Auf Freiersfüßen.

Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Feuilleton-Zeitung”, VII.Jahrgg. 1893/94, Nr. 50, S. 6-7, 12.9.1894,
in: „Neue Bonner Zeitung” vom 15.9.1894,
in: „Prager Tagblatt” vom 16.9.1894,
in: „Der Fortschritt”, New Ulm, Minn.,
Beilage „Der Erzähler”, vom 25.10.1894,
in: „Indiana Tribüne” vom 28.10.1894,
in: „Märkischer Sprecher” (Bochum), Gratisbeilage „Lachpillen”, vom 24.6.1896 und
in: „Exzellenz lassen bitten”


In dem Revier der zwölften Kompagnie herrschte reges Leben und Treiben. „Es ist um aus der Haut zu fahren,” fuhr der Feldwebel einen Unteroffizier an, „ich habe ausdrücklich, klar und deutlich befohlen, daß Alles, Alles ohne Ausnahme zur Stelle sein soll. Wo ist denn aber der Gefreite Münchow?”

„Er hat mich um Erlaubniß gebeten, zur Stadt gehen zu dürfen, um Besorgungen zu machen,” antwortete der Getadelte kleinlaut, „ich dachte —”

In stummer Verzweiflung zog der Feldwebel seine Schultern bis an die Ohren in die Höhe, daß sein runder, rother Kopf für einen Augenblick ganz verschwand, dann sagte er: „Es ist gut — ich werde Sie melden — das Weitere findet sich.”

Unterdessen schlenderte der Gefreite Münchow, die Veranlassung dieses Streites, in elegantester Extrauniform, die Mütze ein ganz klein wenig schief auf dem Kopf, den dichten schwarzen Schnurrbart kokett in die Höh' gedreht, eine Cigarette im linken Mundwinkel durch die Straßen der Stadt und machte Besorgungen. Vorläufig aber bestand diese anstrengende Thätigkeit jedoch nur darin, daß er vor sämmtlichen Ladenfenstern stehen blieb, sein eigenes Spiegelbild selbstgefällig betrachtete und mit Geringschätzung die dort ausgelegten Waaren musterte. Aber Alles, was er sah, war nicht gut genug für ihn, und das Gute war ihm zu theuer, so ging er weiter und suchte und suchte, und es fehlte nur noch eine Minute an zehn Uhr, als er endlich athemlos nach der Kaserne zurückkehrte.

Am nächsten Morgen stand die Kompagnie schon um vier Uhr auf dem Kasernenhof zum Abmarsch bereit. Der Einzige, der sich stets wie ein Kind darauf freute, war der Hauptmann selbst, der, da er zu Pferde, die Anstrengungen des langen Marsches wenig oder garnicht empfand.

Aber auch das Gesicht des Gefreiten Münchow strahlte derartig vor Vergnügen, daß der Hauptmann ihn fragte: „Nun, worüber freust Du Dich denn so, mein Sohn?”

„Ueber die Uebung, Herr Hauptmann.”

„So? Nun, das freut mich, das freut mich wirklich.”

Vor mehr als einem halben Jahr hatte unser junger Krieger auf der Feier von Kaisers Geburtstag „sie” kennen gelernt. Sein leicht entzündbares Herz hatte bei dem Anblick des hübschen, schlanken Mädchens mit den großen blauen Augen lichterloh gebrannt, und weder Bier noch sonstige Getränke hatten die Flamme zu ersticken vermocht. Den ganzen Abend war er nicht von ihrer Seite gewichen, aber als er ihr endlich seine Liebe gestehen wollte, war sie spurlos verschwunden gewesen. Wochen, Monate waren vergangen, ohne daß er etwas von ihr sah und hörte — da hatte er endlich durch einen Zufall in Erfahrung gebracht, daß Marie entweder in oder wenigstens in der Nähe des Dorfes Steinhorst wohnte. Sein Herz hatte frohlockt, als der Befehl zu der großen Felddienst­übung kam, denn in unmittelbarer Nähe des Dorfes sollte bivouakirt werden. Er hatte es sich so leicht gedacht, sie dann zu finden und zu sprechen, aber je näher er dem Endziel des Marsches kam, desto unruhiger wurde er, desto größer wurden seine Zweifel, ob es ihm gelingen würde, die Geliebte zu sehen.

