Militärhumoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Der Lügenmajor”
Endlich war der seit Jahren ersehnte Tag da, endlich hatte das Militärkabinett sich des Offizierkorps des Infanterieregiments von Dingsda erbarmt und dessen Kommandeur zum General befördert. Die Offiziere waren ihren alten Oberst los und ein unbeschreiblicher Jubel herrschte im Kasino, als diese Nachricht bekannt wurde. Ein junger Leutnant stellte sich auf den Kopf und versuchte mit den Füßen Hurra zu rufen, ein zweiter lief auf den Händen, weil seine Beine ihn vor Glückseligkeit nicht mehr zu tragen vermochten, ein dritter sprang über Stühle und Tische, ohne sich um die Scherben zu kümmern, die er dabei anrichtete, jeder äußerte seine Freude anders, aber alle freuten sich. Und nicht ohne Grund, denn der Oberst hatte es absolut nicht verstanden, sich die Liebe seiner Offiziere zu erwerben, er wa beinahe verhaßt. Der Kommandeur hatte das Kunststück fertiggebracht, es mit allen zu verderben, im Dienst war er unausstehlich, er machte seinen Offizieren das Leben zur Hölle, und außerdienstlich war er so unliebenswürdig wie nur möglich. Das war nicht böse Absicht von ihm, er gehörte nun einmal zu jenen bedauernswerten Naturen, denen es nicht gegeben ist, sich Freunde zu erwerben. So gab es im Regiment tatsächlich auch nicht einen einzigen, der nur jemals den Versuch gemacht hätte, ihn in Schutz zu nehmen. Von dem Oberstleutnant beim Stabe bis herab zu dem jüngsten Fähnrich freuten sich alle, daß sie den Kommandeur endlich los waren.
„Kinder,” sagte der dicke Stern plötzlich, „ihr kennt mich. Ich habe mir in den vierzehn Jahren meines Leutnantsdaseins schon gar manches Mal die Nase begossen, so viel aber weiß ich, an dem Abend, an dem wir unseren alten Oberst wegessen, betrinke ich mich bis zur Bewußtlosigkeit. Wer bringt mich hinterher nach Haus?”
„Ich,” rief Leutnant von Thüben, aber Stern schüttelte den Kopf. „Dich kenne ich, mein Lieber. Du bist ein ehrenwerter Mann, das sind wir alle, alle, alle, aber vertragen kannst du absolut gar nichts, und ich habe nicht allzuviel Vertrauen, daß du selbst an dem Abend ganz nüchtern sein wirst.”
„Das bin ich immer,” verteidigte sich der andere.
„Na nu, reit' nur Schritt,” mahnte Stern, „solltest du wirklich neulich abends ganz klar im Kopf gewesen sein, als du dich zu Hause in voller Uniform in deine Sitzbadewanne setztest?”
„Aber Kinder, was streitet ihr euch denn?” rief ein anderer, „dazu liegt doch gar keine Veranlassung vor, Stern wird gar nicht in Versuchung kommen, sich nach Haus bringen lassen zu müssen.”
Beinahe entrüstet blickte Stern auf. „Meinst du, daß ich dieses Liebesmahl spurlos an mir vorübergehen lassen werde? Dann würde ich mich in Zukunft schämen, mein eigenes Spiegelbild zu betrachten. Man muß die Feste feiern, wie sie fallen.”
„Aber wenn sie nun nicht fallen?” meinte der andere. „Und ich bin fest davon überzeugt, daß dieses Fest nicht fällt. Der Oberst wird auf das Abschiedsessen verzichten; er kann es nach meiner Ansicht gar nicht annehmen. Er weiß doch, wie wir über ihn denken und wie froh wir sind, daß wir ihn los werden. Soll er da noch einmal mit uns essen und etwa zuhören, wenn der Oberstleutnant seine obligate Abschiedsrede hält: „Hochverehrter Herr General! Zum letzten Male weilen Sie heute in der Mitte des Offizierkorps, das bisher Ihrem Kommando unterstellt war, und auch ohne daß ich es weiter ausführe, wissen Sie, wie Ihr Scheiden uns betrübt. Wie kein anderer vor Ihnen, haben Sie es verstanden, sich unsere Liebe, unsere Achtung und unsere Zuneigung zu erwerben. Unsere Hoffnung, mit Ihnen in das Feld zu ziehen und unter Ihrer Führung Lorbeeren zu ernten, oder wenn es sein muß, für das Vaterland zu sterben, ist ja leider nicht in Erfüllung gegangen — — — aber das, was Sie uns im Frieden lehrten, werden wir, wenn Se. Majestät zu den Waffen ruft, vor dem Feinde verwerten, und mit stolzer Genugtuung werden Sie dann sagen können: Den Lorbeer, den das Regiment gepflückt hat, verdankt es meiner Erziehung und so weiter, und so weiter. — Herrschaften, nach diesem Schema F sind doch alle Abschiedsreden gearbeitet. Na, was ich sagen wollte: Meint ihr, der Oberst hört sich diese Lobhudelei mit an? Weiß Gott, ich liebe ihn nicht, aber das traue ich ihm denn doch nicht zu. Er wird sich beim Appell verabschieden und dann spurlos aus der Garnison verschwinden, möchte die Brigade unter ihm glücklicher sein, als wir im Regiment es waren.”
