiner Mutter und Deines Vaters, die Dich mit Liebe gehegt und gepflegt haben und denen Du Das also dankest — gehe fort von hier, der Du unwürdig bist des Namens, den Du trägst, unwürdig der Ahnen, die auf den Schlachfeldern, für ihre Könige und Herren kämpfend, das Leben ließen.”
Und wenn der Vater also spräche, was dann?
Er stöhnt laut auf — nein, nein, so furchtbar konnte ihn der Himmel nicht strafen für seine Schuld — nein, nein, sein Vater hatte Recht, auch die Vorgesetzten sind Menschen, in denen, mag ihr Aeußeres auch noch so streng und unerbittlich sein, ein warmes, theilnehmendes Herz schlägt für jeden ihrer Untergeben.
Ja, ja, so war es, sie würden Mitleid mit ihm haben — die Hoffnung nahm ihn gefangen und beruhigte sein Herz und sein Gemüth. Er schloß die Augen, und im Halbschlummer lehnte er sich zurück in die Kissen des Coupés. Er dachte zurück an das Elternhaus, das er bei Nacht und Nebel heimlich, ohne der Mutter ein Lebewohl zu sagen, hatte verlassen müssen und plötzlich fühlte er den Blick der treuen Mutteraugen auf sich ruhen, todestraurig, anklagend und doch Verzeihung verheißend und es war ihm, als spräche eine Stimme zu ihm: „Mein Sohn, mein Sohn, warum hast Du mir Das angethan?”
Und im Traume stürzte er schluchzend der Mutter zu Füßen und verbarg sein Antlitz in ihrem Schoß.
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„Ich habe Ihnen die Mittheilung zu machen, daß auf Befehl des Gerichtshern, Se. Excellenz des Herrn Divisions–Commandeurs, die ehrengerichtliche Untersuchung gegen Sie eingeleitet und demnächst ehrengerichtlich gegen Sie zu erkennen ist.”
Mit diesen Worten begrüßte der Commandeur seinen Officier, nachdem dieser sich bei ihm vom Urlaub zurück gemeldet hatte und setzte dann nach einer kleinen Pause hinzu: „Es ist Ihnen bekannt, daß Sie, solange Sie sich in ehrengerichtlicher Untersuchung befinden, von jedem Dienst suspendirt sind?”
„Zu Befehl, Herr Oberst.”
„Dann danke ich sehr.”
Ein kurzes Zusammenschlagen der Sporen, dann hatte Danneberg das Bureau verlassen. Traurig, wehmütigen Blickes sah der Commandeur ihm nach: „Schade, jammerschade um ihn — er war mir einer der Liebsten in meinem Regiment, ich hielt große Stücke auf ihn und hätte ihn gern im nächsten Jahr zu meinem Adjutanten gemacht. Wie konnte er sich nur soweit vergessen?”
Und in traurige Gedanken versunken stand der Commandeur noch immer unbeweglich, als Danneberg bereits seine in der Nähe gelegene Wohnung erreicht hatte.
„Also doch Ehrengericht,” sprach er vor sich hin, „nun ist Alles aus, Das ist der Anfang vom Ende — freisprechen können sie mich nicht, wohl aber können die Richter sich begnügen mit der gelindesten Strafe, die es gibt, mit einer Warnung — der Himmel weiß, daß ich schon schwer genug unter meiner Schuld gebüßt habe.”
Die Acten konten bei dem klarliegenden Sachverhalt schon nach wenigen Tagen geschlossen werden und auf Befehl des Gerichtsherrn trat kurz darauf das Ehrengericht zusammen.
In dem Casinosaal, in dem bereits der Ehrenrath anwesend war, versammelte sich das gesammte Officiercorps und gleich darauf erschien der Commandeur, in Begleitung des Lieutenants v. Danneberg.