Er war so in Gedanken versunken „einhergedöst”, wie der terminus technicus beim Militair lautet, daß er es garnicht glauben wollte, daß sie schon am Ziel seien, als das Kommando zum Halten kam. Die Gewehre wurden zusammengesetzt, aber bevor der Befehl zum Wegtreten erfolgte, erklang plötzlich die Stimme des Hauptmanns:

„Ich verbiete auf das Allerstrengste, den Bivouaksplatz zu verlassen und in das Dorf hineinzugehen.”

Als die Anderen sich schon lange niedergeworfen hatten, um von der Anstrengung sich auszuruhen, stand der Gefreite Münchow noch immer unbeweglich auf seinem Platz. Was war das? Verboten, das Bivouak zu verlassen? Nein, so grausam konnte der Hauptmann doch nicht sein, er wollte zu ihm hingehen und ihn bitten, das Verbot zurückzunehmen. Schon hob er den linken Fuß in die Höh, um seinen Vorsatz auszuführen, als neue Bedenken in ihm aufstiegen: Aber was dann, wenn der Vorgesetzte nein sagte, dann war es aus, ganz aus; und eine Thräne heimlich aus den Augen wischend, machte er sich daran, die in dem Tornister mitgenommenen Kartoffeln zu schälen.

Zwei Stunden später herrschte auf dem vor kurzem noch so lebendigen Bivouaksplatz Todtenstille, die nur unterbrochen wurde von den tiefen, regelmäßigen Athemzügen der Soldaten. Nur Einer wachte, wenngleich er auch, um die Anderen zu täuschen, am lautesten schnarchte: das war der Gefreite Münchow. Sein Entschluß stand fest, er wollte heimlich versuchen, Marie wiederzufinden, das Glück würde ihm hold sein, nur eine kleine Stunde wollte er fern bleiben, Niemand würde seine Abwesenheit bemerken. „Bis fünf Uhr ist Ruhe” war bei Parole ausgegeben, er kannte seine Kameraden, sie wachten nicht eher auf, als sie es nöthig hatten, und den Offizieren oder Unteroffizieren in den Weg zu laufen, würde er sich schon hüten. Er hatte sich seinen Platz so gewählt, daß er nur wenig Schritte zu machen brauchte, um, von dichtem Gebüsch gedeckt, unbemerkt „verduften” zu können. Langsam und bedächtig erhob er sich endlich, leise, ganz leise — und einen Augenblick später jagte er im Marsch-Marsch in das Dorf hinein.

Aber er hatte sich geirrt, wenn er glaubte, daß es ihm gelungen sei, unbemerkt zu entwischen. Das Auge des Gesetzes wacht und die Mutter der Kompagnie sah mit Verwunderung und Entsetzen, wie sich eines ihrer vielen Kinder davon machte, um auf verbotenen Wegen zu wandeln. Das fehlte gerade noch, daß die Kerls einfach thaten, wa sie wollten! Gehorchen ist die erste Soldatenpflicht. Und so erhob er sich denn schnell, um wenn möglich den Flüchtling einzuholen oder wenigstens seinen Namen gleich zu erfahren. Er sah sich im Kreise um, Alle schliefen, der Posten vor Gewehr, an den er sich wandte, hatte nichts gesehen oder wollte nichts gesehen haben; der Versuch, den Flüchtigen einzuholen, wäre bei dem weiten Vorsprung desselben doch erfolglos geblieben. So legte er sich denn, die Fäuste ballend, wieder nieder. „Na warte, mein Junge,” murmelte er vor sich hin, „das will ich Dir gedenken; komm Du nur wieder her, Du sollst es gut bei mir haben.” Und im Geiste belegte er den Sünder mit den schmeichelhaftesten Namen und diktirte ihm sämmtliche Strafen zu, die es überhaupt giebt: Arrest, Gefängniß, Festung, Zuchthaus, Todesstrafe; aber keine Buße schien ihm für ein derartiges Vergehen groß genug.

Während der Feldwebel finstere Pläne schmiedete, saß der Gegenstand seines Zornes, der Gefreite Münchow, unter den schattigen Zweigen einer großen Linde und hatte seinen rehcten Arm um Marie geschlungen, die ihren Kopf an seine Schulter elhnte. Das Glück war ihm günstig gewesen: als er die Dorfstraße erreicht und sich, unschlüssig wohin er sich wenden sollte, umsah, erblickte er Marie, die ohne seiner ansichtig zu werden, ihm gerade entgegenging. Er trat zur Seite, und erst als sie sich in seiner unmittelbaren Nähe befand, redete er sie an.

„Guten Tag, Fräulein Marie.”

