Humoreske von Freiherr von Schlicht
in: Warum sie heiraten”
Fräulein Gerda Warnhold, ein mittelgroßes, schlankes, geschmeidiges junges Mädchen von neunzehn Jahren, liegt in ihrem hübschen, geschmackvoll und behaglich eingerichteten Wohnzimmer, das ihr aber auch zugleich als Schlafraum dient, eine Zigarette nach der anderen rauchend auf der Chaiselongue und langweilt sich so entsetzlich, daß sie in ihrem tiefsten Innern gar nicht begreift, wie ein Mensch allein sich derartig langweilen kann. Sie langweilt sich noch vielmehr als nur zum Sterben, sie langweilt sich furchtbar, entsetzlich, gräßlich und schrecklich. Gerda sieht es ein, es gibt gar keinen passenden Ausdruck dafür, um ihren Zustand zu schildern. Sie hat sich ja schon an manchem Sonntag Nachmittag in ihrem Leben gelangweilt, aber wie an diesem? Und wie schon so oft, denkt sie darüber nach, warum der liebe Herrgott, oder der Papst Gregor, der Kalendermann, oder wer es sonst tat, überhaupt die Sonntage geschaffen hat. Gewiß, Gerda gesteht es sich ein, auch in ihrem Leben hat es schöne Sonntage gegeben, damals, als sie noch zur Schule ging. Da war der Sonntag sogar sehr schön, besonders, wenn man bei einer der vielen Freundinnen zum Kaffee oder Schokolade mit unendlichen Bergen von Kuchen eingeladen war und sich den Magen manchmal absichtlich derartig verdarb, daß man am Montag und wenn man Glück hatte, auch am Dienstag nicht zur Schule gehen konnte. Ja damals waren die Sonntage fein, aber hinterher, als sie nicht mehr zur Schule ging und besonders, seitdem sie ein halbes Jahr in England bei einer Verwandten zum Besuch gewesen war. Da hatte sie die englischen Sonntage kennen und hassen gelernt, deshalb war sie auch nur ein halbes Jahr drüben geblieben, länger hatte sie es ganz einfach nicht ausgehalten. Von der Zeit an haßte sie alles, was Sonntag oder Feiertag hieß, das auch deshalb, weil ihre Mutter zwar keine bigotte, aber doch eine sehr strenggläubige Christin war, die jeden Sonntag zur Kirche ging und den Rest des Tages in stiller Zurückgezogenheit verbrachte, die darin bestand, daß sie möglichst für diesen Tag keine Einladungen annahm, und daß sie sich auch freute, wenn kein Gast oder kein Besucher zu ihr kam. Ja, die Mutter sah es sogar nicht einmal gern, wenn sie, Gerda, des Sonntags zu einer Freundin ging. Na, aus diesem mütterlichen Wunsch, Sonntags zu Hause zu bleiben, macht sie sich Gott sei Dank blitzwenig, zumal sie in dieser Hinsicht an ihrem Vater einen Bundesgenossen hat, der es absolut nicht einsehen will, daß sie gerade die Sonntage zu Hause vertrauern soll. Der wünscht es sogar, daß sie Sonntags erst recht eine Einladung annimmt, obgleich es deswegen jedesmal zu einer ziemlich erregten Aussprache zwischen dem Vater und der Mutter kommt, die aber sonst in einer sehr glücklichen Ehe miteinander leben. Wenigstens die Mutter ist sehr glücklich, ob aber auch der Vater? Darüber kommen ihr zuweilen starke Zweifel, denn sie merkt es dem Vater an, wie gern der gerade am Sonntag auch einmal ausgehen möchte, sei es in das Theater, zu einem seiner Freunde oder zu einer Partie Karten. Aber er bleibt mit Rücksicht auf die Mutter zu Hause, weil er weiß, daß die es nicht gern sehen würde, wenn er fortginge. Und darüber ist sie, Gerda, sich schon längst einig, wenn sie erst einmal einen Mann hat, dann wird sie dem am Sonntag freie Hand lassen. Der kann tun und lassen was er will, nur eins darf er nicht, er darf sie niemals, unter gar keinen Umständen, auch nur einen Sonntag Nachmittag allein lassen. Er kann ausgehen so oft, so viel und wohin er will, aber er muß sie stets mitnehmen, denn daß sie sich später auch so langweilen soll, wie jetzt —
Mitten im Denken hält Gerda inne und gähnt. Sie gähnt, daß es eine ganze Weile dauert bis sie damit fertig ist und dann gähnt sie noch einmal. Und gerade heute hätte es so nett und lustig werden können. Sie war zu ihrer Freundin Elsbeth eingeladen und nun ist die krank geworden. Zuerst hat sie das natürlich nicht geglaubt, sondern hat angenommen, das sei nur ein Vorwand, um die Einladung wieder rückgängig zu machen, weil Elsbeth vielleicht etwas anderes vorhabe, ein heimliches Zusammentreffen mit ihrem neuesten Flirt bei Mondscheinbeleuchtung im Zoologischen Garten, oder in einer der dunklen Ecken eines Cafés, oder in einer der ganz dunklen, lauschigen und verschwiegenen Logen eines Kinotheaters. Aber als sie Elsbeth ihren Besuch machte, um sich zu erkundigen, wie es ihr ginge und vor allen Dingen, um die Wahrheit zu erfahren, da hatte Elsbeth tatsächlich mit einer schweren Mandelentzündung im Bett gelegen, und wenn es in zwei oder drei Tagen nicht besser war, dann sollten ihr sogar die Mandeln herausgeschnitten werden.
Die arme Elsbeth! Die tat ihr so schrecklich leid, sie konnte gar nicht sagen wie sehr und auch jetzt wußte sie das nicht. Aber leid tat sie ihr furchtbar. Eine ganze Weile beschäftigte sie sich im stillen, schon um etwas zu tun zu haben, mit der Freundin. Dann dachte sie wieder an sich selbst und dann wurde der Lieblingsgedanke eines jeden jungen Mädchens in ihr wach: wenn ich erst einen Mann habe.
Darüber vergaß sie ganz, daß sie sich maßlos langweile. Ja, sie empfand es plötzlich sogar sehr schön, völlig ungestört auf der Chaiselongue liegen und mit wachenden Augen von ihrem zukünftigen Mann träumen zu können. Wie der wohl hieß, wie der aussehen mochte und was der wohl in dieser Stunde triebe? Lag der auch zu Hause auf seiner Chaiselongue und langweilte sich, oder saß der mit seiner kleinen Freundin zusammen, oder saß die gerade auf seinem Schoß und ließ sich von ihm küssen? Denn wenn sie ihren zukünftigen Mann auch noch nicht kannte, wenn sie wenigstens noch nicht wußte, wer von ihren Verehrern ihr Mann werden würde, soviel wußte sie von dem doch schon heute, daß der eine kleine Freundin besaß. Ohne die können die Männer ja nun einmal nicht leben, wenigstens behaupten sie das, und wenn sie selber als Mann auf die Welt gekommen wäre, würde auch sie sich eine kleine Freundin halten, sogar eine sehr niedliche, die müßte zum mindesten ebenso hübsch sein, wie sie selbst, von demselben Wuchs, von derselben Größe, mit ebensolchen dunklen Haaren und den gleichen tiefschwarzen Augen.
Aber leider Gottes war sie nur ein junges Mädchen. Ach, die Männer hatten es gut, die konnten sich amüsieren und das Leben genießen, soviel sie wollten, aber wenn ein anständiges junges Mädchen sich nur den Hof machen ließ, dann wurde schon geredet und geklatscht und nun erst, wenn es herauskam, daß man sich heimlich hatte küssen lassen. Dann war gleich der Teufel los, da war man schon moralisch verdorben und sittlich tief gefallen. Da brach die ganze Welt den Stab über die Sünderin, und die sogenannten Freundinnen brachen am meisten, weniger aus Entrüstung, sondern aus Neid, weil sie nicht selbst geküßt worden waren. Gerda kannte das aus Erfahrung. Sie hatte sogar einmal mitbrechen müssen, ganz gegen ihre Überzeugung, aber die anderen hatten erklärt, nicht weiter mit ihr verkehren zu können, wenn nicht auch sie entrüstet sei. Da hatte sie sich dann ebenfalls entrüstet, aber sich dabei im stillen geschworen: wenn du dich einmal küssen läßt und wiederküßt, du wirst dich hüten, davon etwas verlauten zu lassen.
Aber leider war es noch nicht zum Küssen gekommen und dabei war sie doch schon neunzehn Jahre! War es nicht traurig, in dem Alter außer dem Vater und dem Vetter noch keinen Mann geküßt zu haben? Und sie konnte so wundervoll küssen, hatte es wenigstens gekonnt, aber ob sie es auch jetzt noch konnte? Was man nicht übt und nicht wiederholt, verlernt man nur zu schnell und es sind schon zehn Jahre her, daß ihr Vetter Fritz, der jetzt als Leutnant in der Provinz bei einem Husarenregiment steht — nein, sie will nicht mehr an den Treulosen denken. Gewiß, sie hatte ihn ebensowenig geliebt, wie er sie. Gott, sie küßten sich eben gegenseitig, wie man sich eben mal so küßt, wenn man sonst gerade nichts Besseres zu tun hat und wenn einer an dem anderen äußerlich Gefallen findet. Von Liebe war bei ihnen beiden nicht die Rede gewesen, sie hatten einander auch geschworen, diese Küsserei lediglich als das zu nehmen, was sie war, sie hatten sich bei dem Küssen, da beide auf diesem Gebiet große Künstler waren, zusammengefunden, wie sich auf der Eisbahn oder sonst bei einem Sport die Paare zusammenfinden, die sich gegenseitig am besten ergänzen. Nein, sie beide haben nie daran gedacht, sich jemals zu heiraten. Aber daß Fritz ihr vor nunmehr bald einem Jahr, als er auf kurzem Urlaub hier war, erzählte, er habe in seiner Garnison ein junges Mädchen kennen gelernt, das beinahe noch besser küssen könne als sie, das war zu gemein von ihm. Das hätte er ihr, selbst wenn es Wahrheit war, niemals erzählen dürfen. Hätte er nur einen Funken von Ritterlichkeit besessen, würde er ihr gesagt haben: „Gerda, soviel junge Mädchen ich auch inzwischen küßte, du bist und bleibst doch die Kußkönigin.” So hätte sich das gehört, so und nicht anders hätte er sprechen müssen. Aber die Männer! Gerda räkelt sich auf der Chaiselongue und zuckt nun bei dem Gedanken an die Männer verächtlich mit den Schultern. Ihre Freundin Käthe hat ganz recht, als die neulich bei Windbeutel und Schlagsahne erklärte, die Männer seien ja leider Gottes ein notwendiges Übel, aber taugen täten sie eigentlich alle durch die Bank nichts. Eine Ausnahme machten in der letzteren Hinsicht nur die eigenen Väter, vorausgesetzt, daß sie sich zur Zufriedenheit ihrer Kinder betrügen.
Gerda zündete sich eine neue Zigarette an und philosophierte weiter. Die Männer taugen wirklich alle durch die Bank nichts, wenigstens kennt sie nicht eine einzige Ausnahme, denn wenn es unter den ihr bekannten Herren, und sie kennt doch so viele, wirklich nur einen gäbe, der etwas taugte, dann hätte der schon längst ihren äußeren und inneren Wert erkannt und sich mit ihr verlobt. Denn darüber ist sie sich schon längst klar, sie wird, schon um die Freundinnen zu ärgern, den ersten besten nehmen, der um sie anhält, vorausgesetzt natürlich, daß sie ihn liebt. Und warum soll sie ihn auch nicht lieben, wenn er sie so liebt, daß er sie zu seiner Frau machen will?
Wieder denkt sie darüber nach, wer wohl später ihr Mann werden wird und wie der wohl aussieht. Natürlich muß er in erster Linie hübsch sein, sie muß schon um seines Äußeren willen von aller Welt um ihn beneidet werden und wenn irgend möglich, muß er auch etwas Geld haben. Viel braucht es nicht zu sein, denn sie selbst erhält später eine gute Mitgift und sie ist nicht allzusehr verwöhnt, sie könnte sich sogar den Luxus leisten, einen Leutnant zu heiraten. Auch für sie gab es eine Zeit, in der sie vom frühen Morgen bis zum späten Abend das Lied vor sich hinträllerte: Mein Schatz muß ein Leutnant sein. Aber sie denkt darüber anders, seitdem ihre Freundin Lotte vor zwei Jahren einen Leutnant heiratete, der Gott weiß aus welchen privaten oder militärischen Gründen nun schon dreimal in eine andere Garnison versetzt worden ist. Das könnte ihrem späteren Manne ja auch passieren und dafür bedankt sie sich schon heute. Nur nicht alle Augenblicke umziehen, noch dazu jedesmal in eine andere Stadt, die immer kleiner und kleiner wird.
Nein, keinen aktiven Leutnant, höchstens einen Reserveoffizier, aber auch das hat seine Schattenseiten, denn was hat sie davon, wenn ihr zukünftiger Reserve-Gatte vielleicht alle Jahre zu einer vier- oder sechswöchentlichen Übung in seiner Garnison, weit von ihr, eingezogen wird, oder wenn der gar so diensteifrig ist, daß der sich freiwillig alle Jahre zu einer solchen Übung meldet? Dann bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich eine Hirtenflöte anzuschaffen und es zu lernen, auf der Trübsal zu blasen, nicht nur des Wochentags, sondern erst recht des Sonntags, und wenn sie erst mal verheiratet ist, will sie an keinem Sonntag Nachmittag mehr allein sein, an keinem einzigen.
Und deshalb wird sie auch keinen Reserveoffizier heiraten, sondern einen Kaufmann oder einen Referendar oder einen Assessor. Aber nicht gerade den Assessor Hans von Werner, obgleich der ihr in der letzten Zeit ganz besonders den Hof macht, aber der gefällt ihr nicht, der ist ihr in seiner äußeren Erscheinung nicht groß, nicht stark und nicht kräftig genug. Und dabei trägt er eine Brille! Ja, wenn es noch ein Monokel wäre, das er sich bei dem Zubettegehen aus dem Auge nähme, dann ja, denn ein Monokel hat schon an und für sich etwas Einnehmendes. Selbst der häßlichste Mann kann es ruhig wagen, um das schönste Mädchen zu werben, wenn er nur ein Monokel trägt. Aber ein Mann, der sich des Abends vor dem Schlafengehen, nachdem er sich das lange, weiße Nachthemd anzog, erst umständlich die goldumränderte Brille abnimmt und die womöglich in das Futteral steckt, damit sie nicht durch einen unglückseligen Zufall zerbricht und der, bevor er seine junge Frau im Bett küßt, sich vielleicht erst die Brille wieder aufsetzen muß, damit er auch sieht, wohin er sie küßt. — — Gerda kann sich nicht helfen, sie muß unwillkürlich vor sich hin lachen. Sie stellt sich auch plötzlich den Assessor in dem langen, weißen Nachthemd vor. Wie komisch der da wohl aussieht und soviel weiß sie, ihr späterer Mann darf niemals Nachthemden tragen, sondern nur Pyjamas. Sie selber aber wird natürlich auch nach der Hochzeit die dünnen, feinen, durchsichtigen Batisthemden beibehalten, obgleich jetzt ja auch viele Damen des Nachts das Pyjama tragen. Aber die Mode findet nicht ihren Geschmack und hoffentlich denkt ihr späterer Mann darüber ebenso wie sie.
