Humoreske von Freiherr v. Schlicht
in: „Westfälische Zeitung”, Unterhaltungsblatt, vom 2.4.1921,
in: „Aachener Anzeiger” vom 9.4.1921,
in: „Karlsruher Tagblatt” vom 19.Apr. 1921,
in: „Castroper Zeitung” vom 21.5.1921,
in: Weimarisches Sonntagsblatt, Unterhaltungs-Beilage zur
„Allg. Thür. Landeszeitung Deutschland” vom 16.Okt. 1921 und
in: „Aber so was!”
Der an Körpergröße, Körper- und Stimmenumfang gleich gewaltige Bassist des zum „Landestheater” degradierten einstigen herzoglichen Hoftheaters, Paul Rohrbach, betrachtete in seinem Stammlokal mit väterlich wohlwollender Miene den ihm kaum bis zur Brust reichenden neuen Pikkolo, der ihm bei dem Ablegen des Matels behilflich war, um ihn endlich zu fragen: „Wie heißt du mit Vornamen, mein Sohn?”
„Friedrich, mein Herr,” lautete die höfliche Antwort, aber trotzdem war sie nicht höflich genug, denn der Sänger erwiderte mit vorwurfsvoller Stimme: „Man redet mich ,Herr Kammersänger' an, merke dir das, wenn dir an meiner Freundschaft und an meiner Gunst gelegen ist. Im übrigen scheinst du mir ein kluger, aufgeweckter, intelligenter Junge zu sein, aus dem sicher eines Tages etwas Großes werden wird, so daß ich dich schon heute ,Friedrich der Große' taufen möchte.”
Von der Minute an hatte der neue Pikkolo seinen Spitznamen weg, und er bemühte sich auch, dem alle Ehre zu machen. Nicht nur dadurch, daß er mit der Zeit heranwuchs, sondern auch, daß er sich alle Mühe gab, als Pikkolo ebenso tüchtig zu werden, wie es der wirkliche Friedrich der Große in seinem Beruf gewesen war. Wie es der große König mit allen seinen Feinden aufnahm, so der Pikkolo Friedrich der Große mit allen seinen Gästen. Wie er es fertig brachte, zuweilen selbst zehn Gäste und mehr fast gleichzeitig zu bedienen, ohne daß einer hätte warten müssen und darüber ungeduldig geworden wäre, war sein Trick, den er nicht einmal dem Herrn Ober verriet, obgleich der ihm für den Fall, daß nicht, ein unheiliges Donnerwetter in Aussicht stellte.
Nur einmal ließ er einen Gast, der nach ihm rief, warten, noch dazu seinen besonderen Gönner, den Hrrn Kammersänger, so daß dieser ihn fragte: „Nun, Friedrich der Große, wovon träumtest du denn eben?”
Da sah ihn der Pikkolo mit ganz verklärten Augen an und gab zur Antwort: „Herr Kammersänger, ich träumte von der Zukunft. Heute übers Jahr ist meine Lehrzeit herum, dann ziehe ich die kurze Jacke für immer aus, dann bekomme ich meinen ersten Frack.”
Der in der kleinen Stadt weit und breit bekannte und berühmte Sänger lächelte gnädig vor sich hin: „Aha, der Frack Friedrichs des Großen! Das ist allerdings ein Ereignis in deinem Leben, das du ebensowenig vergessen wirst, wie ich meinen ersten Lorbeer,” und in einer generösen Anwandlung setzte er hinzu: „Den Frack schenke ich dir in Anerkennung der treuen Fürsorge um meine Person, damit du dich meiner bis an dein Lebensende erinnerst, denn den, der dir den ersten Frack schenkt, wirst du ebensowenig jemals vergessen wie ich die Dame, die mir den ersten Lorbeerkranz spendete. Für alle Zeiten ist ihr Name meinem Gedächtnis eingeprägt. Wenn ich mich nicht sehr irre, hieß sie Frieda Kleinpaul oder so ähnlich.”