Erschrocken fuhr sie zusammen, als sie den, mit dem ihre Gedanken sich gerade beschäftigt hatten, vor sich sah. Sie hatte gehört, daß Soldaten in der Nähe ihres Dorfes übten, und die leise Hoffnung, daß „er” sich unter ihnen befände, und der Wunsch, dann ein „zufälliges” Zusammentreffen herbeizuführen, hatten sie aus dem Hause gelockt. Vergebens suchte sie Worte, ihn zu begrüßen, während eine jähe Röthe ihr Gesicht überzog.

„Nun, Fräulein Marie, freuen Sie sich garnicht, mich wiederzusehen?” fragte er in vorwurfsvollem Ton, während er ihre Linke ergriff, die sie ihm aber sofort wieder entzog.

„Wenn die Nachbarn uns hier sehen,” stotterte sie verlegen und von neuem erröthend, „der Vater ist so streng!”

„Das sind die Väter meistens,” lachte er heiter, „wenigstens hat der meinige in dieser Hinsicht auch nichts zu wünschen übrig gelassen.”  „Aber,” fügte in schmeichelndem Ton hinzu, „Kann ich Sie denn nicht einen Augenblick allein, ganz allein sehen?”

Eine Sekunde zögerte sie, da fielen ihre Augen auf den schmucken Gefreiten, der, sich seiner Schönheit bewußt, stolz und sichessicher vor ihr stand, und, sich scheu umsehend, schlug sie einen schmalen Pfad ein, der sie in wenigen Minuten zu der großen Linde führte.

Wovon sie sprachen und was sie sich Alles zu erzählen hatten? Sie hätten es selbst nicht zu sagen gewußt. Wie im Fluge gingen ihnen die Minuten dahin, und erschrocken fuhren sie auseinander, als von dem Kirchthurm die sechste Stunde schlug.

„Um Gottes Willen, ich bin verloren, wenn man mein Fehlen bemerkt,” stöhnte der Gefreite, „ich muß fort, kein Augenblick mehr ist zu verlieren — nur eins sag' mir noch, ehe wir uns trennen: Darf ich zu Deinem Vater gehen, wenn ich meine Dienstzeit ,abgerissen' habe, und darf ich dann ihm sagen, daß Du Dir auf der ganzen Welt keinen anderen Mann wünschest als mich, den sie nun wahrscheinlich einsperren werden?”

„Nein, nein, das sollen sie nicht,” sagte Marie entsetzt, „so grausam können die Vorgesetzten nicht sein, es ist doch kein Verbrechen, sich zu verloben.”

„Ja, Ja, das sagst Du so,” stöhnte er in seiner Angst, „gebe Gott, daß die Anderen ebenso dächten.”

Noch einen raschen Kuß drückte er auf die Lippen der Geliebten, dann stürzte er davon. Aber plötzlich blieb er erschrocken stehen: was war das, der Platz, auf dem die Kompagnie bivouakirt hatte, war leer, keine Menschenseele war zu entdecken. Eine tödtliche Angst befiel ihn, er hatte gehofft, sich noch unbemerkt unter die Anderen mischen zu können, nun war Alles verloren. Ja, wenn er nur wenigstens sein Gewehr oder sein Gepäck gehabt hätte — kein Zweifel, die Kameraden hatten auf Befehl des Hauptmanns die Sachen mitgenommen.

Unschlüssig sah er sich um, wohin er sich wenden sollte, da ertönten plötzlich nicht weit von ihm vereinzelte Gewehrschüsse. „Also auch das noch,” stöhnte er, „der Feind ist schon da und die Patrouillen sind schon aufeinandergestoßen. Herr Gott im Himmel hilf mir, laß ein Wunder geschehen, ich will mich auch ganz gewiß nie, nie wieder verloben.”

Aber kein Wunder geschah, und der Verzweiflung nahe, wollte er in der Richtung der Schüsse vorgehen, als plötzlich Stimmen an sein Ohr schlugen. Vorsichtig auf den Zehen schlich er näher und entdeckte einen feindlichen Unteroffizierposten. Während zwei Mann Posten standen, hatten die Uebrigen der Instruktion gemäß in einiger Entfernung die Gewehre zusammengesetzt und das Gepäck abgehängt und befanden sich vorn bei den Posten, die der Unteroffizier mit lauter Stimme instruirte. Einen Augenblick lauschte Münchow noch mit verhaltenem Athem — dann durchzuckte ihn ein rettender Gedanke. Alles stand ja für ihn auf dem Spiel, und(1) nur Muth, „Muth bei allen Dienstobliegenheiten,” wie der Kriegsartikel fordert.