Ach, wenn sie doch nur erst einen Mann hätte! Ihre Sinne und ihre Natur verlangen nicht danach, wenigstens nicht mehr, als das bei jedem jungen Mädchen von Zeit zu Zeit der Fall ist. Aber sie wünscht sich schon einen Mann, weil sie sich des Sonntags immer so furchtbar langweilt. An den Wochentagen wird sie auch später einen Mann sehr gut entbehren können. Da wird sie durch die belebten Straßen der Stadt schlendern, sich die Auslagen ansehen, die Warenhäuser besuchen, mit den Freundinnen plaudern, kurz, ein Wochentag ist herum, man weiß nicht wie. Aber solcher Sonntag ist furchtbar. Da sieht selbst der Himmel ganz anders aus, die Luft ist noch leerer als sonst, die Straßen sind ausgestorben, die Geschäfte geschlossen und die Menschen sehen alle so entsetzlich langweilig aus, noch dümmer und einfältiger als sonst. Und dazu die Unsitte der kleinen Leute, sich gerade an dem Tage zu putzen und sich da gute Kleider anzuziehen. Und die verrückte Sitte der kleinen Mädchen, der Verkäuferinnen und der Dienstboten, sich am Sonntag ein Paar elegant sein sollende Stiefel über die großen Füße zu ziehen, die ihnen viel zu klein sind, so daß die Mädchen vor Schmerzen gezwungen sind, einwärts zu laufen und daß man ihnen schon von weitem ansieht, wo und wie sie der Schuh drückt.
Die meisten Menschen sind nach Gerdas Ansicht am Sonntag verrückt. Sonst würden die auch nicht in das Freie hinausfliegen und die ganze Natur in das fortgeworfenen Stullenpapier einwickeln, daß es am nächsten Tage da draußen aussieht, als wüchse auf dem Boden weiter nichts als Fettaugen, Käserinden und Eierschalen, vermischt mit den Überresten zerbrochener Sonnenschirme, die bei einem Familienausflug, auf den sich alle schon lange vorher freuten, irgendwie ihr Leben lassen mußten. Gerda will sich abermals eine neue Zigarette anzünden, aber dann besinnt sie sich eines anderen. Man kann doch nicht den ganzen Nachmittag rauchen, auf die Dauer wird selbst das langweilig, besonders, wenn man sich schon ohnehin langweilt, und sie langweilt sich ja so jeder Beschreibung spottend gräßlich. —
Abermals gähnt sie ganz laut auf, sie streckt die Arme weit in die Luft, daß sich dabei ihr ganzer jugendlicher Körper reckt und streckt, und sie dehnt sich, daß es plötzlich einen lauten Knacks gibt und daß sie es sofort errät, eine ihrer Korsettstangen ist ihr bei dieser Gähnerei zerbrochen.
Aber das nicht allein. Als sie sich nun weiter herumräkelt, merkt sie, wie die zerbrochene Korsettstange sie in die Rippen piekt und sie sieht es ein, es wird ihr nichts anderes übrigbleiben, als sich auszuziehen und ein neues Korsett anzulegen. Auch das noch! Das hat ihr gerade noch gefehlt. In ihrer ohnehin mehr als verdrießlichen und verärgerten Stimmung kommen ihr beinahe die Tränen. Nur ein Glück, daß sie in Korsetts wenigstens keinen Mangel hat, wie so manches andere junge Mädchen, das nur zwei Korsetts besitzt, das eine Tags am Leibe und des Nachts auf dem Stuhl vor dem Bett, und das andere zum Waschen und zur Reparatur in der Korsettwäsche. Nein, auch in dieser Hinsicht gehört sie Gott sei Dank nicht zur besitzlosen Klasse, denn Korsetts sind geradezu ihre Spezialität. Wie andere junge Mädchen ja für schöne Schuhe und Strümpfe schwärmen, so schwärmt sie für schöne Korsetts, ohne darüber selbstverständlich die Schuhe und Strümpfe nicht zu vernachlässigen. Aber die Mieder und die Korsetts machen ihr doch mehr Spaß. Sie weiß, daß sie sehr gut gewachsen ist und einen sehr hübschen Busen hat. Wegen ihres Décolletés wird sie auf den Gesellschaften von ihren Freundinnen oft beneidet. Na, und schön wie der Busen, muß doch auch das Korsett sein, das diesen Busen umhüllt und umspannt. So hat sie sich denn im Laufe der Zeit eine große Miedersammlung angelegt und von den Beträgen, die sie sich von ihrem reichlichen Taschengeld erübrigt, kauft sie sich immer neue Korsetts und Mieder hinzu, möglichst alle mit echten Spitzen und mit hübschen zierlichen, bunten Bändern.
So ärgerlich sie erst war, sich umziehen zu müssen, jetzt macht es ihr Spaß, in ihrer Korsettsammlung mit ihren hübschen schmalen, wohlgepflegten Händen herumzusuchen und sich immer wieder die Frage vorzulegen: welches wählst du? Dies oder jenes? Im Grunde genommen ist es ja auch ganz gleichgültig, für welches sie sich entscheidet, denn sie zieht das Korsett doch nur für sich an, es wird sie kein anderer Mensch darin sehen, nicht einmal eine Freundin und Gott sei Dank erst recht kein Mann. Das letztere wäre ja noch schöner, sogar ihr späterer Mann darf sie niemals in dem Korsett sehen, oder doch, vorausgesetzt, daß auch er an einer Frau schöne Mieder liebt, die selbst die schönste Figur noch schöner erscheinen lassen.
Immer steht sie noch unschlüssig da, für welches soll sie sich entscheiden? Da klopft es plötzlich unerwartet an die Tür, aber anstatt „herein” zu rufen, eilt sie schnell auf die Tür zu und schließt die ab. Wer auch immer draußen steht, der braucht ihre Sammlung nicht zu sehen, der könnte sich vielleicht über die lustig machen. Die anderen Menschen sind ja so dumm, was verstehen die von unseren Liebhabereien. Noch einmal klopft es draußen und die Stimme des Zimmermädchens ruft halblaut: „Gnädiges Fräulein, gnädiges Fräulein!”
„Ich höre,” gibt Gerda zur Antwort, „aber ich kann nicht öffnen, ich ziehe mich gerade um, was gibt es denn, Ida?”
„Was Schönes,” gibt Ida zurück, „die gnädige Frau Mama haben es zwar noch nicht aufgetragen, es dem gnädigen Fräulein zu bestellen, aber ich wollte es dem gnädigen Fräulein trotzdem gleich sagen, es ist eben Besuch gekommen.”
Unwillkürlich faltet Gerda die Hände und schickt ein Dankgebet zum Himmel. Besuch! Das ist doch wenigstens eine kleine Abwechslung an diesem furchtbaren Nachmittag und wer dieser Besuch auch ist, er soll ihr gleich willkommen sein, aber trotzdem möchte sie wissen, wer da kam und so fragt sie jetzt: „Wer ist es? Ein Herr oder eine Dame?”
„Selbstverständlich ein Herr,” ruft Ida ihr zu, „ich habe auch den Namen auf der Visitenkarte gelesen, Herr Assessor Hans von Werner.”
Ach Gott, gerade der, will Gerda enttäuscht ausrufen, aber das hält sie trotz der verschlossenen Tür vor dem Mädchen nicht ganz passend und sie findet auch keine Zeit zu diesem Zwischenruf, denn Ida fährt schnell fort: „Ich kenne den Herrn Assessor doch schon von früher, er war ja schon ein paarmal hier eingeladen, aber trotzdem sieht er heute ganz verändert aus. Ich weiß nicht, was mit ihm vorgegangen ist, aber ohne seine Karte hätte ich ihn nicht wiedererkannt und so feierlich ist er, mit dem Zylinder in der Rechten, mit einem großen Rosenstrauß in der Linken, und das gnädige Fräulein wissen doch: Rosen zur Linken, das Glück tut inken.”
„Was Sie da mit der letzten dummen Redensart sagen wollen, verstehe ich nicht,” schilt Gerda unwillig durch die Tür. „Im übrigen weiß ich nun Bescheid, daß Besuch da ist. Ich werde mich rasch umziehen und nach vorn zu meiner Mutter gehen. Selbstverständlich werde ich nichts davon verraten, daß Sie mir die Ankunft des Herrn Assessors schon meldeten.”
Gerda hört, wie Ida draußen wieder fortging, dann bleibt sie selbst in der höchsten Erregung zurück. Rosen zur Linken, das Glück tut winken!
In Wirklichkeit hieß es wohl: Schafe zur Linken oder gar Schweine. Aber trotzdem hat sie natürlich sofort erraten, was die freche Ida da mit ihren Worten sagen wollte. Warum läßt sich der Assessor heute so plötzlich und unerwartet sehen? Daß er den Zylinder in der Rechten trug, war selbstverständlich, der Zylinder gehört nun einmal zu einem offiziellen Besuch, aber die Rosen in der Linken, was bedeuten die? Wem will er die schenken? Ihrer Mutter, oder gar ihr? Und wenn ihr, weshalb? Gewiß, er ist in der letzten Zeit ihr eifrigster Courmacher gewesen, aber das allein gibt ihm doch noch kein Recht, ihr einen großen Rosenstrauß zu bringen. Oder sollte er des Courmachens mit einemmal müde geworden sein und sich vorgenommen haben, dem so oder so ein Ende zu machen? Entweder dadurch, daß sie ihn erhört, oder daß sie ihn mit einem Korbe nach Hause schickt. Aber wie kommt er nur darauf, die Entscheidung so schnell herbeiführen zu wollen? Dafür findet sie nur eine Erklärung, sicher hat auch er sich heute nachmittag zu Hause allein halbtot gelangweilt und aus dieser Langeweile heraus ist ihm der Gedanke gekommen, fortan sein Leben, oder wenigstens die Sonntag Nachmittage, mit ihr als seiner Frau teilen zu wollen.
Aber wie dem auch immer sein mag, das alles kommt für sie so überraschend schnell und unerwartet, daß sie gar nicht weiß, wie sie sich verhalten soll, wenn er sie wirklich schon heute um ihre Hand bittet. Bei jedem anderen würde sie vielleicht ohne weiteres gleich ja sagen, aber gerade bei ihm, mit seiner goldenen Brille und bei allem, was sie sonst noch an seiner äußeren Erscheinung auszusetzen hat, aber auch nur an seinem Äußeren, denn in seinem Wesen ist er eigentlich ganz nett, und daß er heute nachmittag ganz einerlei weshalb und warum zu ihnen herausgekommen ist, schon um sie, wenn auch unbeabsichtigt, aus dem dreifachen unvergoldeten Käfig der Langeweile zu befreien, das ist sogar sehr nett von ihm, und wenn er zum Abendessen bleiben sollte, dann wäre das sogar am allernettesten.
Bis sie plötzlich die Furcht befällt, er möge seinen Besuch schon beendet haben, bevor sie noch mit dem Umkleiden fertig ist. Die vorhin für sie noch so wichtige Frage: welches Korsett ziehe ich an, entscheidet sie jetzt schnell dadurch, daß sie mit geschlossenen Augen in die Kommodenschublade greift und das erste beste, das sie erwischt, anlegt. Schon zehn Minuten später ist sie fix und fertig, und von ihrem in der großen Etagenwohnung rückwärts gelegenen Zimmer begibt sie sich nach vorn, nach dem Zimmer ihrer Mutter. Sie hat sich vollständig wieder in der Gewalt. Was da auch immer kommen mag, sie wird sich zu beherrschen und zu verstellen wissen. So betritt sie denn völlig unbefangen das Zimmer ihrer Mutter. „Sei mir nicht böse, Mutti, wenn ich dich störe, ich wollte dich nur fragen, ob —”, da erst tut sie, als ob sie den Besucher bemerkt, der sich bei ihrem Erscheinen sofort von seinem Stuhl erhoben hat, und ganz erschrocken setzt sie hinzu: „Entschuldige, Mutti, ich sehe, daß du Besuch hast, da will ich selbstverständlich nicht stören. Wenn ich das gewußt hätte —” und sie tut, als wenn sie wieder gehen will.
Aber die Mutter hält sie zurück: „Du störst gar nicht, Gerda, tritt nur ruhig näher. Herr Assessor von Werner ist uns allen doch schon längst kein Fremder mehr, und sieh nur die wundervollen Rosen, die Herr von Werner mir im Namen und im Auftrag meiner Kusine Lilly gebracht hat. Auf einer Dienstreise hat der Herr Assessor zufällig vor ein paar Tagen meine Kusine und deren Mann, den Oberregierungsrat, kennen gelernt. Lilly hat sich angelegentlich nach uns allen erkundigt, aber das nicht allein, sie hat Herrn von Werner gebeten, mir ihre besten Grüße mit einem Rosenstrauß persönlich zu überbringen. Wie rührend von meiner Kusine, daß sie es, obgleich wir uns so lange nicht sahen, nicht vergessen hat, wie gerade die Rosen meine Lieblingsblumen sind.”
Die Mutter spricht lebhaft und freudig erregt auf Gerda ein, aber die achtet gar nicht auf das, was sie da zu hören bekommt. Nur soviel hat sie gleich begriffen, daß dieser Strauß wirklich sehr schöner Rosen nicht für sie bestimmt ist, sondern für ihre Mutter, und daß der Besuch des Herrn Assessors auch nicht ihr gilt, sondern ebenfall nur ihrer Mutter. Das findet sie von diesem Hernn von Werner zum mindesten unhöflich. Und dabei hat sie im stillen gedacht, er sei gekommen, um sie um ihre Hand zu bitten! Daß er das heute noch nicht tun wird, ist ihr in mancher Weise zwar sehr lieb, da hat sie Zeit, es sich in Ruhe zu überlegen, was sie gerade ihm antworten soll, wenn er eines Sonntags nachmittags wieder mit dem Rosenstrauß erscheint, wenn er aber dann nur ihretwegen kommt. Aber wer weiß, ob er wiederkommt. Auf die Männer ist kein Verlaß. So fällt ihre Begrüßung mit dem Herrn Assessor ziemlich kühl aus, wenigstens von ihrer Seite. Sie reicht ihm nur flüchtig die Hand und sieht ihn dabei kaum an, aber mit einemmal starrt sie ihn an. Ja, was ist denn für eine Veränderung mit ihm vorgegangen? Das Zimmermädchen, die Ida, hat ganz recht, er ist kaum wiederzuerkennen. Er ist es und er ist es doch nicht. Und plötzlich sieht sie, was sie gleich hätte sehen müssen, er trägt keine goldene Brille mehr, sondern an einer dünnen seidenen schwarzen Schnur baumelt ein Monokel.