Von diesem Tage an wäre Friedrich der Große für seinen Gönner und Wohltäter selbst in einem mit Benzin begossenen Anzug durch jede Feuersbrunst gegangen, er las ihm noch mehr als bisher jeden Wunsch aus den Augen ab, und soviel wußte er, noch seinen Urenkeln, wenn er die erlebte, würde er voller Dankbarkeit und Rührung erzählen, wer ihm seinen ersten Frack schenkte, so daß er es nicht nötig gehabt hätte, seine Ersparnisse dafür auszugeben.
Die Zeit ging weiter, und bald war es nur noch drei Monate bis zu dem großen, für die ganze Zeit seines Lebens ewig denkwürdigen Tag. Da hörte er eines Morgens eine Schreckensbotschaft, sein Wohltäter, der Herr Kammersänger, war schwer erkrankt, und man fürchtete für sein Leben. Die beiden Blätter der Stadt brachten darüber eine kurze Notiz, in der sie der Hoffnung Ausdruck gaben, die kräftige Natur des allgemein beliebten Künstlers möchte die Krankheit überwinden, damit seine zahlreichen Freunde und Verehrer ihn bald wieder auf der Bühne bewundern könnten. Sicher stiegen auch aus den Herzen seiner vielen Freundinnen und Verehrerinnen heiße Gebete für ihn zum Himmel. Aber keiner betete so fleißig und so regelmäßig jeden Abend für ihn wie Friedrich der Große. Selbst wenn er noch so todmüde war, faltete er vor dem Einschlafen seine Hände, aber dann betete er nicht das ganze Gebet, das er sich ausgedacht hatte, sondern er faßte alles kurz in die Worte zusammen: „Vater unser, der du bist im Himmel, na, du weißt ja schon, was ich meine. Amen!” Eine halbe Minute später schlief er, aber selbst sein abgekürztes Gebet wurde erhört, denn es kam aus einem frommen, gläubigen Herzen.
Eines Mittags erschien der Künstler wieder in seinem Stammlokal, aber nur noch als ein Schatten seiner selbst, und mit trüben Ahnungen sprach er davon, daß er sehr bald für immer von der Bühne würde Abschied nehmen müssen: „Die Kunst verliert viel an mir, ich weiß. Es wird schwer, wenn nicht unmöglich sein, für mich einen Ersatz zu finden, der mich vergessen läßt. Namentlich meinen Falstaff wird mir keiner nachmachen. Aber trotzdem, es muß sein, diese Krankheit hat mich zum alten Mann gemacht, mit mir geht es zu Ende.”
Das klang so traurig, daß Friedrich dem Großen die Tränen in die Augen schossen, und daß er mit schluchzender Stimme bat: „Herr Kammersänger, Sie dürfen noch nicht sterben, wenigstens nicht eher, als bis ich Sie, wenn auch nur ein einziges Mal, im Frack bedient habe. Heute in vier Wochen ist nun der große Tag da, und nicht wahr, das tun Sie mir nicht an, daß Sie vorher für immer von uns fortgehen?”