Und fast schien es so, als sollte der Sprecher recht behalten, denn als dem neuernannten General ein Abschiedsessen angeboten wurde, lehnte er es dankend ab, aber schließlich mußte er es doch annehmen, da der Herr Divisionskommandeur an dem Abschiedsfest teilzunehmen wünschte.
Das Liebesmahl fand also statt, und alle Herren schienen sich vorgenommen zu haben, gehörig zu feiern, denn es wurde sehr brav gezecht. Verhältnismäßig am meisten trank der Etatsmäßige. Dem lag die schwere Aufgabe ob, die Abschiedsrede zu halten. Fünf Tage lang hatte er jeden Tag fünf Stunden über die Abschiedsworte nachgedacht, lügen und lobhudeln wollte er nicht, die Wahrheit sagen, daß alle mehr als glücklich wären, konnte er auch nicht, so wußte er überhaupt nicht, was er sagen sollte. Er trank sich Mut zu und tröstete sich damit, daß der entscheidende Augenblick ihm das richtige Wort eingeben würde. Und das geschah auch wirklich, denn als der Braten serviert wurde, erhob sich der Oberstleutnant.
„Meine Herren, lange Reden sind unmilitärisch, so möchte auch ich mich kurz fassen. Ich kann es um so mehr, als Sie, meine Herren, alle ebensogut wie ich wissen, was wir an unserem scheidenden Kommandeur verlieren. Sie wissen, wer er war und was er uns war. Se. Majestät haben die Gnade gehabt, unseren ehemaligen Herrn Oberst zum General und Brigadekommandeur zu befördern, darüber freuen wir uns von ganzem Herzen. Alles, was wir auf dem Herzen haben, fassen wir zusammen in den Ruf: der Herr General, unser alter Kommandeur, er lebe hurra, hurra, hurra!”
Das war kurz und schmerzlos, es war alles gesagt, was nötig war, und die Rede war so gefaßt, daß jeder sich sein Teil dabei denken konnte. Der Herr General faßte sich in seiner Dankesrede noch kürzer, und damit war der offizielle Teil des Festes erledigt, einem Betrinken stand nun absolut nicht mehr im Wege. Es wurde brav gezecht, und bald herrschte eine ausgelassene, fröhliche Stimmung, die keine Grenzen mehr kannte, als Exzellenz sich gleich nach Tisch verabschiedete. Die Musik spielte einen Walzer, und plötzlich tanzten die jüngsten Leutnants mit den Fähnrichen, die Hauptleute mit ihren Kompagnieoffizieren, die Stabsoffiziere mit ihren Adjutanten, und schließlich engagierte der neue General seinen alten Regimentsadjutanten.
Und mitten in das Tanzen hinein erscholl plötzlich der Ruf: „Wr wollen Frischwachs spielen.” Von wem der Ruf ausgegangen war, wußte niemand, aber in der übermütigen, mehr als ausgelassenen Stimmung stimmten alle zu, und überall hieß es: „Frischwachs, Frischwachs!”
Jeder, der einmal Kadett war, kennt dieses ebenso tiefsinnige, wie geistreiche Spiel. Es besteht darin, daß sich jemand mit dem Gesicht nach der Wand aufstellt und soweit „Rumpf vorwärts beugt” macht, wie seine Körperverhältnisse es ihm gestatten. Ist seine Stellung für gut befunden, so bekommt er von einem der herumstehenden Kameraden einen Schlag mit der flachen Hand auf den besonders hervorstehenden Körperteil. Unmittelbar nachdem er den Schlag erhalten hat, muß der Betreffende sich schnell umdrehen und aus den Gesichtern der Herumstehenden erraten, wer ihn geschlagen hat. Findet er den Richtigen heraus, so muß dieser sich an die Wand stellen, findet er ihn nicht, so muß er weiter stehen, bis er entweder den Richtigen findet, oder bis nach zwölfmaligem Raten „Ablösung vor” kommandiert wird. Namentlich im Korps ist dieses Spiel sehr beliebt, und bei dem Ruf „Frischwachs — Frischwachs” fühlten sich mit einem Mal alle wieder jung; sie sahen sich als Kadetten auf dem großen Spielplatz herumlaufen, und alle Jugenderinnerungen wurden wieder in ihnen wach.
„Wer stellt sich zuerst an die Wand?” ertönte die Frage.
Aber niemand antwortete, wie überall, wollte auch hier ein jeder wohl Hammer, aber nicht Amboß sein.
„Na, einer muß doch aber anfangen,” hieß es endlich. „Wo sind die Fähnriche?”
Die aber hatten sich in richtiger Erkenntnis der kommenden Dinge in das Nebenzimmer geflüchtet, und bevor sie noch geholt waren, meldete sich freiwillig jemand, auf den niemand gerechnet hatte: der Herr Oberstleutnant. „Seht mich nicht so verwundert an, Kinder,” sagte er, „ich bin auch einmal jung gewesen und will euch zeigen, daß ich es noch bin. Im Dienst Vorgesetzter, außer Dienst Kamerad, das ist meine Devise. Und nun schlagt los, ich will euch beweisen, daß ich noch stets den Schuldigen auf den ersten Blick ermittelte. Also los.”
