Frhr. v. Schlicht und Frieda Wagen.

in: „Neues Wiener Journal” vom 18.10.1902.


Theater und Kunst.

Hinter den Coulisen.

. . . . .

Wer den kleinen Finger gereicht bekommt, darf nicht gleich die ganze Hand verlangen. Wenn zum Beispiel der Mitautor der heutigen Novität im Deutschen Volkstheater, Freiherr v. Schlicht, dieses Sinnspruches nicht eingedenk gewesen wäre, hätte er gelegentlich eine hübsche Erinnerung weniger im Leben verzeichnet. Heute, da er in Wien weilt, wird er wohl galanterweise einer charmanten Schauspielerin seine Aufwartung machen und eine flüchtige Bekanntschaft erneuern, die er vor einem Jahr etwa in Dresden gemacht hat.

Besagte Schauspielerin, blond, schön, voll feiner Distinction im Auftreten, spaziert eines Tages in Dresden auf der Straße und besieht sich gelangweilt die Auslagefenster. Hinter ihr wandert schon seit geraumer Zeit ein stattlicher Herr, der allerlei Versuche machte, sich der Dame zu nähern. Plötzlich faßte er Muth. Er sprach sie an. Der Erfolg war zwar nicht sehr ermunternd, aber der Herr ließ sich anscheinend nicht so leicht abschrecken. Die Schauspielerin amüsierte sich über diese Annäherungs­versuche, und da sie ihrer selbst sicher war, gab sie ihm schließlich Antwort.

„Sie sind hier fremd, Fräulein?”   —   „Ja.”   —   „Darf ich Ihnen als Cicerone dienen?”   —   „Bitte, wenn Sie Zeit haben.”   —   „O, so viel Sie wollen!”   —   „Darf ich Sie in die königliche Galerie führen?”   —   „Mit Vergnügen.”

Sie gingen mitsammen zur königlichen Galerie. Der Herr schien furchtbar neugierig. Er kannte sich in der Dame offenbar nicht recht aus. Sie war wohl einfach gekleidet, aber trotzdem sehr elegant; sie hatte sich wohl ansprechen lassen, aber er merkte, daß sie eine sehr starke Reserve wahrte. Schließlich fragte er, wer sie sei. „Ladenfräulein,” war die Antwort. Er blickte sie zweifelnd an. Sie lächelte ein bißchen ironisch. „Sie glauben es wohl nicht? Ich war wirklich in einem Geschäft in Berlin angestellt und suche jetzt hier in Dresden einen Posten.”   —   „Dann will ich Ihnen gern behilflich sein.”   —   Sie acceptierte mit Dank. Sie gingen plaudernd durch die Galerie. Er versuchte ihr zu den Bildern Erklärungen zu geben, sie kam ihm aber immer zuvor. Er war verblüfft. Sie sprach von Rubens, Holbein und Rafael in einer Weise, als ob sie sich nie mit etwas Anderem beschäftigt hätte.

„Sie sind für ein Ladenfräulein furchtbar gebildet.”   —   „Ja, sehen Sie, so etwas kommt vor. Ich lese sehr viel und da bleibt Manches hängen. Sie lesen doch auch viel?”

„Ich bin selbst Schriftsteller!”   —   „Ah! Darf ich um Ihren Namen fragen?”   —   „Sie hören ihn gewiß zum erstenmal.”   —   „Vielleicht doch nicht!”   —   Schließlich stellte er sich vor: „Freiherr v. Schlicht.”

Die Dame lachte und zählte ihm sofort ein halbes Dutzend Geschichten auf, die er geschrieben. Das war ihm doch verdächtig. Jetzt bezweifelte er schon ernstlich, daß er ein Ladenfräulein vor sich hatte, aber sie blieb dabei. Schließlich lud er sie zum Souper ein und sie nahm an. Er schlug den Speisesaal des bekannten Hotels Sendig vor, aber dagegen protestirte die Dame. Dort wäre ihr Incognito sofort gelüftet worden. Man einigte sich also auf ein anderes Restaurant. Im Laufe des Abends hatte Freiherr v. Schlicht noch einigemale Gelegenheit, über das Ladenfräulein zu staunen, aber es gelang ihm doch nicht, Aufklärung zu erhalten. Endlich mahnte die Dame zum Aufbruch. Er wollte sie zu einem Wagen begleiten, aber sie verbat es sich. „Treiben Sie den Scherz nicht zu weit.” —

„Wollen Sie mir nicht zum Abschied Ihren Namen sagen und wer Sie sind?”

„Nein. Das Abenteuer war sehr hübsch und es wird noch hübscher dadurch, wenn Sie später einmal erfahren, wer ich bin.”   —  Er machte eine verzweifelte Geberde. —   „Geben Sie mir Ihr Wort, daß Sie mir jetzt nicht nachfahren, Herr Baron!”   —   „Ich gebe es Ihnen.”

Einige Monate später verwerthete Freiherr v. Schlicht dieses Abenteuer in einer seiner Novellen. Da erhielt er von Wien einen liebenswürdigen Brief von dem Ladenfräulein, das sich in Dresden so gut amüsirte. Er sah auf die Unterschrift und da stand: „Gräfin Frieda Wagen-Hohenthal!”. Hoffentlich wird Freiherr v. Schlicht sich bei der liebenswürdigen Künstlerin jetzt Revanche holen.

Frieda-Wagen.jpg
Gräfin Frieda Wagen-Hohenthal

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