Gerda ist im Augenblick so überrascht, daß sie gar keine Worte findet, und unwillkürlich fällt ihr wieder ein, wie sie vorhin ihren Gedanken nachhing und sich dabei den Assessor vorstellte, wie er als Ehemann in das Bett steigt, im langen, weißen Nachthemd, sorgfältig die goldene Brille abnehmend und die in das Futteral steckend, damit die nicht durch einen unglückseligen Zufall zerbricht. Jetzt wird sie ein klein wenig verlegen. Ganz passend war es wohl nicht, sich den Assessor so zu denken, aber sie hat dabei ja eigentlich weniger an ihn persönlich, als im allgemeinen an einen brillentragenden Herrn gedacht. Aber selbst wenn sie ihn persönlich gemeint hätte, wer weiß, ob er sich im stillen nicht auch schon zuweilen mit ihr beschäftigte, wie sie wohl bei dem Zubettegehen — —. Gerda muß sich beherrschen, damit ihr das Blut nun nicht in die Wangen steigt und sie sich dadurch nicht verrät. Schon die Vorstellung allein, ihr zukünftiger Mann könne sie jemals bitten oder es gar von ihr verlangen, daß sie sich ihm in ihrer ganzen Schönheit zeige, hat für sie etwas ungeheuer Kränkendes und Beleidigendes. Aber bei den Männern muß man auf jede Schlechtigkeit gefaßt sein, und soviel weiß sie, wenn sie erst einmal verheiratet ist, wird sie ihrem Manne niemals einen so gräßlichen Wunsch erfüllen, niemals, selbst nicht in der Hochzeitsnacht, es müßte denn sein, daß er vorher das elektrische Licht ausknipste und er ihr sämtliche Eide der Welt schwöre, das Licht auch nicht wieder anzuknipsen. Daß er den Eid nicht halten würde, dessen ist sie sicher, denn dafür ist er ein Mann und sie würde es ihm auch direkt übelnehmen, wenn er sein Versprechen erfüllte. Denn wenn sie auch vor Scham in die Erde sinken sollte und sie sinkt totsicher, sie will es trotzdem aus seinem Munde hören, daß er noch nie eine andere sah, die so schön gewachsen ist wie sie.
Gerda weiß selbst nicht, wie ihr plötzlich alle diese Gedanken durch den Kopf schießen, während sie den Assessor immer noch völlig verwundert anblickt. Dann aber kann sie ihre Neugierde nicht mehr unterdrücken und sie benutzt die erste beste Gelegenheit, um ihm zuzurufen: „Aber Herr von Werner, was ist denn nur mit Ihnen passiert, sie tragen ja jetzt ein Monokel?”
„Vorläufig doch aber nur am Bande,” erwidert er ein klein wenig verlegen, „denn die Kunst, es auch im Auge zu tragen, oder es dort auch wenigstens zu behalten, ist nicht so einfach, das will geübt und gelernt sein,” und dann erzählte er, wie er letzthin den berühmtesten Augenarzt der Residenz aufsuchte, der ihm dringend geraten habe, sich seine Augen nicht weiter durch das Tragen der Brille, die noch dazu für ihn ungeeignete Gläser enthielte, weiter zu verderben, sondern sich an das Monokel zu gewöhnen, zumal die Sehkraft des linken Auges fast vollständig normal sei, bis er zum Schluß übermütig meinte: „Wenn Sie also gestatten wollen, gnädiges Fräulein, werde ich mich Ihnen jetzt einmal mit dem Monokel vorstellen.” Gleich darauf klemmt er sich das Glas in das Auge, er schneidet aber dabei unbeabsichtigt, bis es sitzt, ganz sonderbare Grimassen, so daß Gerda an sich halten muß, um nicht aufzulachen. Aber als das Glas endlich sitzt, kann sie mit ihrer Anerkennung nicht zurückhalten: „Brillant sehen Sie aus, Herr von Werner, nun merkt man erst, wie sehr die Brille Sie früher entstellte. Sie erscheinen auch viel jünger, viel forscher und schneidiger.” Da sieht sie, wie der Herr Assessor bei dem Kompliment, das sie ihm da macht, zuerst ein klein wenig verlegen wird, wie es gleich darauf aber in seinen Augen stolz und freudig aufblitzt, weil er gerade ihr jetzt so gut gefällt, wenigstens besser als früher, und nun wird Gerda ihrerseits etwas verlegen. Vielleicht hat sie es ihm zu deutlich verraten, wie er sich in ihren Augen zu seinem Vorteil veränderte. Das aber wollte sie nicht, so legt sie jetzt die Bremse an und wendet sich anscheinend völlig gleichgültig und gelassen an ihre Mutter mit der Frage: „Habe ich nicht recht mit meinen Worten, Mutter, stimmst du mir da nicht bei?”
Diese hatte noch vor einer Minute die Äußerungen ihres Kindes im höchsten Grade unpassend gefunden. Wie kann ein junges Mädchen es einem Herrn nur so deutlich erklären, wie er ihr äußerlich gefällt. Die Mutter ist über ihr Kind entsetzt gewesen, nun aber, da es sich an sie wendet, erscheinen ihr Gerdas Worte in einem anderen Licht, und so meint sie nun, sich absichtlich belustigt stellend: „Ob Herr von Werner gerade forsch und schneidig aussieht, das zu beurteilen, muß ich dir überlassen, Gerda, auf jeden Fall finde aber auch ich, daß Herr von Werner ohne die Brille jugendlicher und vorteilhafter aussieht. Die Hauptsache aber bleibt natürlich, daß die Augen durch die bisherige falsche Brille nicht weiter verdorben werden. Man kann mit dem Augenlicht nicht vorsichtig genug sein. Ich habe ja auch mit den Augen zu tun, und anstatt, daß es besser wird, wird es in der letzten Zeit eigentlich immer etwas schlechter.”
„Da kann ich Ihnen nur raten, gnädige Frau, den Professor zu konsultieren, der mich letzthin untersuchte,” wirft der Assessor ein, „der Mann ist auf seinem Gebiete wirklich eine Kapazität.”
Und auch Gerda meint: „Ja, Mutti, auch ich rate dir, den Professor bald einmal aufzusuchen,” und übermütig setzt sie hinzu: „Wer weiß, Mutti, viellicht verodnet er auch dir ein Monokel, und stelle dir mal vor, wie komisch das aussehen müßte, wenn du dir des Abends, bevor du die Handarbeit zur Hand nimmst, das Monokel in das Auge klemmst.”
Gerda kann sich nicht helfen, sie muß plötzlich lachen, auch die Mutter lacht, und da die beiden lachen, lacht Herr von Werner schließlich mit, obgleich er das für nicht ganz passend hält, bis Gerda endlich bittet: „Sei mir nicht böse, Mutti, ich wollte mich wirklich nicht über dich lustig machen, aber ein Monokel für dich hätte wirklich sein Gutes. Dann hörte hier im Hause endlich die berühmte Jagd nach der Brille auf. Im übrigen wundert es mich, ganz ernsthaft gesprochen, daß noch nie ein Mensch auf den Gedanken gekommen ist, über diese Jagd ein Lustspiel oder ein Kinostück zu schreiben. Das könnte sehr lustig werden.”
Da öffnet sich die Tür und Gerdas Vater, der Herr Konsul, erscheint auf der Schwelle. Der hatte sich trotz des Sonntags Nachmittags an seinen Schreibtisch gesetzt, um zu arbeiten und um die Zeit damit totzuschlagen. Nun hält er es für seine väterliche Pflicht, sich im Kreise der Seinen wieder zu langweilen, und so blickt er überrascht, aber auch erfreut auf, als er Besuch vorfindet. Im ersten Augenblick erkennt auch er den Assessor nicht wieder, der muß nun erneut von der Konsultation des berühmten Professors erzählen, dann aber erklärt seine Gattin ihm die Geschichte mit den Rosen. Im Anschluß daran plaudert man wieder über die Cousine Lilly und deren Mann, bis der Assessor die Zeit für gekommen hält, an den Aufbruch zu denken.
Aber der Konsul widerspricht: „Was, Sie wollen jetzt schon gehen, Herr von Werner? Sie sind doch eben erst gekommen, wenigstens zählt für mich die Zeit, die Sie bisher meinen Damen widmeten, nicht mit. Wenn Sie nichts Besseres vorhaben, bleiben Sie doch noch etwas.”
„Wenn ich nicht befürchten müßte, zu stören, bleibe ich sehr gerne noch,” stimmt der Assessor dem Konsul bei, „zumal ich auch keinerlei anderweitige Verabredung habe.”
„Sie lieben es also anscheinend auch nicht, Herr von Werner, am Sonntag den Vergnügungen nachzujagen und mit Ihren Freunden und Bekannten Bummelfahrten oder etwas ähnliches zu verabreden?” erklingt da die Stimme der Hausfrau.
Der Herr Assessor weiß nicht recht, wieso und weshalb, aber die Frage kommt ihm vedächtig vor. Wie soll er die beantworten? Wahrheitsgemäß oder mit einer Lüge? Was ist in diesem Falle das Richtigste? Blitzschnell schießt ihm das durch den Kopf. Da bemerkt er, wie Gerda, von ihren Eltern unbeobachtet, ihm heimlich durch ein Schütteln des Kopfes ein Zeichen gibt, das er sofort richtig deutet, und so meint er denn: „Wenn ich Ihre Frage nicht gleich beantwortete, gnädige Frau, liegt das daran, weil ich fast fürchtete, durch die Wahrheit keinen allzu guten Eindruck zu erwecken.”
Aha, sagte sich Gerda im stillen, die Wahrheit, die nun kommt, ist also eine faustdicke Lüge. Er ist in seinem Wesen also gerade ganz das Gegenteil von dem, wie er nun behaupten wird, Da bin ich neugierig.
„Wieso fürchten Sie keinen allzu guten Eindruck durch Ihre Worte zu erwecken?” fragt da der Herr Konsul halb belustigt, halb erstaunt.
„Weil ich am Sonntag das Gewand eines Philisters anziehe, natürlich nur das bildliche Gewand, und das auch bis zum Schlafengehen nicht wieder ablege,” gibt der Herr Assessor zur Antwort. „Ich weiß, die Philister sind nicht nach jedermanns Geschmack. An Wochentagen bin ich auch weit davon entfernt, ein solcher zu sein, im Gegenteil, je lustiger der Abend nach getaner Arbeit, desto lieber ist es mir. Aber an den Sonntagen? Wir hatten in der Oberprima einen von uns allen sehr verehrten Ordinarius, der seinen Ehrgeiz darein setzte, uns nicht nur die trockenen Wissenschaften, sondern auch gute Lehren mit auf den Weg zu geben. Die eine davon lautete: Die Soontagsvergnügungen sind nur für die arbeitenden Klassen da, die an Wochentagen für so etwas keine Zeit haben. Die gebildeten Kreise verleben den Sonntag zuhause, oder, wenn sie doch ausgehen, verbringen sie den im Kreise edler Frauen,” und mit einer Verbeugung gegen Gerdas Mutter und gegen Gerda selbst deutet er an, wo er heute die edlen Frauen gefunden hat.
Der Herr Konsul ist von dem, was der Herr Assessor da eben sagt, nicht allzusehr entzückt, das hat bei ihm keinen allzu guten Eindruck hinterlassen. Umso entzückter aber ist Gerdas Mutter von seinen Worten. Gerda aber denkt: Herrgott, kann der lügen, de gräbt sogar einen sicher schon längst verstorbenen Klassenlehrer wieder aus, um durch dessen angebliche Lehren seine Lügen glaubhafter zu machen. Na, ich weiß nun wenigstens, wie er in Wahrheit beschaffen ist und wie er für gewöhnlich seine Sonntage zu verbringen pflegt, wenn er nicht sicher gegen seine eigene Überzeugung gezwungen ist, einer edlen Frau, wie er das nennt, einen Besuch zu machen und der im Auftrage einer anderen edlen Frau einen Rosenstrauch [sic! D.Hrsgb.] zu überbringen.
Sie allein hat ihn richtig verstanden, sie weiß, daß er des Sonntags noch mehr bummelt, als des wochentags nach getaner Arbeit. Sein Sonntag gehört ausschließlich den Vergnügungen und sie beneidet plötzlich im stillen die Frau, die dereinst seine Frau wird. Die hat es gut, die braucht des Sonntags keine Trübsal zu blasen, die amüsiert und zerstreut sich mit ihm zusammen.
Und mit einemmal sieht sie es gar nicht ein, warum sie nicht diese Frau werden soll? Allerdings, lieben tut sie ihn noch nicht, aber das kann noch kommen, sie sind ja noch nicht einmal miteinander verlobt. Aber selbst wenn sie das erst sein sollten, du großer Gott, die verliebtesten Brautpaare werden oft die unglücklichsten Eheleute. Es ist viel besser, man lernt sich in und während der Ehe lieben, als vorher. Die Liebe vor dem ersten Kuß gleicht der perlenden Kohlensäure in dem Glase Sekt. Rührt man die Kohlensäure aber heraus, dann bleibt von dem Sekt nicht viel nach, ebenso wenig wie von dem ersten Kuß, wenn man ihn erst küßte. Eine ihrer Freundinnen hat kürzlich mal erklärt, der erste Kuß zwischen zwei Liebenden müßte polizeilich verboten werden. Man müßte gleich mit dem zweiten anfangen und den ersten Kuß, der zugleich auch der letzte sei, dürften zwei Menschen, die sich lieben, einander erst in der Todesstunde geben.
In der Theorie mag die Freundin vielleicht mit ihrer Behauptung recht haben, aber in der Praxis läßt es sich doch nicht durchführen, daß man mit dem zweiten Kuß anfängt. Und was dann, wenn der eine Teil stirbt, während der andere in der Todesstunde durch irgend einen Zufall nicht zugegen ist? Dann kommt man um den letzten, vor allen Dingen aber um den ersten Kuß, und der erste ist und bleibt nun einmal der erste. Mit dem Küssen fängt man wie bei dem Zählen mit eins immer wieder an, das tut man schon, wenn man eine Freundin küßt, und nun erst recht, wenn es sich um einen Mann handelt. Ein jeder bekommt von den Lippen seiner Braut den allerersten Kuß, den sie überhaupt einem Mann gegeben hat.