Nicht umsonst hatte der Gefreite Münchow den Ruf als guter Patrouillenführer; unhörbar und unbemerkt schlich er eine Minute später hinter den Bäumen und durch dichtes Gestrüpp und hatte nach wenigen Minuten die Vorposten seiner Kompagnie erreicht. Das Gesicht seines Hauptmanns legte sich in finstere Falten, als er des Gefreiten ansichtig wurde, doch bevor er Zeit fand, seinem Zorn Luft zu machen, tart Münchow auf ihn zu:

„Meldung von dem Gefreiten Münchow. Der Feind hat einen Doppelposten am Schnittpunkte der Chaussee und des Feldweges aufgestellt, die Feldwache steht 500 m dahinter am Südrand des kleinen Wäldchens. Um 1015 Uhr tritt der Feind den Vormarsch gegen unseren linken Flügel an. Ich habe die ganze Instruktion mit angehört.”

Das Herz des Gefreiten drohte zu zerspringen, indem er anscheinend ganz ruhig die dienstliche Meldung vorbrachte. Aber während er sprach, wich der Ausdruck des Zornes im Gesicht des Hauptmanns dem der höchsten Verwunderung.

„Wie kommen Sie zu dem Gewehr und dem Tornister?”

So, nun schlug es dreizehn, kein Zweifel mehr, er war als fehlend gemeldet.

„Ich konnte mein Gewehr und mein Gepäck nicht finden, Herr Hauptmann, und da und da” stotterte er endlich.

„Nun und da?” brauste der Vorgesetzte auf.

„Und da habe ich dies dem feindlichen Unteroffizierposten fortgenommen, es hat Keiner bemerkt.”

„Und warum konntest Du Dein eigenes Gewehr nicht finden?” fuhr ihn der Hauptmann an. „Weil Du im Dorf herumgebummelt bist. Drei Tage Arrest, mein Sohn, ich will Dir Zeit geben, über meine Befehle nachzudenken und die Sache mit dem Gewehr wird sich noch finden. Eintreten.”

Gebrochen an Leib und Seele meldete er sich bei dem Feldwebel, der ein heiliges Donnerwetter über ihn entlud, aber ihm war Alles einerlei, das kam davon, daß er sich verlobt hatte, wie war er auch nur auf diesen thörichten Gedanken gekommen? Er legte sich in der Schützenlinie nieder und dachte über sein Schicksal nach, während neue Patrouillen auf Grund der von ihm gebrachten Meldung vorgeschickt wurden. Endlich griff der Feind an und wurde, da man auf sein Erscheinen vorbereitet war, zurückgeworfen. Das Ganze „Halt” machte dem Gefecht ein Ende, und beide Kompagnien rüsteten sich zum Abmarsch. Vorher aber sollte erst noch die Kritik erfolgen, und da geschah das Unerwartete, daß der Gefreite Münchow von beiden Hauptleuten als das Muster eines Patrouillenführers gelobt wurde, der es verstanden hätte, sich unbemerkt an den Feind heranzuschleichen und ihm die Waffen zu stehlen: „An seiner Gewandtheit könne sich Jeder ein Beispiel nehmen.”

Fünf Minuten später marschirten die Kompagnien ab, aber während des Marsches rief der Hauptmann den Gefreiten Münchow zu sich heran und ließ sich von ihm genau erzählen, wie er es angefangen hätte, unbemerkt so nahe an den feindlichen Posten heranzugelangen, von der eigenmächtigen Entfernung aus dem Bivouak sprach er garnicht.

Gefreiter Münchow schwebte die nächste Woche in tödtlichster Angst, täglich fürchtete er „beigebuchtet” zu werden. Als aber acht Tage vergangen waren, ohne daß die angedrohte Strafe verhängt wurde, schöpfte er neuen Lebensmuth, denn er war sicher, daß die Sache „vergessen” war.

Gefreiter d. R. Münchow ist nun schon lange verheirathet und lebt in der glücklichsten Ehe; aber im Gegensatz zu anderen Ehemännern spricht er nie von der Stunde, da er sich verlobte; der Tag, der für Andere der schönste, ist für ihn die schrecklichste Erinnerung seines Lebens.


Fußnote:

(1) In der Buchfassung heißt es hier: „nun nur Muth” (Zurück)


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