Nachdem der Oberst die Meldung erhalten hatte, daß alle Herren anwesend seien, ergriff er das Wort:
„Meine Herren, wir haben uns heute hier versammelt, um unsere Stimme abzugeben in der ehrengerichtlichen Untersuchung wider den Secondlieutenant Baron v. Danneberg. Bevor wir aber in die Verhandlung eintreten, habe ich Sie aufzufordern, als Ehrenmänner ohne Leidenschaft, nach Pflicht und Gewissen und mit Erwägung der einwirkenden, besonderen Verhältnisse Ihre Stimme abzugeben. Ich bitte den Ehrenrath nunmehr, die Acten vorzulesen — wollen die Herren bitte Platz nehmen.”
Die Acten wurden verlesen und dann das Schlußverhör, das am Vormittag mit dem Angeklagten abgehalten war:
„In der Untersuchung wider den Secondelieutenant Baron v. Danneberg erschien heute, um zum Schluß vernommen zu werden, der Angeschuldigte. Derselbe erklärte auf Befragen: „Ich habe zur Sache Nichts mehr hinzuzufügen, ich sehe die Acten als geschlossen an.”
Der Commandeur erhob sich: „Herr Lieutenant v. Danneberg, ich habe Sie nunmehr in Gegenwart der Herren, die Sie als Richter über sich anerkannt haben, noch einmal zu fragen, ob Sie zur Sache oder zu Ihrer Vertheidigung noch irgend etwas Neues anzuführen vermögen?”
„Nein, Herr Oberst.”
„Dann danke ich Ihnen sehr.”
Eine stumme Verbeugung nach allen Seiten — dann war Dannberg entlassen.
Nunmehr folgte das Gutachten des Ehrenrathes; in kurzen Worten schilderte es noch einmal den Sachverhalt und schloß mit den Worten:
„Der Ehrenrath beantragt wider den Seconde–Lieutenant Baron v. Danneberg zu erkennen auf Schuldig der Verletzung der Standesehre unter erschwerenden Umständen, unter Beantragung der Entfernung aus dem Officiersstande.”
Abermals erhob sich der Commandeur und mit ihm sein Officiercorps:
„Meine Herren, ich bitte Sie, sich chargenweise zu berathen. Bedenken Sie noch Eins: wir haben die Pflicht, zu urtheilen; Gnade walten zu lassen ist Sache Sr. Majestät.”
Und nun erhob sich ein Summen und Surren, ein Flüstern und Fragen. Unter Allen, die über den Kameraden zu Gericht saßen, war nicht ein Einziger, der nicht herzliches, aufrichtiges Mitleid mit ihm hatte; sie dachten daran, was aus dem Armen werden sollte, wenn sie ihn verdammten, sie dachten an seine Eltern, seine Verwandten. Sie wollten helfen, aber sie konnten nicht.
Schwer, eines Officiers unwürdig, war die Schuld — schwer mußte die Strafe sein.
Nun traten sie heran, Einer nach dem Anderen, der Jüngste beginnend, als Letzter der Commandeur, und Alle erkannten nach dem Antrag.
„Meine Herren, ich habe Ihnen nun noch Geheimhaltung des Urtheils zur Pflicht zu machen, bis dasselbe allerhöchsten Ortes bestätigt ist. Das Ehrengericht ist geschlossen.”
Der aber, über den die Kameraden zu Gericht saßen, wußte das Urtheil, das seiner harrte, als er den Saal verließ. Unbeobachtet von den Kameraden hatte er, während sie der Vorlesung der Acten lauschten, in ihren Mienen gelesen und sein Geschick daraus ersehen.
Einem Taumelnden gleich erreichte er seine Wohnung, noch einen langen, heißen Blick der Liebe warf er auf die Bilder seiner Eltern, die Thränen stiegen ihm in die Augen, aber gewaltsam zwang er sich zur Ruhe. Sicheren Schrittes ging er zu dem Tisch, auf dem die stets geladene Waffe lag, mit fester Hand drückte er den Lauf gegen seine Schläfe, und eine Secunde später hatte er sich selbst gerichtet.