Es gibt viele Männer, die allen Ernstes so dumm und eingebildet sind, das wirklich zu glauben. Es gibt aber auch leider Gottes Männer, die so maßlos ungezogen sind, das nicht zu glauben, die sogar wissen wollen, wer der andere, der allererste war. Als ob die Männer sich noch darauf besinnen könnten, wie das kleine Mädchen hieß, das sie zu allererst küßten und dem sie ewige Liebe schwuren. Die Männer wissen das meistens selbst nicht mehr, wie können sie es da allen Ernstes von ihrer Braut oder von ihrer Frau verlangen, daß die das noch wissen soll? Und selbst wenn die es noch zufällig wüßte, wer da über ein solches phänomenales Gedächtnis verfügt — nein, niemals würde sie den Namen nennen, denn jedem weiblichen Wesen ist die erste Liebe und der erste Kuß so heilig, vor allem aber so unvergeßlich, daß man beides absichtlich vergessen muß, schon um nicht eines Tages später doch davon zu sprechen und um dadurch den ersten Kuß und die erste Liebe nicht zu entweihen. Und plötzlich denkt Gerda darüber nach, wer sie eigentlich als Erster küßte? Es ist ja schon so lange her, aber trotzdem, gewußt hat sie es einmal. Ganz bestimmt, und sie weiß es auch jetzt noch, aber der Name fällt ihr nicht ein. Hieß er nicht Ernst? Nein, doch nicht, das war der Zweite oder der Dritte, nein, doch nicht, Ernst war der Fünfte, das weiß sie genau, weil er es ihr damals sagte: „Wenn du mich jemals vergessen solltest, dann denke an den fünften Buchstaben des Alphabets und an den fünften Tag des fünften Monats im Jahr.” Ja, richtig, der fünfte hieß Ernst, oder Eduard, oder Emil, Edgar. Auf jeden Fall mit einem E war es was, und richtig, jetzt weiß sie auch den richtigen Namen, er hieß Edmund. Es gibt auch zu viele Namen, die mit einem E anfangen, aber Edmund war es bestimmt, denn er hat sie immer gebeten: „Küß meinen Mund mit deinem Mund!” Eigentlich war es sehr ungezogen von dem, so zu ihr zu sprechen und etwas derartiges von ihr zu verlangen, das hätte sie auch ohnedem getan und es wäre sogar viel reizvoller, viel poetischer und sinniger gewesen, wenn er sie nicht immer dazu aufgefordert hätte. Aber was verstehen die Männer, wenn sie nicht gerade von berufswegen lyrische Dichter sind, von Poesie. Aber die lyrischen Dichter sind in Wirklichkeit meistens sehr prosaisch und unverschämt sind die, gar nicht zu sagen! Die verlangen von jedem jungen Mädchen, das sie kennen lernen und das ihnen gefällt, es solle ihre Muse sein. Sie hat auch einmal einen lyrischen Dichter kennen gelernt. In einem Seebade war es und sie trug ein ganz enganliegendes, entzückendes Badekostüm. Nur ein Glück, daß sie damals mit ihrer Freundin in dem Bade war und nicht mit ihrer Mutter, die hätte ihr das Kostüm nie erlaubt, nicht einmal in der geschlossenen Stube, geschweige denn am offenen Strande. Aber fesch war es gewesen und frech war der lyrische Dichter geworden, gar nicht zu schildern! Aber sie hatte ihn schön abblitzen lassen!”
Ihren Gedanken nachhängend, beteiligt sie sich schon längst nicht mehr an dem lebhaften Gespräch, das der Assessor mit den Eltern führt. Denen fällt das gar nicht auf, wohl aber fühlt sie jetzt plötzlich die Augen des Besuchers auf sich gerichtet, und als sie ihn nun, durch seine Blicke von ihren Gedanken abgelenkt, ihrerseits ansieht, da liest sie in seinen Augen die Frage: Warum bist du so verstummt? Hat dich das, was ich vorhin über meine Sonntage erzählte, so enttäuscht, daß du mich nun keines Wortes mehr für würdig hältst?
Er tut ihr leid, der arme Asessor, der mit dem Monokel, das er jetzt im Auge trägt, wirklich sehr gut aussieht. Und so schüttelt sie denn heimlich und verstohlen den Kopf. Das soll so viel heißen als: Habe keine Angst, deine Befürchtungen sind unnötig.
Sie schüttelt und schüttelt den Kopf, bis ihr einfällt, die Männer sind ja so begriffsstutzig, und zwar alle. Wie lange hat es damals nicht bei dem Vetter Fritz gedauert, bis der begriff, daß du dich rasend gern von ihm küssen lassen würdest, wenn er nur endlich erst damit anfinge. Und dabei war der ein zukünftiger Kavallerieoffizier, der sogar ein Rennreiter werden wollte. Der renommierte immer damit, daß ihm später bei dem Rennen kein Graben zu breit, keine Hürde zu hoch sein würde. Je schwieriger die Hindernisse, desto besser. Und dabei wäre er nicht einmal bis zu dem ersten Kuß, nicht einmal bis zu ihren hübschen Lippen gelangt, wenn sie ihm nicht das Nehmen dieses Hindernisses erleichtert hätte.
Ja, die Männer sind wirklich begriffsstutzig. So denkt sie jetzt plötzlich: Auf die Dauer kann er dieses fortwährende Schütteln des Kopfes vielleicht falsch deuten. Sie beschließt daher, ihm etwas zuzunicken, natürlich nur so viel, daß er daraus ersehen kann, er habe sie durch seine Sonntagsschilderung nicht enttäuscht. Bevor sie aber mit dem Kopfschütteln anfängt, schiebt sie ihren Stuhl etwas zurück, erst ein bißchen und dann noch ein bißchen. So, jetzt steht er gut, nun können die Eltern, ohne daß sie sich nach ihr umsehen, nichts davon bemerken, wenn sie dem Assessor zunickt. Na, und umsehen werden sie sich schon nicht nach ihr, das sähe ja gerade so aus, als befürchteten sie, Gerda könne sich hinter ihrem Rücken nicht allzu passend benehmen. Nein, das brauchten sie nicht zu befürchten, aber trotzdem hält sie es für besser, sich etwas lebhafter als bisher an der Unterhaltung zu beteiligen. Man plaudert über gemeinsame Bekannte, über das Theater und über tausend gleichgültige Dinge, und während sie plaudern, nickt Gerda dem Assessor ein paarmal freundlich und aufmunternd zu, bis die Mutter plötzlich fragt: „Sag mal, Gerda, warum hast du denn deinen Stuhl so weit zurückgeschoben, komm doch näher heran, es sieht ja sonst so aus, als gehörtest du nicht zu uns.”
Nur ein Glück, daß Gerda in jeder Hinsicht ein wohlerzogenes junges Mädchen ist, das sich jeder Situation gewachsen zeigt, und so meint sie ganz unbefangen und gelassen: „Laß mich nur ruhig so sitzen, Mutti, das elektrische Licht hat mich vorhin etwas geblendet und es plaudert sich umso angenehmer, je mehr man dem grellen Licht entrückt ist.”
„Ja, ja, mein Kind, da hast du recht,” stimmt die Mutter ihr bei, „überhaupt dieses elektrische Licht. Besser für die Augen und schöner und poetischer war es, als man noch die Petroleumlampe hatte, oder noch früher, als man die Kerzen brannte. Aber das sind alles längst vergangene Zeiten.”
Man spricht von der Gegenwart und vergleicht sie mit der Vergangenheit. Zwischendurch nickt Gerda dem Assessor hin und wieder zu. Eiegntlich hat sie ja schon längst genug genickt, aber es macht ihr Spaß, zu beobachten, wie ihn dieses Zunicken aus seiner Ruhe bringt, wie er sich beherrschen muß, um ganz unbefangen weiterplaudern zu können. Sie errät, am liebsten wäre er mit ihr ganz allein, um sie zu fragen: Wie darf ich mir die Zeichen deuten, die du mir gibst? Liebst du mich, wie ich dich liebe, oder treibst du nur ein herzloses, kokettes Spiel mit mir? — Auf beides wüßte sie keine Antwort, denn lieben tut sie ihn wenigstens heute noch nicht, aber ein kokettes Spiel treibt sie auch nicht mit ihm. Vielleicht ein Spiel, aber kein kokettes. Kokett ist sie überhaupt nicht, das ist ihr nicht nur fremd, sondern geradezu verhaßt. Und wenn er die Zeichen, die sie ihm gibt, falsch deutet, warum müssen sich die Männer bei jedem Blick und bei allem, was die jungen Mädchen in ihrer Gegenwart tun, immer gleich etwas denken?
Aber sie hält es nun doch für besser, den Kopf still zu halten, und nun belustigt es sie, wie er sie durch sein Monokel heimlich und verstohlen bittend und flehend ansieht, als wollte er ihr zurufen: Nicke mir noch einmal wieder zu wie vorhin, damit ich weiß, ob es bisher wirklich Absicht, oder vielleicht doch nur eine ganz zufällige Bewegung deines Kopfes war, die ich mir falsch deutete.
Doch Gerda tut, als verstände sie es nicht, in den Blicken eines Mannes zu lesen. Völlig unbefangen sieht sie ihn an, sie wollte ihm bisher ja nur ein Zeichen geben, daß er in ihren Augen kein Sonntagsphilister sei und wenn er das noch nicht begriffen hat, nützt es auch nichts, wenn sie ihm noch weiter zunickt, und schließlich ist sie doch auch keine chinesische Porzellanfigur, der man einen Schlag auf den Hinterkopf versetzt, und die dann bis zur Bewußtlosigkeit mit dem Kopfe wackelt.
Endlich gibt es der Assessor auf, sie mit seinen Blicken zu bitten. Aber das nicht allein, er scheint sich mit einemmale in diesem Kreise edler Frauen nicht mehr so wohl und behaglich zu fühlen wie früher, denn er fängt an, davon zu sprechen, daß es nun aber wirklich für ihn Zeit würde, sich zu verabschieden, da er den Herrschaften unmöglich den ganzen Abend zur Last fallen könne. Aber davon wollen die Eltern nichts wissen, die halten ihren Gast zurück: „Haben Sie uns so lange das Vergnügen Ihrer Gesellschaft geschenkt, Herr von Werner, müssen Sie uns nun auch die Freude machen, ein Butterbrot bei uns zu essen. Es ist ohnehin gleich Zeit zum Abendbrot, da wäre es von uns mehr als unhöflich, Sie jetzt gehen zu lassen.”
Einen Augenblick ist der Assessor noch unschlüssig. Wieder blickt er heimlich und verstohlen zu Gerda hinüber, und die errät, sie soll den Ausschlag geben. Wennn sie ihm freundlich zunickt, bleibt er, wenn nicht, dann geht er.
Aber Gerda nickt nicht. Gewiß, ihr graut davor, den Rest des Abends, der so nett anfing, allein mit den Eltern verbringen zu müssen, aber ihm das Zeichen geben, das er von ihr erwartet, will sie doch nicht. Daraus könnte und würde er Schlüsse ziehen, über die sie sich heute selbst noch nicht einig ist, und so tut sie denn abermals, als bemerke sie seine Blicke nicht.
„Nun, Herr von Werner,” erklingt da die Stimme der Hausfrau, „wie ist es? Haben Sie sich zum Bleiben entschlossen? Ich möchte es gern wissen, um dem Mädchen Bescheid zu sagen, damit es nachher ein Gedeck mehr auflegt.”
Wenn er bleibt, lasse ich mich köpfen, denkt Gerda im stillen, aber sie hat sich geirrt, er bleibt wirklich. Er bleibt tatsächlich und sagt: „Wenn ich wirklich nicht zu fürchten brauche, daß ich störe, bleibe ich mit tausend Freuden.”
Das ist stark! Gerda findet das sogar beinahe aufdringlich und unverschämt, denn sein Bleiben sagt ihr deutlich genug: Du willst mich los sein, willst mich wenigstens nicht auch deinerseits bitten, daß ich nicht fortgehe und gerade darum bleibe ich erst recht. Du bist vorhin nach deiner Ansicht vielleicht schon etwas zu weit gegangen, nun will ich dich dahin bringen, daß du noch weiter gehst. Spielen lasse ich nicht mit mir, du sollst Farbe bekennen, wie es in Wahrheit in dir aussieht und wie du über mich denkst.
Gerda ärgert sich über den Assessor so rasend, daß sie am liebsten Kopfschmerzen vorschützen und sich in ihr Zimmer zurückziehen würde. Aber erstens würde man ihr nicht glauben, und das täte sie an Stelle der anderen ja auch nicht, aber vor allen Dingen sähe das so aus, als wolle sie Herr von Werner aus dem Wege gehen, und das darf der sich nicht einbilden, der bildet sich anscheinend ohnehin schon genug darauf ein, daß sie ihm zunickte. Gott, die Männer sind ja so eitel! Aber wenn sie innerlich auch noch so rasend ist, es gefällt ihr doch, daß der Assessor bleibt, daß er sich von ihr nicht hat in die Flucht schlagen lassen, daß er es von selbst einsah: Deine Partie ist verloren, wenn du nicht hierbleibst. Mit seiner goldenen Brille scheint er seine sonstige Unsicherheit in seinem Auftreten und in seinem Wesen abgelegt zu haben. Er ist selbstbewußter geworden, und wie er sich nun erneut das Monokel einklemmt und zu ihr hinüberblickt, als wolle er sie fragen: Na, was sagst du nun? — da sieht er in seinem tadellosen Besuchsanzuge beinahe so forsch und schneidig aus wie ein eleganter Leutnant in Zivil. Natürlich nur beinahe, aber doch beinahe.
Der Assessor bleibt und eine gute Vietelstunde später geht man zu Tisch. man war zwar auf keinen Besuch vorbereitet, aber das Essen ist trotzdem reichlich und gut und der Herr Konsul spendiert seinem Gaste zu Ehren sogar eine Flasche Sekt. Und der perlende Champagner gibt Gerda bald ihre gute Laune wieder. Sie trinkt für ihr Leben gern diesen Krabbelwein. Ohne den Assessor hätte es den heute abend ganz gewiß nicht gegeben, schon deshalb söhnt sie sich schnell wieder damit aus, daß der nun dablieb, und sie tut es erst recht, als Herr von Werner, als er ein paar Glas Schaumwein getrunken hat, sich als ein äußerst lustiger und amüsanter Gesellschafter erweist, als ein so lustiger, daß Gerda ihn kaum wiedererkennt, obgleich sie doch schon manchesmal bei Tisch neben ihm gesessen hat. Auch diese Veränderung muß damit zusammenhängen, daß er nun keine Brille mehr trägt. Er ist sich früher selbst wahrscheinlich äußerlich sehr wenig vorteilhaft vorgekommen und hat es deshalb nicht recht gewagt, aus sich herauszugehen, nun aber scheint er sich auch des Wertes seiner äußeren Erscheinung bewußt zu sein.
Und mit einemmale wandelt sie die Lust an, es auszuprobieren, wie er sich wohl benehmen würde, wenn sie, natürlich absichtlich, aber trotzdem völlig unbeabsichtigt, ihre Serviette fallen läßt. Der Trick ist zwar nicht neu, aber ihre Freundin Elfriede behauptete stets, man müsse diesen Trick weiter benutzen, solange man keinen besseren wisse. Wie kommt sie nur dazu, plötzlich an ihre Freundin zu denken? Ob die wohl recht hat, wenn sie behauptet, von dem Augenblick an, da ein Herr sich bückt, um die Serviette aufzuheben, bis zu dem Augenblick, da er sie aufgehoben hat, könne man Wunder der Dreistigkeit seitens der Herren erleben, besonders wenn bei Tisch die Stühle sehr eng aneinander gestellt wären, um mehr Platz zu gewinnen. Und Elfriede hat da Geschichten erzählt, die sie selbst erlebt haben will. Aber die waren selsbtverständlich erlogen, oder wenigstens frei erfunden, denn in Wirklichkeit wird sich doch ein Herr niemals eine solche Frechheit gegen ein anständiges junges Mädchen erlauben. Das hat sie Elfriede auch in das Gesicht gesagt, aber die hat sie ausgelacht und erklärt, es käme selbst auf den allervornehmsten Gesellschaften vor, daß man sich bei Tisch unter dem Tisch viel besser unterhielte, als oberhalb des Tisches. Na ja, was das Fußeln ist, weiß sie natürlich auch schon längst, wenn auch nicht gerade aus eigener Erfahrung. Das hat sie noch nie getan, wenigstens nicht absichtlich, und wenn es trotzdem einmal geschah, war der Herr noch nie auf den Gedanken gekommen, daß es doch bei ihr Absicht gewesen war.
