Erzählung von Freiherrn von Schlicht.
In: „Hamburger Nachrichten” vom 31.7., 7.8. und 14.8.1898
Belletristisch-Literarische Beilage, No. 31., Sonntag, den 31.Juli 1898.
I.
Mit vollen Segeln lief S. M. Cadettenschiff „Iris” dem heimathlichen Hafen entgegen — weit war der Weg noch, den das Schiff zurückzulegen hatte, aber unaufhaltsam ging es der Heimath zu, morgen sollte man schon die Südküste Spaniens erreichen und bei gutem Wind war man dann bald in Wilhelmshaven. Vor einem Jahr war das Schiff dort ausgelaufen, fast zwölf Monate waren die Cadetten, die auf den Schulschiffen ihre Ausbildung erhalten, unterwegs und weit in die Welt hatte das Schiff sie geführt; sie hatten unsere afrikanischen Colonien aufgesucht und auch Gelegenheit gehabt, Theil zu nehmen an den Kämpfen, die dort um unseren Besitz geführt wurden. Groß waren die körperlichen Anstrengungen gewesen und gar Viele waren von dem heimtückischen Fieber erfaßt worden, bei den meisten aber hatte die Jugend den Sieg davongetragen und schnell die letzten Spuren des Fiebers überwunden. Nur einen Einzigen hatte die Malaria ernster und fester gepackt und schien ihn nicht wieder los lassen zu wollen; es war, als ob das Fieber sich diesen als Beute ausersehen hätte und sich an seinem Besitz schadlos halten wollte für die vielen Opfer, die ihm entronnen waren. Fester noch als bei der Landarmee umschlingt bei der Marine das Band der Kameradschaft die Gleichaltrigen; das stete Zusammenwohnen im engen Raum, die unmittelbare Berührung, in die sie zu einander treten, die vielen Gefahren, denen sie gemeinsam ins Auge schauen — das Alles läßt sie sich thatsächlich als Mitglieder einer großen Familie fühlen. Mehr als fünfzig Cadetten waren an Bord, aber trotz der Verschiedenheit der Charaktere waren noch nie zwischen ihnen ein Streit oder eine ernstliche Meinungsverschiedenheit entstanden, innige Freundschaft verband sie Alle. Der allgemeine Liebling aber war Freddy, wie der Seecadett von Unstrut stets von seinen Kameraden genannt wurde. Er war von kleiner, schmächtiger Statur, blond und helläugig, in seiner ganzen Erscheinung lag etwas Weiches, Kindliches, das oft einen geradezu rührenden Ausdruck annahm, wenn er bei den lustigen Erzählungen seiner Kameraden aus ihrer Jugendzeit wie traumverloren vor sich hinblickte. Seine hellen, blauen Augen nahmen dann einen fast schwärmerischen Ausdruck an; es war, als wenn die Schilderungen der Freunde ein fernes, unbekanntes Land vor seinen Augen heraufzauberten, das er mit seinen Blicken für immer festhalten wollte.
Eines Abends hatten wieder alle Cadetten in der Messe zusammengesessen und sich lustige und übermüthige Streiche aus ihrer Jugendzeit erzählt und da war es geschehen, daß einer gesagt hatte: „So Freddy, nun erzähle Du uns auch etwas, von Deiner Jugend wissen wir so gut wie garnichts.”
Da hatte Freddy wehmüthig seinen Kopf geschüttelt, daß die blonden Haare ihm auf die Stirn fielen und nur gesagt: Ich hatte keine Jugend.
Das hatte so unaussprechlich traurig geklungen, daß alle Kameraden ihn voller Wehmuth und Theilnahme anblickten. Er hatte keine Jugend gehabt — das war für sie, die in meist reichen Verhältnissen, in fröhlicher Gesellschaft mit den Geschwistern und Spielkameraden aufgewachsen waren, etwas kaum Faßbares. Das Lachen und Scherzen war verstummt, aber von dieser Stunde an war Freddy fast noch mehr als bisher der Liebling Aller.
Und nun lag Freddy schon seit Wochen im Schiffslazareth und Alle sorgten um sein Leben.
Schon in Afrika hatte ihn das Fieber gepackt und ihn festgehalten bis zu dem Augenblick, da das Schiff wieder auf hoher See war. Dann war das Fieber geschwunden für kurze Zeit, um aber bald darauf stärker wieder aufzutreten. Mit eiserner Kraft und Energie kämpfte Freddy gegen seine Krankheit an: er wollte, er durfte sich nicht hinlegen, er wußte, daß Unthätigkeit leicht tödtlich wird, daß man bei nicht zu starker, körperlicher Anstrengung am leichtesten der Krankheit Herr wird. So that er unermüdlich seinen Dienst, aber die zarten Wangen wurden immer blasser und blasser und das Fieber wühlte in seinem Körper, bis ihn eines Tages die Kraft verließ und er nicht mehr fähig war, sich zu bewegen. Aus seiner Hängematte heraus hatte man ihn in das Lazareth getragen und dort lag er nun, die Wangen von Fieber geröthet, mit matten, glanzlosen Augen, in seinen Phantasien wirr und irre redend, kämpfend mit dem Tod, der an seinem Bette stand und sich zu weiden schien an den Qualen seines Opfers.
