Militär-Erzählung von Freiherr von Schlicht,
in: „Budweiser Kreisblatt” vom 24.3.1915,
in: „New Yorker Staats-Zeitung” vom 09.05.1915,
in: „Kasseler Neueste Nachrichten” vom 13.05.1915,
in: „Der rote Pierrot”
In dem elenden, vollständig zusammengeschossenen kleinen französischen Nest, das der deutschen Pionierkompagnie als Quartier zugewiesen war, hatte der Hauptmann um die späte Nachmittagstunde seine Leute plötzlich und unerwartet antreten lassen und die standen nun auf dem Appellplatz und warteten darauf, was der Hauptmann ihnen zu sagen habe.
Seine Stimme klang ernst und dienstlich, aber man hörte es doch heraus, wie es ihm in Wahrheit um das Herz war, als er nun sagte: „Ich habe euch zusammengerufen, Pioniere, weil von höherer Seite das Vertrauen gerade in meine Kompagnie gesetzt wird, daß sich unter euch, die ihr schon bisher das Unmögliche möglich gemacht habt, ein Freiwilliger melden würde — nein, hört mich erst zu Ende,” fuhr er fort, als er voller Stolz und Genugtuung bemerkte, wie bei seinen letzten Worten eine Bewegung durch die Kompagnie ging, als wollten sie alle, die da vor ihm standen, sofort als Freiwillige vortreten. „Hört mich erst zu Ende,” bat er nochmals. „Es wird ein Freiwilliger gesucht, nur einer, aber der muß es an Mut und Tollkühnheit und an Geschicklichkeit mit zehn anderen zusammen aufnehmen. Es handelt sich um die schwere, aus dicken Eichenbohlen erbaute Holzbrücke bei dem Dorf Raincivillet, ihr alle kennt die Brücke. Ihr wißt, wie oft es schon versucht wurde, die zu nehmen, ihr wißt, wie es selbst unserer Artillerie nie gelang, diese tief und verdeckt liegende Brücke unter wirksames Feuer zu nehmen, und ihr wißt auch, daß die Brücke endlich in unseren Besitz kommen, oder daß sie wenigstens zerstört werden muß, damit sie auch für den Feind unbrauchbar ist. Diese Sprengung muß noch heute Nacht erfolgen. Wer will das Wagnis unternehmen? — Ich sehe es eueren Gesichtern an,” fuhr der Hauptmann nach einer Weile fort, „ihr begreift, um was es sich handelt. Der Tod, wenigstens fast der sichere Tod, wartet auf den, der sich freiwillig von euch meldet. Das wissen auch eure Vorgesetzten, und deshalb ist die Belohnung, die für den Tapferen ausgesetzt wird, eine hohe. Gelingt es einem von euch, die Brücke zu sprengen und kommt er heil oder verwundet zu uns zurück, dann winkt ihm außer der Beförderung zum Unteroffizier das Eiserne Kreuz II. und I. Klasse. Gelingt die Sprengung aber, ohne daß der Betreffende wiederkehrt, dann wird das Eiserne Kreuz II. und I. Klasse seinen Angehörigen für den auf dem Felde Gefallenen überwiesen werden und außerdem zahlt das Oberkommando die Summe von fünftausend Mark an die Hinterbliebenen des gefallenen Helden oder an die Adresse, und an die Person, die derjenige von euch angibt, der das Wagnis unternimmt.”
Der Hauptmann hatte geendet und blickte nun auf seine Leute. Die sahen einander stumm an. Ein jeder von ihnen war ein Held, zu dutzenden Malen hatten sie dem Tode in das Auge gesehen, ohne mit einer Wimper zu zucken. Aber was jetzt verlangt wurde, war mehr als bisher. Wie sollte einer allein das Kunststück fertigbringen, die Brücke in die Luft zu sprengen? Wenigstens brauchte man noch einen oder zwei Kameraden, die die Arbeit an der Brücke durch ihre Anwesenheit sicherten, die auf jedes verdächtige Geräusch achteten und das Herannahen feindlicher Posten oder Patrouillen meldeten. Aber auf der anderen Seite, wenn überhaupt, dann konnte es nur einem einzelnen, niemals aber mehreren, gelingen, sich durch die feindlichen Doppelposten auf einem in der Nacht völlig unpassierbaren Gelände, durch Moor und Schlamm, durch Hecken und durch Gräben der Brücke zu nähern. Leise, völlig unhörbar galt es vorwärts zu schleichen, das leiseste Geräusch brachte die Entdeckung und den sicheren Tod.
Nicht den Tod fürchteten sie, sondern den unnützen Tod, denn wie sollte das Wagnis gelingen?
Da erklang die Stimme des Hauptmanns: „Ich habe euch Zeit gelassen, alles zu überlegen, jetzt heißt es: ,Freiwilliger vor!'”
Der Ruf der Kompagnie stand auf dem Spiele, so trat dann plötzlich statt des einen mehr als ein Dutzend vor. Aber aus diesen Vielen trat dann einer noch ein paar Schrite näher an den Hauptmann heran und bat mit beinahe flehender Stimme: „Mich müssen Herr Hauptmann gehen lassen, nur mich allein!”