Ob sie nicht einmal lediglich der Wisenschaft halber die Serviette fallen läßt, schon um Elfriede bei der nächsten Gelegenheit erzählen zu können: „Nun weiß ich aus Erfahrung, daß du lügst; so frech, wie du schilderst, sind die Herren denn doch nicht und wenn sie es trotzdem sind, müssen sie von den jungen Mädchen dazu ermuntert worden sein. Wenigstens gegen mich hat sich ein Herr noch nie das Geringste herausgenommen.”
Allerdings hat sie bis jetzt auch noch nie die Serviette fallen lassen.
Nun aber liegt die plötzlich auf der Erde und gleich darauf will sie sich bücken, um sie aufzuheben, aber der Assessor kommt ihr zuvor: „Bitte bemühen Sie sich nicht, gnädiges Fräulein, wenn Sie mir erlauben wollen, Ihnen diesen kleinen Ritterdienst zu erweisen —” und schon während des Sprechens bückt er sich und da —
Wahrhaftigen Gottes, Elfriede hat doch recht! Man kann wirklich Wunder der Dreistigkeit von seiten der Herren erleben, selbst wenn man das anständigste junge Mädchen ist und die Herren in keiner Weise zu solchen Freiheiten ermutigt, denn ganz deutlich fühlt Gerda nun, wie Herr von Werner ihren linken Fuß, der mit einem dünnen, schwarzseidenen Strumpf und einem sehr eleganten kleinen Lackschuh bekleidet ist, zärtlich streichelt. Ja, es kommt ihr sogar vor, als umspanne er für eine kurze Sekunde mit seiner Rechten den feinen schlanken Knöchel ihres Fußes.
Aber das muß sie sich wohl nur eingebildet haben, denn so keck kann er unmöglich gewesen sein, und auch daß er ihren Fuß und ihren Schuh streichelte, muß er wohl unbeabsichtigt getan haben, das sicher auch schon deshalb, weil er sonst wohl nicht so schnell wieder damit aufgehört hätte, denn schon hat er sich wieder aufgerichtet und gibt ihr die Serviette zurück: „Wenn ich bitten dürfte, gnädiges Fräulein.”
Völlig unbefangen sieht er sie dabei an, sodaß auch sie ihm nun ihrerseits völlig unbefangen dankt.
Aber er lehnt bescheiden jeden Dank ab: „Bitte, bitte, gnädiges Fräulein, dazu liegt gar keine Veranlassung vor, es war mir ein großes Vergnügen.”
Da weiß sie, daß sie sich vorhin doch nicht täuschte. Was sie sich einzubilden glaubte, war Wirklichkeit, was sie für Zufall hielt, war Absicht gewesen. Und nun ist sie einfach empört. So empört, daß sie dunkelrot werden will, aber sie unterläßt es doch. Einmal könnte das den Eltern verdächtig vorkommen und dann würde der Assessor sich einbilden, sie habe etwas davon bemerkt, wie seine Hand ihren Fuß liebkoste. Das aber darf nicht sein, und vor allen Dingen darf er sich nichts einbilden. Er darf sich nicht Dinge einreden, die lediglich in seiner Einbildung bestehen, denn das muß er sich doch selber sagen, hätte sie vorhin von seiner Dreistigkeit auch nur das allergeringste bemerkt, dann hätte sie ihm sofort derartig mit dem Fuß auf die Hand getreten, daß ihm die Lust zu weiteren Keckheiten ein für allemal vergangen wäre. Aber da sie nichts bemerkte, konnte sie ihn auch nicht treten, ganz abgesehen davon, daß es eigentlich ein ganz angenehmes, molliges und wohliges Gefühl war, als seine Hand ihren Fuß berührte. Das war ungefähr so, als wenn man zum erstenmal einen Herrn küßt, der einen starken Schnurrbart hat. Sie selbst hat zwar einen solchen Herrn noch nicht geküßt, aber sie hat Freundinnen, die das tun, natürlich nur dann, wenn sie mit dem betreffenden Herrn verlobt sind, oder aber, gewissermaßen zum gegenseitigen Trost, wenn sie sich aus Gott weiß welchen Gründen nicht miteinander verloben können. Die haben ihr zu schildern versucht, wie es ist, wenn man einen Herrn küßt, der über einen starken Schnurrbart verfügt. Aber Gefühle und Genüsse lassen sich nur sehr unvollkommen schildern, die muß man selbst empfinden oder auskosten.
Und der Assessor hat einen sehr hübschen, dichten Schnurrbart. Na, der Gedanke allein, sich von dem, selbstverständlich nur von dem Bart, nicht von seinem Träger, jemals küssen zu lassen, ist absurd. Aber trotzdem, einmal wird doch ein Mann mit einem Schnurrbart kommen, um sie zu küssen, erst als seine Braut, dann später als seine Frau. Und da Herr von Werner ihr schon längst zu verstehen gegeben hat, daß er sich nicht totschießen würde, wenn er Gnade vor ihren Augen fände, so sieht sie es jetzt eigentlich nicht recht ein, warum er später nicht derjenige sein soll, welcher. Von ihm weiß sie wenigstens schon, wie er seine Sonntage verbringt, und in diesem für sie so überaus wichtigen Punkt stimmt sie vollständig mit ihm überein. Ihn braucht sie danach nicht erst zu fragen, und wenn sie das später bei einem anderen täte, würde das vielleicht so aussehen, als ob sie nur heiraten wolle, um sich des Sonntags nachmittags nicht mehr so fürchterlich langweilen zu müssen. Und wenn das auch der wahre Grund ist, den braucht ihr späterer Mann nicht zu wissen, wenigstens nicht gleich von Anfang an, denn wenn die Männer auch oft aus Gründen heiraten, die mit der Liebe selbst sehr wenig zu tun haben, so wollen sie trotzdem, oder gerade deshalb, um ihrer selbst willen geliebt und geheiratet werden.
Das alles beschäftigt Gerda im Stillen, während sie sich angeregt und lebhaft mit den anderen unterhält, und sie unterhält sich so lebhaft, daß sie dabei ganz vergißt, auf ihre Serviette zu achten und daß die nun abermals auf dem Boden liegt. Das ist der reine Zufall, das kann sie mit gutem Gewissen vor Gott und vor jedem irdischen Richter beschwören, aber gerade deshalb steht sie nun eine wahre Todesangst aus, Herr von Werner könne auf den Gedanken kommen, es sei auch diesmal von ihr Absicht, daß sie die Serviette fallen ließ. Allerdings, woher soll er wissen, daß sie bei dem ersten Male dem Zufall etwas nachhalf? Und wenn er ihr auch jetzt wieder das Tuch aufheben will — — nein, nein, das darf er unter gar keinen Umständen, wenigstens muß sie vorher den linken Fuß unter dem Stuhl verstecken, daß er ihn gar nicht finden kann. Aber was dann, wenn er den gerade deshalb doch sucht, bis er ihn schließlich gefunden hat? Und wenn sie jetzt den Fuß zurückzieht, wird das nicht so aussehen, als hätte sie vorhin etwas bemerkt, und als wolle sie nun eine Wiederholung um jeden Preis vermeiden? Nur ein Glück, daß er zufälligerweise noch nichts davon bemerkte, wie ihr die Serviette von dem Schoß herunterrutschte. Noch hat er es nicht gesehen, aber er wird es sehen, sobald sie sich selbst nach ihr bückt, und so schnell sie das auch tun wird, er wird doch versuchen, ihr dabei zuvor zu kommen, um ihr erneut diesen Ritterdienst zu leisten.
Einen Ausweg gibt es, sie kann das servierende Mädchen bitten, ihr eine neue Serviette zu bringen. Gerda atmet ganz erleichtert auf, als ihr dieser rettende Gedanke kommt. Sie fühlt sich so wohl, so leicht, so glücklich, als sei eine ganz schwere Last von ihr gewichen, ja noch mehr, ihr ist, als werde sie sich dadurch vor sich selber rehabilitieren. Gewiß, ihre Schuld war es vorhin nicht, daß die Hand des Assessors ihren Schuh berührte, aber wenn sie ihm nun keine neue Gelegenheit bietet und es sogar absichtlich vermeidet, ihm eine solche zu geben, dann hat sie vor sich selbst den Beweis erbracht, daß sie rein und unverdorben ist, und daß sie zu solchen Keckheiten, wie der Assessor sie wagte, weder Hand noch Fuß bietet.
Ach, Gerda ist ja so glücklich, sie wartet nur darauf, daß das Mädchen, die Ida, in ihre Nähe kommt. Dann wird sie ihr ganz leise zuflüstern: „Bitte, Ida, bringen Sie mir eine neue Serviette.” Niemand wird es hören außer der Ida, aber was dann, wenn die ihren Wunsch nicht versteht, wenn die zur Antwort gibt: Wozu brauchen das gnädige Fräulein denn zwei Servietten, ich habe doch vorhin eine ganz reine auf den Platz des gnädigen Fräuleins gelegt.” Oder aber, selbst wenn die Ida schweigend ihren Wunsch erfüllt, was geschieht, wenn die Eltern oder dieser Herr von Werner es nachher sehen, wenn das Mädchen ihr die Serviette reicht? Je geheimnisvoller das geschieht, desto verdächtiger erscheint es, und wenn Ida ihr das Tuch ohne jede Heimlichkeit offen vor aller Blicke gibt, wird es erst recht auffallen.
Gerda sieht es ein, die Rettung, die ihr noch vor wenigen Minuten als solche erschien, ist gar keine. Eine tiefe Niedergeschlagenheit befällt sie. War sie eben noch himmelhochjauchzend, so ist sie jetzt zu Tode betrübt. Unwillkürlich faltet sie in Gedanken die Hände und schickt ein Gebet zum Himmel: Lieber Gott, du bist doch allwissend, da weißt du sicher auch einen Ausweg aus dieser für mich so schrecklichen Situation; bitte, sage du mir, was ich tun soll.
Aber der liebe Gott sagt es ihr auch nicht, der ist wohl grade damit beschäftigt, einem anderen Menschen eine wichtigere Bitte zu erfüllen. Und Gerda sieht es schließlich selbst ein, man soll den lieben Herrgott auch nicht mit jeder Kleinigkeit belästigen. Und sie braucht die Hilfe des Himmels auch gar nicht, jetzt weiß sie, was sie machen wird. Sie bittet ganz einfach die Ida, ihr die Serviette aufzuheben. Aber nein, das ist auch nicht das richtige, da wird Herr von Werner sie doch fragen: „Gnädiges Fräulein, warum haben Sie mir diesen Befehl nicht gegeben? Es wäre mir ein Vergnügen gewesen.” Aber nein, er soll dieses Vergnügen unter gar keinen Umständen haben, oder wenn doch — dann muß sie so tun, als wenn sie selbst gar nicht weiß, worin dieses Vergnügen für ihn besteht. Sie darf deshalb ihren linken Fuß auch nicht verstecken, wie es ursprünglich ihre Absicht war, im Gegenteil, sie muß den sogar noch weiter vorstrecken als vorhin, aber das nicht allein, sie muß auch den Rock ein ganz klein wenig in die Höhe ziehen, damit er nicht etwa auf den Gedanken kommen kann, sie habe etwas vor ihm zu verstecken oder als wolle sie etwas vor ihm verbergen. Je deutlicher sie ihm zeigt: ich fürchte deinen Angriff nicht, desto weniger wird er es wagen, sie zu berühren.
Aber er wagt es doch, als sie ihn endlich bittet, ihr die Serviette aufzuheben. Wenn sie ganz offen und ehrlich sein will, hat sie es ja auch nicht anders erwartet, als daß er es wagen würde; aber daß er die unverschämte Keckheit besitzt, die auf dem Teppich liegende Serviette ein klein wenig oberhalb ihres linken Knöchels zu suchen, weil sie im Vertrauen auf seine Anständigkeit den Rock ein paar Millimeter hinaufzog, das ist der Gipfel der Frechheit! Und auch jetzt muß sie wieder so tun, als merke sie nicht das geringste, denn sonst müßte sie als anständiges und wohlerzogenes junges Mädchen sofort vom Tisch aufspringen und ihre Eltern veranlassen, diesem mehr als zudringlichen Gast ein für allemal die Tür zu weisen. Das aber will sie ihnen allen ersparen, denn sie ist doch ein wohlerzogenes junges Mädchen und muß als solches jeden Eklat und jeden Skandal vermeiden. In Gegenwart des Zmmermädchens könnte sie es ohnehin nicht sagen, und wenn sie das erst hinausschickt, würde die sicher nebenan an der Tür horchen, um zu erfahren, was denn los sei.
Das alles weiß dieser Herr von Werner natürlich selbst sehr genau. Nur weil er die Gewißheit hat, daß er sich selbst und damit bis zu einem gewissen Grade auch sie öffentlich an den Pranger stellt, wenn sie etwas sagt, wagt er es, sich derartig zu benehmen. Nur deshalb spielt er den vollständig Unschuldigen, als er ihr jetzt die Serviette überreicht. Aber als er eine Minute später nun auch den Versuch macht, mit ihr zu fußeln, da wird es ihr denn doch zuviel. Da steht ihr Entschluß fest, sie will ihn bestrafen, sie will ihm zeigen, daß sie ein gebildetes und gesittetes junges Mädchen ist, und sie will ihn derartig mit dem Fuße stoßen, daß ihm ein für allemal die Lust vergehen soll, solche Annäherungsversuche zu machen.
Aber dann werden neue Bedenken in ihr wach: Stößt ein gebildetes und gesittetes junges Mädchen denn überhaupt jemals mit dem Fuß? Ein Fußtritt, ganz einerlei, wohin er gerichtet ist, bleibt immer etwas sehr Häßliches. Sie hat im Kino mal einen derbkomischen Film gesehen, in dem jemand mit einem starken Fußtritt an die frische Luft befördert wurde. Die große Menge hat darüber laut aufgelacht, sie selbst aber hat bei dieser Szene Ekel empfunden und sich im stillen gefragt: wie kann man nur einen anderen Menschen mit Füßen treten?
Deshalb tritt sie den Assessor auch jetzt nicht, wie sie es sich fest vornahm, und als sie es nun merkt, wie sein Fuß immer weiter den ihrigen sucht. Den überläßt sie ihm da sogar, aber natürlich aus einem ganz anderen Grunde, wie er es annimmt. Nicht etwa, weil sie mit seiner Fußelei irgendwie einverstanden ist, oder als ob sie die gar erwidern wolle, o nein, sie betrachtet diese sogenannte Zärtlichkeit, die er mit ihr austauscht, als eine ganz große Beleidigung ihrer Person, aber je größer und unverdienter die Beleidigung ist, die man erfährt, desto ruhiger und stiller muß man die als gute Christin ertragen. Erst kürzlich hat sie über diesen Text eine sehr ergreifende Predigt gehört. Damals hatte sie allerdings den Ausführungen nicht beigestimmt, sondern sich im stillen gesagt: Na, es sollte nur mal einer wagen, mich zu beleidigen, dem würde ich schön heimleuchten. Aber seit dem Tage ist immerhin schon eine ganze Weile vergangen, und sie sieht jetzt ein, daß sie es inzwischen gelernt hat, anders über den Punkt zu denken.