An dem Fußende des Lagers, mit traurigen Blicken den Kranken beobachtend, saß Freddys Wachtofficier.
Jedem Officier ist ein Cadett beigegeben, der mit ihm Wache geht, um den Jüngeren für diesen schwierigen und ungemein wichtigen Dienst anzulernen. Lieutenant zur See Walter hatte gebeten, Freddy als Wachcadetten zu bekommen und seiner Bitte war entsprochen worden. Er war der Einzige, der Freddys Jugend kannte.
Vor vielen, vielen Jahren war er nach einer längeren Seereise zum Besuch eines nahen Verwandten im fernen Rußland gewesen und dort hatte er Freddys Eltern, die als geborene Deutsche im Ausland sich niedergelassen hatten, kennen gelernt: sie bewohnten eine kleine Villa, die unmittelbar neben dem Haus seiner Verwandten lag. Freddy war das jüngste der acht Kinder und auch damals schon der Liebling Aller, die ihn kennen lernten. Lustig und übermüthig tobte er den ganzen Tag mit seinen Geschwistern und mit seinen Freunden auf der Straße und in dem großen Garten herum. Wenn er aber sich müde getobt hatte, suchte er seinen großen Freund, wie er ihn nannte, auf — denn eine Art Freundschaft hatte sich zwischen dem damals jungen Officier und dem zehnjährigen Knaben entwickelt. Und dann mußte der große Freund erzählen von den Reisen, die er gemacht, von den Ländern, die er gesehen, von den Völkern, mit denen er in Berührung gekommen war. Stundenlang hörte der Knabe zu, aufmerksam lauschte er jedem Worte und wenn der Erzähler endlich schwieg, küßte er ihm nach russischer Sitte dankbar die Hand und bat in freundlichem Ton: „Darf ich morgen wieder kommen?” Und er kam Tag für Tag, bis eines Tages das schreckliche Ereigniß eintrat, daß man Freddy's Vater todt nach Hause brachte — ein Selbstmord hatte seinem Leben ein Ende gemacht. Waghalsige Spekulationen an der Börse, mit denen er auf einmal seine Begierde nach großem Reichthum befriedigen zu können hoffte, hatten ihn nicht nur um sein ganzes Vermögen gebracht, sondern er hatte sich, um das Deficit an der Börse zu deken und dadurch seinen Credit als Kaufmann aufrecht zu erhalten, verleiten lassen, ihm anvertraute Vormundschaftsgelder zu veruntreuen. Durch einen Zufall war dies gleich darauf ans Tageslicht gekommen und in seiner Verzweiflung, von Scham und Reue getrieben, griff der Kaufherr, der sich bisher des größten Ansehens erfreut und viele Vertrauensämter bekleidet hatte, zur Waffe. In der entsetzlichsten Armuth blieb die Wittwe mit den Kindern zurück, sie besaß nichts als die Meubles in den Zimmern und die Garderobe für sich und ihre Kinder. Die Kaufmannsgilde, der ihr Mann angehört hatte und die den Wittwen und Waisen reichliche Unterstützungen zu gewähren pflegt, weigerte sich in Folge des großen Vertrauensbruches, den der Verstorbene sich hatte zu Schulden kommen lassen, zu helfen. So fehlte es an Allem; nicht einmal die Mittel zum Begräbniß waren vorhanden. Walter's Schwager war der Erste, der half, der der Wittwe eine Summe zur Verfügung stellte und auch bei seinen Freunden Interesse und thatkräftige Hülfe für die Hinterlassenen zu erwecken wußte. Er war es auch, der es nach harten Kämpfen bei der Gilde durchsetzte, daß sie der Wittwe jährlich eine Rente aussetzte, die den Zinsen des von dem Verstorbenen eingezahlten Capitals entsprach, obgleich die Statuten bestimmten, daß die Hinterbliebenen der Selbstmörder auf keine Unterstützung zu rechnen hätten: Durch diese Bestimmung glaubte die Gilde Manchen, der sich mit Selbstmordgedanken trug, mit Rücksicht auf Weib und Kind von seiner unglückseligen That noch im letzten Augenblick zurückhalten zu können. Walter's Verwandter übernahm es auch, alle geschäftlichen Angelegenheiten für sie zu ordnen — wie Alles werden würde, mußte erst die Zukunft lehren.