Er stellte sich in Positur, und nachdem die erste heilige Scheu vor dem Körper des Vorgesetzten gewichen war, fiel der Schlag mit der flachen Hand. Mit Blitzesschnelle und unerwarteter Geschwindigkeit drehte sich der Oberstleutnant um, noch bevor der Leutnant, der geschlagen hatte, seine Hand hätte zurückziehen können.
„Na, sagte ich es nicht?” rief der Oberstleutnant stolz, die Hand des Betreffenden festhaltend. „Im ,Frischwachs' stehe ich meinen Mann, da hat es noch keiner mit mir aufgenommen. Nun aber stelle man den Sünder an die Wand und geb ihm seinen wohlverdienten Lohn.”
Und einer nach dem anderen bekam seine Schläge, und als ein Major, ebenso wie der Etatsmäßige, den Schuldigen gleich ermittelte, sagte der Oberstleutnant stolz: „Ja, ja, wir beide haben das Spiel noch nicht verlernt.”
Alle spielten mit, und je häufiger einer vorbeiriet, je mehr Schläge er sich gefallen lassen mußte, desto lustiger wurde die Stimmung, desto mehr wurde gelacht, und je älter die Herren waren, desto mehr Spaß hatten sie an der ganzen Sache. Das ganze Spiel war eigentlich weiter nichts, als ein Zeichen des guten Einvernehmens, das zwischen Vorgesetzten und Untergebenen herrschte.
Nur einer spielte nicht mit, das war der neue Herr General, der ehemalige Regimentskommandeur. Hätte man ihn aufgefordert, sich zu beteiligen, so hätte er aus angeborener Unliebenswürdigkeit sicher mit „Nein” geantwortet, und dem wollte man sich nicht aussetzen. Alle wußten: lange hält er das Zusehen nicht aus, auch in ihm würden die Jugenderinnerungen wieder wach werden. Und darin täuschten sie sich nicht, denn plötzlich stand der alte Kommandeur mitten unter ihnen.
„Na, Herr General?” fragte der Etatsmäßige, „wollen Sie auch etwas mitspielen?”
„Warum denn nicht?” lautete die Gegenfrage, und da gerade eine neue Partie begann, stellte er sich als erster an die Wand.
„Tiefer den Kopf, Herr General — — — tiefer, noch tiefer.”
Endlich stand der alte Kommandeur in der richtigen Position — — — der Anblick war verlockend schön — und gleich darauf klatschte ein Schlag auf die neue Generalshose.
Aber ehe der General sich umdrehen konnte, ertönte das Kommando „Achtung”, und als er nun die herumstehenden Herren ansah, standen diese alle in vollständig vorschriftsmäßiger Haltung da: Fußspitzen auswärts, Knie durchgedrückt, Bauch zurück, Brust heraus, Kopf in die Höhe, Hände an der Hosennaht. Und in den Gesichtern zuckte auch nicht eine Miene. Auf gut Glück zeigte er auf den dicken Stern, er wußte, daß der ihn nicht besonders liebte, aber der war es nicht gewesen, und von neuem stellte er sich in Positur.
Und abermals klatschte es auf die Generalshose.
Schneller noch als vorhin drehte der General sich um, aber auch dieses Mal sah er nur in starre, unbewegliche Gesichter.
„Stern . . . sollten Sie es auch jetzt nicht gewesen sein?”
Der aber schüttelte nur den Kopf. Da verneigte sich der Herr General zum drittenmal vor seinem Offizierkorps.
Als der Herr General zum sechstenmal falsch geraten hatte, fing die Sache an ihm langweilig zu werden: „Ich denke, nun ist es genug, meine Herren, ich ermittele den Schuldigen doch nicht.”
Aber der dicke Stern widersprach: „Das gilt nicht, Herr General. Wer sich an einem Spiel beteiligt, muß auch die Spielregeln befolgen, die gelten für einen jeden.”
Das sah der Herr General denn auch schließlich ein, und, wenn auch widerstrebend, stellte er sich noch sechsmal in Positur; dann aber durfte er aufhören. Er hatte auch mehr als genug, es war ihm bei dem Spiel, wenigstens stellenweise, ordentlich warm geworden.
Bald darauf ging der Herr General nach Hause, die anderen Offiziere aber blieben noch im Kasino sitzen und kneipten bis zum frühen Morgen. Sie tranken alle, aber am meisten trank der dicke Stern, und nicht ohne Grund. Als gestern abend darüber gesprochen worden war, wie der alte Oberst sich auf dem Abschiedsessen wohl verhalten würde, hatte Stern mit einem Kameraden um einen Korb Sekt gewettet, daß der neuernannte General trotz seiner wenig liebenswürdigen Umgangsformen sich zum Abschied zwölfmal ganz tief vor seinem Offizierkorps verneigen würde.
Und die Wette hatte der dicke Stern glänzend gewonnen.