Aber sie ist doch sehr froh, als man endlich von Tisch aufstehen will, bis sie dann selbst den Vorschlag macht, noch etwas sitzen zu bleiben und die Zigarren und die Zigarette hier im Eßzimmer zu rauchen. Dieser Herr von Werner soll sich um Gottes willen nur nicht einbilden, daß ihr sein Fußeln widerlich und unerträglich ist. Diesen Triumph, die Wahrheit zu erfahren, gönnt sie ihm icht, der kann sich auch ruhig einbilden, seine Frechheit mache ihr Vergnügen. Umso größer wird dann die Enttäuschung für ihn sein, wenn sie ihm bei passender Gelegenheit einmal unter vier Augen zu verstehen gibt, wie völlig gleichgültig, um keinen stärkeren Ausdruck zu gebrauchen, ihr sein Benehmen war. Auf diesen Augenblick der Aussprache freut sie sich schon jetzt, und da die Vorfreude wie überall auch hier das Schönste ist, wird sie diese Aussprache so lange wie nur irgend möglich hinausschieben. Aber sagen wird sie es ihm eines Tages, ganz bestimmt, darauf kann er sich verlassen.
Gerdas Vorschlag findet die Zustimmung der Eltern. Der Vater erhebt sich von seinem Platz, um für sich und seinen Gast die Zigarren und für sie selbst, die eine leidenschaftliche Raucherin ist, die Zigarette zu holen. Gerda hat die Empfindung, als wenn sie ihrem Vater das hätte abnehmen müssen, sie weiß ja auch, wo die Zigarren und die Zigaretten stehen, aber es wäre vielleicht, nein sicher, unhöflich gegen den Gast, wenn sie plötzlich, wenn auch nur vorübergehend, von ihrem Platz aufstände. Aber das nicht allein, hätte sie sich dann wieder hingesetzt, dann hätte sie sich nicht so wieder hinsetzen dürfen, wie sie jetzt sitzt. Was in ihren Augen jetzt lediglich ein Zufall ist, wäre später in seinen Augen sicherlich Absicht, und gerade weil das der Wahrheit entsprochen hätte, darf sie ihn nicht auf solche Gedanken bringen.
So ist Gerda denn, als der Vater aufstand, sitzen geblieben und sie bleibt auch sitzen, bis Herr von Werner sich endlich verabschiedet. Es ist spät geworden, aber die Zeit ist ihnen allen wie im Fluge vergangen. Der Herr Assessor hat es verstanden, sie alle so nett zu unterhalten und eine so angeregte allgemeine Unterhaltung herbeizuführen, daß sie alle einen sehr netten Abend verlebt haben. Und deshalb sagt nicht nur Gerdas Vater, sondern auch Gerdas Mutter, die sonst an den Sonntagen wirklich sehr ungern Gäste bei sich sieht: „Es war sehr liebenswürdig von Ihnen, Herr von Werner, uns heute aufzusuchen, und wenn Sie einmal wieder des Sonntags nichts vorhaben, werden Sie uns jederzeit herzlich willkommen sein.”
Donnerwetter, denkt Gerda im stillen, diese Aufforderung ist eine Auszeichnung, auf die er sich mindestens soviel einbilden kann, als hätte er sich den Orden pour le mérite verdient. Nun bin ich nur neugierig, was er antworten wird, und erst recht, ob er seine Antwort wieder davon abhängig macht, ob ich ihm zunicke oder nicht.
Aber sie macht ihm auch jetzt nicht die Freude, ihm zuzunicken, als er nun meint: „Sie sind außerordentlich liebenswürdig, gnädige Frau, und wenn ich nicht doch befürchten müßte, an einem der nächsten Sonntage zu stören —”
Gerda sieht, sein Monokelblick sucht den ihrigen, aber sie tut, als bemerke sie das nicht. Gewiß, sie hat sein sie tief beleidigendes Fußeln geduldet, aber soweit geht ihre christliche Duldung denn doch nicht, daß sie ihm nun freundlich zunickt und dadurch zuruft: Komme bald wieder und beleidige mich aufs neue. Ob er das will und ob er den Mut dazu hat, muß er allein wissen.
Und er weiß es und er hat auch den Mut, denn er verspricht, an einem der nächsten Sonntage wieder vorsprechen zu wollen.
Gleich darauf hat er sich verabschiedet und als er draußen ist, wird nur Gutes von ihm gesprochen, wenigstens von den Eltern. Gerda beteiligt sich nicht an dem Gespräch, weil sie nicht recht weiß, was sie sagen soll. Sie ist sich noch nicht ganz einig darüber, ob er ihr gefallen oder mißfallen hat. Sie schweigt, und das fällt schließlich der Mutter auf, so daß diese sie nun halb scherzend, halb voller mütterlicher Liebe fragt: „Nun, Gerda, was sagt du zu unserem liebenwürdigen Gast, der uns eben verließ? Daß der ernstlich in dich verliebt zu sein scheint, brauche ich dir wohl nicht erst zu sagen, und auch du scheinst ja Gefallen an ihm zu finden.”
„Aber Mutti, wie kommst du nur darauf?” fragte Gerda erstaunt und überrascht zugleich. „Darüber, ob er mir gefällt, habe ich noch gar nicht ernstlich nachgedacht, wenigstens bin ich noch nicht zu dem Resultat gekommen, das du schon annimmst.”
„Natürlich dringe ich nicht in dich, mein liebes Kind,” erklingt die gütige Stimme der Mutter. „Ich will dich in keiner Weise beeinflussen, obgleich mir, offen gestanden, dieser Herr von Werner als Schwiegersohn später sehr willkommen wäre. Er hat einen außerordentlich guten Eindruck bei mir hinterlassen. Aber trotzdem, prüfe dich selbst, mein Kind, und damit du dazu Gelegenheit findest, habe ich ihn in erster Linie aufgefordert, bald wiederzukommen. Ich tat es auch, weil ich bei Tisch bemerkt zu haben glaubte, daß er dir schon heute nicht ganz gleichgültig ist, denn wenn man, wie du es tatest, zweimal die Serviette fallen läßt — — aber Gerda, deshalb brauchst du doch gar nicht so rot zu werden,” unterbrach sich die Mutter belustigt, „was du da tatest, tun doch alle jungen Mädchen. Auch ich war doch einmal jung, und als dein Vater um mich warb, freute auch ich mich immer, wenn mir die Serviette vom Schoß fiel, wenn wir uns gleichzeitig danach bückten, und wenn unsere Hände sich zu einem leisen, heimlichen, verstohlenen Druck fanden, nicht wahr, Vater?”
Aber der hat die letzten Worte nicht mehr gehört, da er damit beschäftigt ist, im Nebenzimmer die Zigarren und Zigaretten wieder fortzuschließen. So ist Gerda mit ihrer Mutter allein, und das empfindet sie wie eine Wohltat. Vor dem Vater hätte sie sich geniert, selbst von einem heimlichen Händedruck oder auch nur von der Möglichkeit eines solchen sprechen zu müssen, vor der Mutter aber kann sie den, noch dazu der Wahrheit gemäß, ruhig ableugnen, und so meint sie nun: „Sieh mal an, Mutti, solche Heimlichkeiten hätte ich dir und dem Vater selbst in eurer Jugend gar nicht zugetraut. Aber damals waren die Zeiten ja auch anders, da dachte man sich bei solchem verstohlenen Händedruck wohl nicht allzuviel, und ihr beide liebtet euch doch auch schon heimlich. Ich aber liebe Herrn von Werner heute noch nicht, und wenn ich mir vorstelle, daß er es gewgt hätte, mir heimlich die Hand zu drücken, nein, Mutti, das hätte ich niemals geduldet und er würde sich das auch niemals herausgenommen haben, obgleich auch ich natürlich schon längst bemerke, daß er sich um meine Gunst bewirbt.”
„Und ich würde mich freuen, wenn du ihm mit der Zeit deine Gunst schenken solltest,” meint die Mutter abermals. „Auch das, was du mir eben erzähltest, nimmt mich für ihn ein, denn wer weiß, ob mancher andere junge Herr die Gelegenheit nicht benutzt hätte, dir durch eiunen anscheinend ganz zufälligen leisen Händedruck seine Empfindung zu verraten. Du sagtest, mein liebes Kind, du hättest das nie geduldet. Diese Worte ehren dich und zeigen mir aufs neue, daß du immer noch das reine, unverdorbene Kind bist, für das ich dich immer hielt. Aber sage selbst, was soll ein junges Mädchen in solchem Falle machen? Bis zu einem gewissen Grade ist ein junges Mädchen doch gegen einen solchen heimlichen, verstohlenen Händedruck wehrlos, denn sie kann doch keinen Skandal herbeiführen, noch dazu in Gegenwart des Gastes. Sie kann sich höchstens hinterher ihren Eltern anvertrauen und die bitten: Ladet diesen Herrn nicht mehr zu euch ein, er hat sich dies oder jenes gegen mich herausgenommen.”
Das ist dasselbe, was Gerda sich sagte, als der Assessor sich das und das gegen sie herausnahm. Nun hört sie es aus dem Munde der eigenen Mutter, daß sie recht daran tat, keinen Eklat herbeizuführen, sie hat also ganz richtig und korrekt gehandelt, als sie sein Benehmen duldete, und sie mußte es tun, weil auch sie einfach wehrlos war. Wehrlos! Das ist das richtige Wort, das erklärt und entschuldigt alles. Na, und daß sie sich jetzt den Eltern noch anvertraut und die bittet, ihn nicht mehr einzuladen, weil er keck und dreist gegen sie war, hat keinen Zweck mehr, denn die eigene Mutter wünscht es, daß sie an ihm Gefallen findet.
Na, und ob sie nun schließlich Herrn von Werner heiratet oder einen anderen, das bleibt sich gleich. Darüber denkt sie nach, als sie bald darauf ihr Zimmer aufgesucht hat, um sich schlafen zu legen. Lieber wäre es ihr natürlich, wenn sie rasend in ihn verliebt wäre, so rasend wie ihre Freundin Hanni in den hübschen Husarenleutnant, den sie nun endlich hat heiraten dürfen, nachdem ihr Vater seinen Widerstand gegen die Partie aufgab. Ja, die Hanni war verliebt gewesen, so verliebt, daß sie alle sich darüber lustig machten, obgleich sie sie im stillen doch um diese Liebe, nicht um den Husarenleutnant, beneideten. Um eine solche Liebe mußte es etwas Schönes, Erhabenes sein. Aber wer konnte wissen, ob Hannis Liebe auch wirklich echt war. Vielleicht hat sie die ihnen allen nur vorgespielt, um beneidet zu werden. Vielleicht hat sie ihren Verlobten als solchen viel weniger geliebt, als seine bunte Uniform, ihn selber vielleicht weniger als die Stellung, die er als Offizier im Regiment und in der Gesellschaft einnimmt. Wie dem aber auch immer sein mochte, was hindert sie, wenn sie sich wirklich jemals mit Herrn von Werner verloben sollte, dieselbe Verliebtheit zur Schau zu tragen, wie Hanni es tat? Und vor allen Dingen, wa ist die Liebe? Ihr fällt ein altes Wort ein, das da lautet: Wahrsager, werde ich glücklich sein? — Du bist es, bilde es dir nur ein! Ist die Liebe nicht auch zum größten Teil nur Einbildung? Wäre es anders, würde da die Liebe oft so schnell wieder vergehen? Könnte Liebe dann sich jemals in Haß verwandeln? Könnten zwei Menschen, die sich vor der Hochzeit vor Liebe beinahe aufessen, sich sonst sehr bald so gleichgültig, ja, selbst so widerwärtig werden, daß jeder Tag des Zusammenlebens für beide Teile eine Qual bedeutet? Würden zwei Eheleute es sonst fertig bringen, einander zu belügen und zu betrügen? Gewiß, es gibt eine Liebe, die da anhält bis zum Grabe und über das Grab hinaus, aber ob nicht auch bei der Liebe ein gut Teil Einbildung ist? Warum gibt es soviel unglückliche und unverstandene Frauen? Lediglich, weil diese Frauen es sich einreden, unglücklich zu sein? Warum soll man es sich da nicht auch fortwährend einreden können, glücklich zu sein? Na, und wenn sie Herrn von Werner heiraten sollte, ist sie ganz gewiß nicht unglücklich, das schon deshalb nicht, weil sie des Sonntags Nachmittags nicht mehr allein ist, weil die Sonntage dann für sie aufhören, ihre Schrecknisse zu verlieren. Da gesteht sie sich abermals offen ein, wenn es keine Sonntage gäbe, würde sie, wenigstens vorläufig, noch nicht an das Heiraten denken, da würde sie noch warten, bis der ganz Richtige käme, vorausgesetzt, daß der überhaupt kommt. Aber was dann, wenn der nicht kommt? Ihr fällt noch ein altes Wort ein: Jemanden erwarten und ihn nicht kommen sehen, sich ruhelos im Bette drehen, nach langem Dienst nicht vorwärts rücken, das sind drei Dinge zum Ersticken. Jemanden erwarten und ihn nicht kommen sehen — sie aber will später nicht immer vergebens auf den Freier warten und erst recht will sie bei dem Warten nicht ersticken. Sie ist jung, sie will leben und das Leben genießen, und doch ist ihr nun, als wolle sie unter ihren Kissen ersticken. Ihr wird mit einemmal so heiß, daß sie mit den Füßen die Decken zurückstrampelt, ihr ist so warm! Das kommt von all den dummen Gedanken, die schließlich mehr oder weniger mit dem Heiraten zusammenhängen, und ihre Freundin Fanny hat ihr einmal erklärt, wer an das Heiraten und an den Hochzeitstag denken kann, ohne dabei siedeheiß zu werden wie ein gekochter Krebs, der habe Fischblut in den Adern. Nur gut, daß sie so viele Freundinnen hat, die sie mit guten Ratschlägen und mit den Weisheiten aus dem reichen Schatz ihrer Erfahrungen versehen. Aber was die Freundinnen wohl sagen würden, wenn die alles von dem heutigen Nachmittag wüßten?
Gerda lacht stillvergnügt vor sich hin, sie wird sich hüten, davon etwas zu verraten, auch später nicht, wenn sie sich mit Herrn von Werner verloben sollte, dann natürlich erst recht nicht.
Mit diesem Vorsatz schläft sie endlich ein, um am nächsten Morgen sofort nach dem Erwachen wieder an Herrn von Werner zu denken, das schon deshalb, weil sie die ganze Nacht von ihm träumte. Sie will sogar versuchen, sich den Traum in allen Einzelheiten zurückzurufen, so schön war er. Aber als sie nun an eine kleine Episode dieses Traumes denkt, wird sie plötzlich dunkelrot und bricht den Traum jäh ab, denn sie hat ganz deutlich gesehen, wie der Assessor sich des Abends schlafen legt, weder mit dem langen, weißem Nachthemd, noch mit dem Pyjama bekleidet, sondern einzig und allein mit seinem Monokel, das er aber nicht im Auge trug, sondern das er als Bettdecke benutzte, mit der er sich zudeckte.