Der Vorgesetzte blickte auf. Der da vor ihm stand, der Gefreite Petersen, war nicht nur der hübscheste und strammste Mann seiner ganzen Kompagnie, sondern auch der klügste und intelligenteste. Wenn einer das fast Unmögliche fertig bringen würde, dann war der es. Aber trotzdem, daß gerade der beste Mann unter seinen Leuten in den Tod ging, das wollte ihm doch nicht so recht in den Sinn. Der Gefreite war ihm beinahe an das Herz gewachsen, bei vielen Gelegenheiten hatte er den als Menschen und als Soldaten in gleicher Weise von der besten Seite kennen gelernt und so sagte er denn jetzt: „Daß gerade Sie sich melden würden, Gefreiter Petersen, habe ich mir gedacht, aber gleichviel, warum gerade Sie soviel Wert darauf legen, daß meine Wahl auf Sie fällt —”
Da sah der Gefreite den Hauptmann an und er erriet, daß er ihm etwas zu sagen wünsche, was die anderen Kameraden nicht zu hören brauchten. So winkte der Vorgesetzte denn den anderen Leuten, vorläufig zurückzutreten, während er selbst mit dem Geistlichen, der gerade neben ihm stand und mit dem Gefreiten Petersen ein paar Schritte zur Seite trat.
Als schäme er sich fast, es einzugestehen, begann der Gefreite: „Wenn ich den Herrn Hauptmann bitte, gerade mich zu schicken, dann ist es des Geldes, der fünftausend Mark wegen. Ich habe nämlich gestern einen Brief von der Mutter bekommen, Herr Hauptmann. Und der läßt mir keine Ruhe. Seitdem der Vater tot ist, haben die Mutter und ich allein unser elektrotechnisches Geschäft geführt. Es ging auch sehr gut, Herr Hauptmann, aber da kam der Krieg, ich und die anderen Arbeiter mußten fort. Das Geschäft ging immer mehr zurück, die Mutter geriet in Schulden, sie hatte keine Einnahmen und mußte trotzdem ihren Verpflichtungen gerecht werden. Gestern nun hat sie es mir gestanden, am nächsten Ersten wird sie gepfändet, dann wird ihr alles genommen, dann sitzt sie auf der Straße, wenn es ihr nicht noch im letzten Augenblick gelingt, den Betrag von fünftausend Mark aufzubringen. Und darum und deshalb, Herr Hauptmann, als ich vorhin hörte, daß ich mir vielleicht die fünftausend Mark für die Mutter verdienen kann — sie ist nicht mehr die Jüngste, Herr Hauptmann, und was soll aus ihr werden? Wie gesagt, Herr Hauptmann, da habe ich gleich gewußt, was ich zu tun hätte, und wenn ich trotzdem noch einen Augenblick zögerte, da geschah es nur, Hochwürden, weil ich nicht wußte, ob es eine Sünde ist, wenn ich das Wagnis unternehme.”
„Wer ein Opfer dem Vaterland bringt, tut kein Unrecht!” sagte langsam der Geistliche.
Da blitzte es in den Augen des Gefreiten hell auf, dann fragte er: „So werden der Herr Hauptmann mich also gehen lassen?”
Der nickte schweigend Gewährung seiner Bitte, bis er dann, wenn auch gegen seine Überzeugung sagte: „Ich hoffe natürlich immer noch, Gefreiter Petersen, daß Sie wieder zu uns zurückkehren. Aber wenn nicht, dann werde ich Ihrer Mutter schreiben, wie lieb Sie die hatten, und daß Sie sich wünschten für sie zu sterben. Nun aber gilt es für Sie, sich bald auf den Weg zu machen. Vielleicht, daß Sie vorher noch von Ihren Kameraden Abschied nehmen wollen. In einer Stunde müssen Sie aufbrechen, vorher aber müssen Sie sich noch die Sprengpatronen und was Sie sonst noch brauchen, geben lassen.”
„Vorher aber wollen wir noch alle für Sie und mit Ihnen beten,” nahm der Geistliche das Wort, „wir wollen beten, daß Ihnen die Ausführung Ihrer Aufgabe gelingt und daß Gott der Herr Sie auf Ihrem Wege begleitet.”
Gleich darauf rief der Hauptmann seine Kompagnie wieder zusammen, und plötzlich wußten alle Leute, warum der Geistliche zugegen war. Vor der Mitte der Kompagnie kniete der Gefreite Petersen entblößten Hauptes, und der Geistliche reichte ihm das heilige Abendmahl.
In tiefer Ergriffenheit standen alle herum, und voller Erschütterung sahen alle dem Gefreiten nach, als er bald darauf, als die Dunkelheit völlig hereingebrochen war, lautlos in der Nacht verschwand.
Wird es ihm gelingen, die Brücke zu sprengen, und werden wir ihn wiedersehen? Das war die Frage, die alle beschäftigte.
Aber als es wieder Tag geworden war, ohne daß der Gefreite Petersen zurückkehrte, wurde eine Offizierspatrouille abgesandt, um festzustellen, ob die Brücke gesprengt sei oder nicht. Auch das war ein sehr schwerer Auftrag. Er war fast unausführbar, wenn die Brücke noch stand, wenn die Sprengung den Feind nicht gezwungen hatte, sich auf das jenseitige Ufer zurückzuziehen.
Die Patrouille machte sich auf den Weg, und Stunde um Stunde verrann, bis der Offizier sich wieder zur Stelle meldete. Er berichtete kurz: „Der Feind hat sich zurückgezogen, die Brücke ist gesprengt.” Und dann sagte er ernst und ein wenig stockend: „Wir haben auch den Gefreiten Petersen gefunden. Der lag am diesseitigen Ufer. Tot.”
Erschüttert stand der junge Offizier, und der Hauptmann nickte leise. „Arme, glückliche Mutter . . .!”