Der Kammersänger fuhr sich mit der dünnen schmalgewordenen Hand über die Stirn: „Richtig, der Frack Friedrich des Großen! Mir ist, als hätte es mit dem eine besondere Bewandnis und als hätte ich da etwas versprochen. Ja, nun fällt es mir wieder ein. Allerdings, die Zeiten sind jetzt andere für mich geworden, die Krankheit hat meine ganzen Ersparnisse verschlungen, und sehr bald habe ich nur noch meine kärgliche Pension. Trotzdem, was ich versprach, werde ich natürlich halten. Der erste Frack soll dir als Geschenk von mir eine dauernde Erinnerung bleiben, damit du meinen Namen nie vergißt, wie ich niemals den Namen derjenigen, die mir den ersten Lorbeer auf die Bühne sandte. Irre ich mich nicht, dann hieß sie Olga Schmidt. Vielleicht hieß sie aber auch anders, das ist ja auch einerlei, Name ist Schall und Rauch, Lorbeer aber bleibt Lorbeer, und den Kranz habe ich heute noch. Den Frack bekommst du von mir, mein Sohn, so wahr ich Paul Rohrbach heiße und namentlich als Sarastro in der ,Zauberflöte' nicht meinesgleichen hatte. Selbst in Berlin habe ich niemand gesehen und gehört, der es in der Rolle mit mir aufgenommen hätte. Wie gesagt, den Frack schenke ich dir,” und dabei sah er Friedrich den Großen so lange und so prüfend von oben bis unten, von rechts nach links und von links nach rechts an, daß dieser sich im stillen sagte: der Herr Kammersänger nimmt mir im Geiste genau Maß, damit der Frack, den er fertig für mich kaufen wird, mir auch gleich wie angegossen sitzt.
Und die Zeit ging weiter, bis es dann nur noch eine Nacht bis zum Anbruch des großen Tages war. In der Nacht machte Friedrich der Große, obgleich er zum Umfallen müde war, vor Aufregung kein Auge zu, sondern fragte sich fortwährend: Wird der Herr Kammersänger mir den Frack auch so rechtzeitig schicken, daß ich den gleich anziehen kann, wenn ich mit meiner Arbeit ferig bin, so daß ich schon gleich den ersten Gast, der kommt, im Frack bedienen kann?
Und der Frack kam. Morgens um neun Uhr schickte der Kammersänger durch einen Theaterdiener ein großes Paket, das Friedrich dem Großen Tränen der Rührung, der Freude und des Stolzes in die Augen steigen ließ. Aber als er das Paket geöffnet und als er den Frack dann angezogen, rührte ihn trotz seiner gesunden Jugend beinahe der Schlag, denn der seit Jahr und Tag heißersehnte neue Frack Friedrichs des Großen war ein alter abgelegter Frack aus den Beständen des Herrn Kammersängers, der ihm selbst dann, wenn er es in einigen Jahrzehnten zu einem dicken, behäbigen Wirt gebracht haben sollte, in allen seinen Abmessungen wenigstens um einen halben Meter zu breit und zu weit sein würde.
Friedrich der Große saß auf dem Rand seines Bettes und weinte, wie er in seinem ganzen Leben zuvor noch nie geweint hatte, selbst an jenem Tage nicht, an dem der Oberkellner ihm eine derbe Maulschelle gab und ihn mit den Worten anfuhr: „Glaubst du Lüderjahn, daß der wirkliche Friedrich der Große sein Geschirr jemals so schlecht aufgewaschen und es so dreckig in das Spind gestellt hätte?”
Friedrich der Große weinte nicht nur, er schrie vor sich hin, bis er sich endlich sagte: „In dem Frack bedienst du heute mittag den Herrn Kammersänger, das soll seine Strafe dafür sein, daß er dir heute diese Enttäuschung bereitet hat.”
Aber der Herr Kammersänger kam weder heute, noch an einem der folgenden Tage jemals wieder an seinen Stammtisch. Ein Rückfall seiner Krankheit hatte ihn ergriffen und bereitete ihm ein schnelles Ende. Da aber brachte Friedrich der Große es doch nicht über das Herz, seinen ersten schlechten und für ihn unbrauchbaren Frack fortzuwerfen, sondern er gelobte sich, den trotz allem zur Erinnerung an seinen Gönner für alle Zeiten aufzubewahren und sich den Namen des edlen Spenders zum mindesten ebenso genau zu merken, wie der Verstorbene sich den Namen derjenigen, die ihm den ersten Lorbeer sandte, und die, so oft er ihren Namen aussprach, jedesmal anders hieß.
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© Karlheinz Everts