Gerda muß nicht nur heute, sondern auch in der nächsten Zeit fortwährend an Herrn von Werner denken. Als gutes Kind muß sie sich ja auch, schon um den Wunsch der Mutter zu erfüllen, stets daraufhin prüfen, ob sie sich jemals in ihn verlieben könne, und sie prüft sich so lange und so gewissenhaft, daß sie drei Wochen später allen ihren Freundinnen die gedruckte Anzeige ihrer Verlobung mit Herrn von Werner in das Haus schicken kann, einmal, um die zu ärgern, dann aber auch, weil sie ihren Assessor wirklich liebt. Mit einemmal weiß sie, was Liebe ist, sie braucht sich nicht erst einzureden, verliebt zu sein, sie ist es. Er hat ihr zur Verlobung einen wundervollen Ring geschenkt, und als sie zum allererstenmal einen Herrn mit einem dichten Schnurrbart küßte, da wurde ihr erst klar, wie sehr sie ihn liebt. Und sie wird ihn ewig lieben, denn niemals, unter gar keinen Umständen wird sie es jemals zugeben, daß er sich seinen Schnurrbart nach der neuesten Mode ganz kurz schneiden läßt. Ja, sie liebt ihn über alles, und wenn er jetzt des Abends zu ihnen hinauskommt, würde sie für ihr Leben gern immer aufs neue die Serviette fallen lassen, schon um zu sehen, was er sich jetzt erlauben würde. Aber sie hält das Tuch beinahe krampfhaft fest. Ihre Mutter könnte sie beobachten, und die darf nicht auf den Gedanken kommen, sie und ihr Hans benutzen die Gelegenheit, um sich heimlich und verstohlen die Hand zu drücken. Nein, nur keine Heimlichkeiten, das schickt sich nicht für ein wohlerzogenes, junges Mädchen, noch dazu in Gegenwart der Eltern.
Ach, sie ist ja so glücklich und sie freut sich so unendlich darauf, nun bald seine Frau zu sein. Nur eins trübt ein ganz klein wenig ihr Glück, ihr Hans scheint gar keine Vorliebe für hübsche Korsetts zu haben, wenigstens geht er mit ihr achtlos an den Schaufenstern vorüber, vor denen sie sonst lange stehen bleibt, um die sort ausliegenden teuren Korsetts und Mieder immer aufs neue zu bewundern. Bis sie sich sagt, daß es ja auch nicht ganz passend wäre, wenn er schon jetzt mit ihr zusammen solche intimen Kleidungsstücke bewunderte und sich mit ihr darüber unterhielte. Na, in der Ehe wird sie ja erfahren, wie er in Wahrheit darüber denkt.
Und als sie ein Vierteljahr später seine Frau geworden ist, da erfährt sie es, sogar schon auf der Hochzeitsreise. Mit eigenen Augen muß sie es mit ansehen, wie er fassungslos vor ihrem Korsettkoffer steht, und sie muß es mit anhören, wie er zu ihr sagt: „Aber Gerda, das sieht ja beinahe so aus, als wenn du die Geschäftsreisende einer Korsettfabrik wärest. Drei Korsetts muß eine Dame natürlich haben, eins am Körper, eins in der Wäsche und ein drittes als Reserve, aber was darüber ist, das ist Verschwendung.”
Es ist nur gut, daß sie ihn über alles lieb hat, sonst könnte sie es ihm nie verzeihen, daß er ihr solche Enttäuschung bereitet, aber sie liebt ihn und sie wird es in Zukunft ganz einfach so einzurichten wissen, daß er nichts davon erfährt, wenn sie sich wieder neue Korsetts gekauft hat.
Ach, sie ist ja so glücklich, bis er eines Tages ohne Schnurrbart in das Hotel zurückkommt. Ihr Hans hat sich den Schnurrbart mit dem heißen Eisen ausziehen lassen wollen, aber der Friseurgehilfe, dieser dreimal verdammte Esel, hat ein viel zu heißes Eisen genommen, er hat ihm die linke Schnurrbarthälfte einfach versengt, total verbrannt, und zwar derartig, daß die unmöglich stehen bleiben konnte, die mußte er sich vollständig abschneiden und abrasieren lassen. Na, und mit einer Schnurrbarthälfte konnte er doch nicht in der Welt herumlaufen, da ließ er die andere auch abnehmen, und so erscheint er jetzt völlig glattrasiert.
Gerda ist außer sich und weint die blutigsten Tränen. Wie werden seine Küsse fortan nur schmecken? Daran mag sie gar nicht denken. Sie weint immer herzzerbrechender vor sich hin, und vergebens sucht er sie damit zu trösten, daß er den Bart schnell nachwachsen lassen wird. Spätestens in einem Vierteljahr wird der genau wieder so stark sein, wie er es bisher war. Hätte er gesagt, spätestens in drei Tagen, hätte sie sich vielleicht beruhigt, aber ein ganzes Vierteljahr? Das läßt einen neuen Tränenstrom hervorquellen, so daß er nun halb beleidigt, halb ärgerlich zu ihr sagt: „Gerda, nimm es mir nicht übel, aber du stellst dich beinahe so an, als hättest du mich nur wegen meines Schnurrbartes geheiratet, oder als hättest du wenigstens auch an meinen Schnurrbart gedacht, als du dich in mich verliebtest.”
Gerda weiß ja am besten, wie recht er mit seinen Worten hat, aber gerade deshalb springt sie jetzt auf und schlingt ihre Arme um seinen Hals: „Pfui, Hans, du schämst dich wohl gar nicht, so etwas zu sagen? Natürlich freute auch ich mich über deinen Bart, schon weil er dir so gut stand und weil jede Frau sich freut, wenn ihr Mann gut aussieht, aber mit der Liebe zu dir hat das nicht das geringste zu tun,” und um ihm das nun zu beweisen, küßt sie ihn immer aufs neue, aber ihr ist dabei, als küsse sie nach langen Jahren wieder den bartlosen Mund ihres Vetters Fritz. Die Küsse sind so farblos, denen ist der prickelnde Reiz genommen, die schmecken wie Sekt ohne Kohlensäure, wie abgestandenes Selterwasser oder so ähnlich. Bis sie sich schließlich damit tröstet, daß der Bart wieder wachsen wird. Sie muß sich damit trösten, es bleibt ihr nichts anderes übrig, und schließlich sieht er auch ohne den Bart, mit dem Monokel im Auge, immer noch sehr forsch und schneidig aus.
Bis er eines Mittags, als sie schon wieder von der Hochzeitsreise zurück sind, mit der goldenen Brille auf der Nase nach Hause kommt. Gerda fühlt sich einer Ohnmacht nahe, aber sie beherrscht sich mit aller Gewalt und hört ihm anscheinend voller Teilnahme zu, als er ihr nun den Zusammenhang erzählt: „Ich habe es dir schon lange sagen wollen, Gerda, aber ich fürchtete, dich zu beunruhigen. Es geht mir seit einiger Zeit mit meinen Augen gar nicht gut. zuerst glaubte ich, das sei nur Einbildung, weil ich mich immer noch auf das Urteil des berühmten Professors verließ. Aber die Sehkraft wurde nicht nur immer schwächer, es verursachte mir auf die Dauer auch unerträgliche Schmerzen, das Monokel zu tragen. Da habe ich mich heute Morgen in der Universitätsklinik untersuchen lassen, und die dortigen Ärzte haben mir erklärt, der Herr Professor sei sicherlich ein außerordentlich tüchtiger Arzt, aber in meinem besonderen Falle hielten sie ihn für ein Riesenrindsvieh. Sie gebrauchten zwar nicht gerade diesen Ausdruck, aber sie sagten es dem Sinne nach. Die haben mir das Monokel für alle Zeiten verboten. Ich darf es nie wieder tragen, wenn ich mir meine Augen nicht vollständig verderben will. Anstatt des Monokels haben sie mir wieder meine alte goldene Brille verordnet, allerdings mit anderen Gläsern, und, offen gestanden, bin ich sehr froh darüber, ich war zu sehr an die Brille gewöhnt.”
Ihr Hans muß wieder eine Brille tragen und der Schnurrbart scheint noch viel langsamer nachwachsen zu wollen, als ihr Hans es ihr damals zum Troste sagte.
Die goldene Brille! Da ist sie nun wieder.
Gerda ist so außer sich, daß sie am liebsten in Ohnmacht gefallen wäre. Aber das darf sie nicht, denn das könnte so aussehen, als ob sie etwas geschenkt haben wolle, um wieder zu sich zu kommen. Si beherrschte sie sich denn, aber die Tränen kann sie nicht zurückhalten. Sie weint und weint, während ihr Mann sie völlig verständnislos ansieht, bis er ihr schließlich zuruft: „Gerda, nimm es mir nicht übel, aber ich verstehe dich nicht. Warum weinst du denn nur? Daß mir das Monokel nach deiner Ansicht besser stand als die Brille, weiß ich. Das hast du mir mehr als hundertmal erzählt, aber das ist doch kein Grund zum Weinen, denn schließlich hast du mich doch um meiner selbst willen geheiratet und nicht meines Monokels wegen.”
Gerda weiß selbst am besten, wie wenig recht er mit seinen Worten hat. Gewiß, sie liebt ihn nicht nur seines Monokels wegen, aber das war ein Grund mit, um ihn zu lieben. Das darf sie aber natürlich nicht eingestehen, und so ruft sie ihm jetzt mit tränenerstickter Stimme zu: „Pfui, Hans, du schämst dich wohl gar nicht, so etwas auch nur zu sagen. Wenn ich weine, so hat das einen ganz anderen Grund.” Welchen nur, denkt sie im stillen, dann fällt es ihr ein und sie fährt schnell fort: „Ich weine doch nur, weil dieser berühmte Professor deine Augen so falsch beurteilt hat. Stelle dir nur vor, wenn du nicht zur rechten Zeit in die Universitätsklinik gegangen wärest, da hätten sich deine Augen immer mehr verschlechtert, bis du eines Tages vielleicht gar nichts mehr hättest sehen können, weil du vollständig erblindet wärest. Gott sei Dank ist es ja nicht dahin gekommen, aber der Gedanke allein, daß der Fall eines Tages hätte eintreten können, der Gedanke allein ist zu entsetzlich, einzig und allein der läßt mich weinen und du glaubtest —” und von neuem in Tränen ausbrechend, setzt sie hinzu: „Ach, was wißt ihr Männer von der selbstlosen Liebe einer Frau!”
Davon schien allerdings gerade ihr Mann blitzwenig zu wissen. Trotz ihres tränenumschleierten Blickes sieht sie es dennoch, er steht mit einem ganz verdutzten, ja sogar mit einem ganz dummen Gesichtsausdruck ihr gegenüber und sie merkt es ihm an, auf jede Deutung ihrer Tränen ist er vorbereitet gewesen, nur nicht auf diese. Und deshalb zweifelt er vielleicht im stillen noch ein klein wenig an ihrer selbstlosen Liebe. Er muß ihr aber glauben, und deshalb fängt sie nach einer kleinen Weinpause von neuem damit an, heiße, blutige Tränen zu weinen. Und die wirkten, ihr Mann tritt auf sie zu, streichelt ihr zärtlich die Haare und die Wangen und bittet sie: „Sei mir nicht böse, mein Lieb, ich sehe es ein, ich habe dich schwer beleidigt, dich bitter gekränkt. Sei mir deswegen nicht mehr böse, aber es ist für uns Männer so schwer, uns ganz in die Seele einer edlen Frau hinein zu versetzen. Wir Männer sind selbst wenn wir lieben, oder gerade dann große Egoisten, während ihr Frauen, wenn ihr wirklich liebt, niemals an euch, sondern immer nur an den denkt, den ihr liebt.”
Ob ihr Hans das, was er da sagt, selber glaubt? Er ist sonst sehr klug und hat seinerzeit das Staatsexamen sogar mit Auszeichnung bestanden, aber trotzdem, die trockenen Wissenschaften, die Frauen und die Liebe sind drei ganz verschiedene Dinge. Sie aber muß selbstverständlich so tun, als glaube sie, daß er an seine eigenen Worte glaubt. Deshalb ruft sie ihm nun rasch zu: „Siehst du es endlich ein, wie bitter unrecht du mir tatest? Da du mich darum bittest, will ich dir verzeihen, ob ich aber auch so schnell vergessen kann?”
Abermals erschüttert ein Tränenausbruch ihren Körper. Ihre Freundin Klara hatte ganz recht, als die ihr einmal sagte: Merke dir eins, Gerda, es ist für eine junge Frau viel wichtiger, ordentlich weinen, als ordentlich kochen zu können. Und Gerda kann ordentlich weinen. Sie hat es früher nie probiert, es sind keine einstudierten Wein- und Tränenszenen, aber die gelingen ihr vielleicht gerade deshalb ausgezeichnet, denn abermals nähert sich ihr jetzt ihr Mann und bittet sie: „Sei wieder ganz gut, Liebling, was habe ich davon, wenn du mir verzeihen willst, nicht aber auch zugleich vergessen kannst?” Und noch einmal bittet er: „Sei wieder ganz gut, Gerda, dann schenke ich dir auch was Hübsches.”
Darauf hat sie nur gewartet, aber trotzdem schüttelt sie jetzt den Kopf: „Ich will nichts geschenkt haben, Hans, wenn ich deine häßlichen Worte vergesse, dann vergesse ich die auch ohnedem. Es ist so kleinleutisch, in solchem Falle von Geschenken zu sprechen, ich will keins haben, denn das, was ich mir leidenschaftlich wünsche, schenkst du mir doch nicht.”
„Das kommt doch wohl darauf an, was es ist,” erkundigt er sich, „wenn es nicht gerade —”
„Siehst du wohl,” fällt sie ihm schnell in das Wort, „siehst du wohl, daß ich recht hatte, denn sicher wolltest du sagen: Wenn es nicht gerade ein neues Korsett ist. Aber es ist eins, ich habe es im Schaufenster in der Leipziger Straße liegen sehen, es ist einfach bezaubernd, aber dafür hat du leider Gottes kein Verständnis und dabei ist es spottbillig. Es ist ganz mit echten Spitzen besetzt und kostet trotzdem nur zweihundertundfünfzig Mark.”
„Na schön, meinetwegen,” stimmt er ihr nach kurzem Besinnen bei, „meinetwegen kaufe es dir, wenn es dich glücklich macht.”
Ja, es macht sie glücklich und sie ist wieder ganz glücklich, aber um sich nicht zu verraten und um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, weint sie zwar noch eine kleine Weile vor sich hin, dann aber gelingt es ihr nach und nach, sich wieder zu beherrschen und ihre Tränen zu trocknen. Gleich darauf geht sie so langsam wie nur möglich an das Telephon, obgleich sie am liebsten im Sturmschritt hingelaufen wäre und erkundigt sich bei der Firma in der Leipziger Straße, ob das Korsett, das sie im Schaufenster sah und das sie ganz genau beschreibt, noch da ist. Und sie hat Glück, es ist noch unverkauft.
Nach zwei Stunden hat sie das Korsett in ihrem Besitz und ihre Freude kennt keine Grenzen. Gewiß, ihr Mann hat ihr vorhin bitter unrecht getan, aber er ist doch so gut zu ihr, und wenn er nun auch wieder die gräßliche goldene Brille tragen muß, für seine Augen ist es jedenfalls besser und vielleicht erfährt sie gelegentlich die Adresse eines ganz berühmten Augenarztes, zu dem sie ihren Hans schicken kann, damit er sich nochmals von dem auf das Genaueste untersuchen läßt. Vorher aber wird sie selbst diesen Arzt aufsuchen und ihn bitten, ihrem Hans, wenn irgend möglich, wieder das Monokel zu verschreiben, denn daß seine Augen schlechter geworden sein sollen und daß er in denen sogar Schmerzen verspürte, bildet er sich sicher nur ein, weil er zu sehr an die Brille gewöhnt war, vor allem aber wohl, weil sie nun seine Frau ist, weil er nicht mehr um sie zu werben braucht, sondern weil er sie besitzt und weil er es nach seiner Ansicht nicht mehr nötig hat, viel Wert auf sein Äußeres zu legen. Die Männer lassen sich in der Ehe nur zu leicht gehen. Da hat ihre Freundin Margott ganz recht, als die das einmal äußerte. Auch sie selbst hat in der Hinsicht an ihrem Manne schon ihre Erfahrungen gemacht, aber sie ist trotzdem immer noch glücklich, obgleich sie bereits schon sechs Wochen verheiratet ist und sie wird immer glücklich bleiben. Wie heißt es doch: Wahrsager, werde ich glücklich sein? Du bist es, bilde es dir nur ein! Und sie braucht es sich nicht einmal einzubilden, sie ist es auch so, bis wieder einmal ein Sonntag kommt. Eigentlich der erste Sonntag in ihrer jungen Ehe, denn die anderen zählten nicht mit. Da war man noch auf Reisen und nach der Rückkehr machte man an einem Sonntag die vielen Besuchsfahrten bei den zahlreichen Bekannten und empfing an den beiden folgenden Sonntagen die Gegenbesuche. Jetzt kommt der erste Sonntag in ihrer jungen Ehe, der ihr und ihrem Hans allein gehört. Sie freut sich auf den wie ein Kind auf das Weihnachtsfest und gar zu gern hätte sie nach Kinderart ihren Hans gefragt: Was schenkst du mir zu diesem Sonntag? Oder richtiger: Was hast du dir für diesen Sonntag an Vergnügungen und Zerstreuungen aller Art ausgedacht, um mich für die zahllosen langweiligen Sonntage im Elternhause zu entschädigen?
Aber sie fragt nicht, sie will sich die Freude nicht verderben, sie will sich überraschen lassen.
Und die Überraschung kommt, denn als der Sonntag da ist, erhebt sich ihr Hans nach dem Nachmittagskaffee um vier Uhr von seinem Platz und sagt: „So, Gerda, jetzt mußt du mich entschuldigen, es wird Zeit für mich, daß ich in meinen Klub gehe.”
Gerda glaubt ganz deutlich zu fühlen, wie die Stuhlbeine unter ihr zusammenbrechen, sie hat die Empfindung: gleich liegst du auf der Erde. Deshalb klammert sie sich nun schnell mit beiden Händen an die Tischplatte und fragt ihren Mann mit entgeisterter Stimme: „Wohin gehst du jetzt?”
„In den Klub,” wiederholt er völlig unbefangen und setzt gleich daruf hinzu: „Habe ich es dir denn wirklich noch nicht erzählt, daß ich Mitglied des Metropolklubs bin? Es ist eine große Auszeichnung, dem anzugehören, man ist bei der Aufnahme der neuen Mitglieder außerordentlich wählerisch. Von einem Dutzend, das sich meldet, findet höchstens ein Drittel Aufnahme.”
„Und diesem Klub gehörst du an?” fragt sie immer noch tonlos.
„Schon seit zwei Jahren,” gibt er zur Antwort.
„Und du gehst des Sonntags regelmäßig in den Klub?” erkundigt sie sich weiter, wenngleich ihr das Sprechen so schwer fällt, daß ihr kaum die Worte über die Lippen wollen.
„Regelmäßig,” stimmt er ihr bei, „ich gehe jeden Sonntag dorthin, wenn mich nicht etwas ganz Besonderes davon abhält. So zum Beispiel damals der Besuch, den ich deiner Mutter machen mußte, um ihr die Grüße und die Blumen der Kusine zu überbringen. An einem Wochentage fand ich dazu wirklich keine Zeit und an jenem Sonntag versäumte ich auch gerade in dem Klub nichts, weil dort die Zentralheizung nicht funktionierte. Es war da irgendein Rohr gesprungen und es dauerte ein paar Tage, bis der Schaden ausgebessert war.”
Ihr saust und braust es in den Ohren. Ihr ist, als fiele sie vom siebenten Himmel in die unterste Hölle. Deshalb also hatte er an jenem Sonntag Nachmittag nichts vorgehabt, deshalb war er zum Abendessen geblieben, obgleich sie selbst ihn mit keiner Silbe dazu aufforderte und auch wohl nur, weil er nicht wie sonst am Sonntag Karten spielen konnte, hatte er mit ihrem Fuß gespielt. Und sie, sie hatte mitgespielt. Ihr ist, als müsse sich die Erde öffnen, als müsse sie in der auf Nimmerwiedersehen versinken.
Aber nein, sie muß sich irren, denn er selbst hat doch damals erklärt, er ginge des Sonntags niemals aus. Er hat sogar ausführlich geschildert, in welcher philisterhaften Weise er seine Sonntage zu verleben pflegt. Das ruft sie ihm nun auch zu, damit er ihr den Widerspruch zwischen seinen Worten und seinen Gewohnheiten erklärt.
Und das tut er denn auch, aber aus seiner Entschuldigung hört sie die Anklage gegen ihre eigene Person heraus: „Erlaube mal, Gerda,” verteidigt er sich, „ich bin mir durchaus keiner Schuld bewußt. Als deine Mutter mich fragte, ob ich des Sonntags viel ausginge, wollte ich die Wahrheit gestehen, aber ich glaubte aus der Frage heraus zu hören, daß deine Mutter es viel lieber von mir hören würde, daß ich den Sonntag zu Hause verlebe. Zur Sicherheit sah ich dich auch noch an. In meinen Blicken mußtest du die Frage lesen: Soll ich die Wahrheit gestehen? Da schüttelst du mit dem Kopf, nicht nur einmal, sondern zweimal und öfter. Da wußte ich Bescheid und wenn ich damals log, trifft mich keine Schuld, nur deine Mutter, die mich damals durch ihre Fragestellung zwang, von der Wahrheit abzuweichen, und hauptsächlich trifft die Schuld dich, denn ohne dein Kopfschütteln hätte ich ruhig von meinem Klub erzählt, denn daß ein Mann in meinen Jahren und in meiner gesellschaftlichen Stellung einem Klub angehört, ist selbstverständlich, das hättest du dir schon an jenem Sonntag allein sagen können, das hättest du dir sogar sagen müssen.”
„Ja, das hätte ich mir sagen müssen,” wiederholt sie ganz mechanisch. Ihr ist ganz wirr im Kopf, alles dreht sich mit ihr rundum, sie kann keinen klaren Gedanken fassen, nur soviel weiß sie, sie hat ihm damals nicht geglaubt, daß er des Sonntags stets zu Hause sei, sie hat sich sogar darüber gefreut, daß er so gut zu lügen verstand, aber daß seine Vergnügungen, an denen sie doch teilnehmen wollte, lediglich darin bestanden, jeden Sonntag in den Klub zu gehen — —
„Kommst du denn wenigstens bald wieder nach Hause?” erkundigte sie sich, nur um überhaupt etwas zu sagen.
„Was nennst du bald, Gerda?” meint er seinerseits. „,Bald' ist ein sehr dehnbarer Begriff. Mit dem Abendessen brauchst du des Sonntags ein für allemal nicht auf mich zu warten. Die ganze Woche gehört dir, der Sonntag Nachmittag und Sonntag Abend aber gehört meinen Freunden. Das muß in Zukunft auch so bleiben, schon damit die Herren nicht denken, ich stünde unter deinem Pantoffel und du erlaubtest es mir nicht, auszugehen, weil du dich ohne mich langweiltest. Das wäre ein großes geistiges Armutszeugnis, das du dir da ausstellen würdest, denn eine kluge, geistreiche Frau langweilt sich niemals, Gerda, und außerdem hast du ja deine Eltern hier und zahlreiche Freundinnen. Nun aber wird es wirklich für mich die allerhöchste Zeit, also auf Wiedersehen, Liebste.”
„Und wann kommst du wieder?” fragt sie mit zuckenden Lippen.
„Wie immer, Gerda,” gibt er zur Antwort, „später als um zwei oder drei Uhr komme ich nie zurück, manchmal wird es allerdings auch vier Uhr morgens, aber das sind Ausnahmefälle, die dich in keiner Weise zu beunruhigen brauchen und du hast es auch nicht nötig, zu befürchten, daß in dem Klub hoch gespielt wird. Das ist dort streng verboten. Wir spielen natürlich Karten, aber zu einem mäßigen Einsatz, daß man im schlimmsten Falle seine zwanzig oder dreißig Mark verlieren kann. Na und die werden dir keine schlaflosen Nächte bereiten. Also auf Wiedersehen morgen früh bei dem Kaffee.”
Und draußen ist er, noch bevor sie die Zeit und die Kraft gefunden hätte, ihn zurück zu halten.
Starr und fassungslos sitzt sie da, sie kann nicht einmal weinen. Aber das hätte ja auch nicht viel Zweck, denn er würde ihre Tränen nicht sehen und selbst wenn er die sähe, würde er die nicht verstehen. Es hätte auch keinen Zweck, ihm zuzurufen: Hans, erbarme dich meiner, was soll denn nur aus mir werden? Ich habe dich doch nicht geheiratet, damit ich jeden Sonntag Nachmittag allein zu Hause sitze. Im Gegenteil, ich heiratete dich doch, damit ich nicht mehr allein wäre.
Aber das durfte sie ihm nicht eingestehen, denn das könnte und würde vielleicht so aussehen, als hätte sie ihn nur deshalb geheiratet, oder wenigstens deshalb mit, und was dann, wenn er das dauernd übel nähme? Die Männer sind ja so eitel, die wollen nur um ihrer selbst willen geliebt werden und bilden sich auch allen Ernstes ein, daß die Frauen sie nur um ihrer selbst willen lieben.
Nein, ihr Mann darf es nie erfahren, daß sie in erster Linie nur als Sonntagsnachmittagsvergnügen heiratete und sie darf ihm auch nicht eingestehen, daß sie sich in Zukunft ohne ihn am Sonntag ebenso langweilen wird wie früher, als sie noch ein junges Mädchen war. Nicht einmal darüber kann sie sich mit ihm aussprechen, denn er hat ihr erklärt, eine kluge und geistreiche Frau langweilt sich nie. Na und eher stirbt sie vor Langeweile, als daß sie ihrem Manne gegenüber zugibt, keine kluge und geistreiche Frau zu sein. Daß sie das ist, wird ihr erst jetzt ganz klar, denn wäre sie das nicht und hätte ihr Mann sie nicht längst als solche erkannt, er, ein kluger, studierter Herr, hätte sie sonst sicher niemals geheiratet.
Die Erkenntnis, klug und geistreich zu sein, bereitet ihr große Freude. Für dumm hat sie sich ja früher nie gehalten, aber trotzdem, wie wenige Frauen können von sich behaupten, klug und geistreich zu sein, und wie wenige Männer gibt es, die ihrer eigenen Frau ein solches Lob zollen. Daß ihr Mann das tat, söhnt sie plötzlich damit aus, daß er in den Klub gegangen ist. Die Erkenntnis ihrer geistigen Begabung zerstreut und belustigt sie, wie ein Spielzeug imstande ist, den Kummer eines kleinen Kindes zu verscheuchen. Aber jedes Kind bekommt sehr schnell selbst das schönste Spielzeug über, und so ergeht es auch Frau Gerda. Nachdem sie sich eine kleine Stunde darüber gefreut hat, als klug und geistreich anerkannt worden zu sein, langweilt sie das, sie langweilt sich überhaupt, sie langweilt sich entsetzlich, sie langweilt sich noch mehr, als sie sich jemals als junges Mädchen langweilte.
Ach und was hatte sie nicht alles gerade von diesen Sonntagnachmittagen erhofft, wenn sie erst verheiratet sein würde.
Die Trauer, die Verzweiflung, aber auch der Ärger, der Zorn, die Enttäuschung, kurz alles, was es auf diesem Gebiet nur gibt, kommt über sie. Und ob ihr Mann es sieht oder nicht, es hilft nichts, sie muß weinen. Und während des Weinens denkt sie an die Worte, die einmal ihre Freundin Dora bei einem Nachmittagskaffee äußerte: „Na, soviel weiß ich, wenn ich jemals heiraten sollte, und ich werde schon dafür sorgen, daß ich bald einen Mann bekomme, dann werde ich an das Wort aus der ,Göttlichen Komödie' denken: Laßt alle Hoffnungen hinter euch, ihr, die ihr hier in die Ehe eintretet. Nur wer von der Ehe nichts erhofft, aber auch gar nichts, nur dem bereitet sie keine Enttäuschung. Nur der findet vielleicht hin und wieder eine Minute, in der er sich eingesteht, eigentlich hast du dir die Ehe noch schlimmer vorgestellt.”
Ja, die Dora war und ist ein kluges Mädchen, aber sie selbst war dumm und sie kommt sich auch jetzt noch entsetzlich dumm vor, obgleich sie offiziell als kluge und geistreiche Frau anerkannt worden ist.
Sie weint und weint vor sich hin und denkt darüber nach: Warum hast du eigentlich geheiratet?
Es ist so schwer, darauf eine Antwort zu finden, denn gerade bei ihr sprach so vieles dabei mit, die Langeweile an den Sonntagnachmittagen, die Tatsache, daß ihr Hans plötzlich keine goldene Brille mehr trug, daß er so wahnsinnig keck war, mit ihr zu fußeln, und daß sie ihm gar nicht mehr hätte begegnen können, wenn sie nicht seine Frau geworden wäre. Und es sprach noch vieles andere mit, über das sie sich im Augenblick nun umso weniger klar werden kann, als jetzt gerade über ihrem Zimmer in der ersten Etage Klavier gespielt wird. Obgleich das Haus nach der Aussage des Wirtes so dick und solide gebaut ist, daß man von den Bewohnern der oberen Etage selbst dann gar nichts hört, wenn die ein Konzert veranstalten, hört sie deutlich jeden Ton des Instrumentes, und zum Überfluß erklingt nun auch noch die Stimme einer Sängerin.
Die Melodie, die dort oben gespielt wird, kommt ihr sehr bekannt vor. Was ist es doch nur? Sicher eine Operette, aber welche? — Jetzt weiß sie es, es ist der „Zigeunerbaron” und nun, da sie ganz scharf hinhört, glaubt sie auch die Worte des Textes zu verstehen, der oben gesungen wird, das aber nur deshalb, weil sie den Text zu der Melodie ohnehin genau kennt. Wie oft hat sie sich nicht den „Zigeunerbaron” angehört, wie oft den nicht selbst auf dem Klavier gespielt. Ja, ja, die Melodie und der Text sind ihr bekannt, und nun beginnt die Sängerin noch einmal:
Wer uns getraut? — Sag du — nein du.
Der Dompfaff hat uns getraut.
Zwei Störche, die klapperten laut
Und leis' sang die Nachtigall dazu in stiller Nacht:
Die Liebe, die Liebe ist eine Himmelsmacht!
Da schlägt sie laut aufschluchzend die Hände vor das Gesicht und vergräbt ihren Kopf in die weichen Kissen der Chaiselongue, denn jetzt ist es ihr wieder ganz klar geworden, weshalb sie ihren Hans heiratete — einzig und allein aus Liebe! —