Nach Beendigung seines Urlaubs war Walter wieder abgereist und hatte lange nichts von Freddy und deren [sic! D.Hrsgb.] Mutter gehört, bis ihn eines Tages ein Brief seiner Schwester erreichte. „Meine Seele ist traurig und ich bin betrübt bis in den Tod, thränenden Auges schreibe ich Dir, denn mein Herz zittert noch von dem Traurigen, das ich heute erlebte. Du weißt, in welcher Armuth Freddy's Mutter mit ihren Kindern zurückblieb, wir, die wir sie liebten um ihrer Schönheit, ihres Unglücks und ihrer großen, edlen Seele wegen, thaten für sie was wir konnten, wir halfen mit Rath und That und zum ersten Mal in dieser Zeit geschah es, daß ich mit meinem Loos unzufrieden war, daß ich klagte und haderte, weil ich nicht die Mittel besaß, um die Thränen der Armen für immer trocknen zu können. Immer wieder rechneten und überlegten wir — Du kennst ja die grenzenlose Güte Deines Schwagers — aber immer kam es wieder zu demselben Ergebniß. Es geht nicht anders, Frau von Unstrut muß sich von ihren Kindern trennen, es ist eine vollständige Unmöglichkeit, daß sie mit denjenigen Mitteln. die sie hat, ihre Kinder groß zieht. Ich weiß, sie hat viele Verwandte, die müssen sich der Kinder annehmen. Morgen schon will ich mit ihr sprechen.”
„Nie werde ich den Ausdruck meines Mannes vergessen, als er am nächsten Tage von dem Besuch aus dem Nachbarhaus zurückkehrte — jeder Blutstropfen war aus seinem Gesicht gewichen und Todtenblässe bedeckte seine Züge. Frage mich nicht, bat er, laß Dir genügen an der Thatsache, daß sie die Richtigkeit meiner Worte eingesehen hat. Sie trennt sich von ihren Kindern. Der Wunsch, die Sehnsucht die Ihrigen bei sich zu behalten, sich an ihrem Anblick, ihrer Jugend und Schönheit zu erfreuen, Trost bei ihnen und durch sie zu finden für das Entsetzliche, das sie hat durchmachen müssen, dies Alles kämpfte einen harten, schweren Kampf mit der Mutterliebe, die da sagt: Denk nicht an Dich, was liegt an Dir und Deinem Leben, wenn es den Kindern nur gut geht, wenn nur für sie gesorgt ist.
Wer wird mir helfen, das Entsetzliche zu ertragen? fragte sie mich voller Verzweiflung.
Gott, gab ich zur Antwort.
Da faltete sie die Hände, die Thränen flossen ihr die Wangen hinab und während sie verzweifelt die gefalteten Hände zum Himmel emporstreckte, sprach ihr Mund mir unverständliche Worte. Auf den Zehen schlich ich hinaus, ich fühlte, ich war überflüssig, wenn der Mensch sich in seiner Noth und Verzweiflung mit seinem Herrn und Heiland unterhält, wenn er des Wortes gedenkt: Kommet her zu mir, die Ihr mühselig und beladen seid, ich will Euch erquicken, bedarf es keines menschlichen Zuspruches mehr. Und der Segen des Gebetes bewährte sich auch hier: eine Verzweifelte hatte ich verlassen, eine völlig Gefaßte fand ich vor, als ich nach geraumer Zeit wieder ins Zimmer trat. Ich habe Alles mit ihr verabredet, mir ist, als hätte ich in diesen Stunden Jahre durchlebt.”
„So sprach mein Mann und jetzt sind seit diesem Tage acht Wochen vergangen. Die Kinder sind in der ganzen Welt zerstreut und ein grausames Geschick wollte es, daß jede Woche eins der Kinder abgeholt wurde. Heute Nachmittag ist nun als letzter auch Freddy abgereist. Als der Wagen vorfuhr, der ihn zur Bahn bringen sollte, war mir, als ob der Leichenwagen käme. Wir standen im Garten an der Pforte und sahen zu, wie die Koffer verladen wurden. Nun trat Freddy auf die Straße, um zu sehen, ob auch alles Gepäck im Wagen sei. Wir riefen ihn zu uns heran, um ihm noch einmal Lebewohl zu sagen und um ihm ein Abschiedsgeschenk in die Hand zu drücken. Wie ein Held hatte der Junge sich bisher benommen, kein Wort der Klage war über seine Lippen gekommen, nur der Blick seiner Augen hatte verrathen, was in ihm vorging — aber als es nun zum letzten Abschied kam, als wir zärtlich, unfähig zu sprechen, seine blonden Locken streichelten, da kam der Schmerz bei ihm zum Durchbruch. Nie habe ich aus dem Munde eines Kindes einen solchen verzweifelten Schrei gehört, laut wehklagend umschlang er mich mit seinen beiden Armen und barg sein Gesicht in meinem Schooß. Ich fühlte, wie sein junger Körper bebte und zitterte, ich fühlte seine Thränen auf meiner Hand und konnte nichts anderes für ihn thun, als mit ihm weinen und beten, daß Gott ihm beistehen möge alle Zeit. Dann hob er den Kopf empor und sah mich mit todestraurigen Augen an. „Lieber, lieber kleiner Freddy.” Das war Alles, was ich zu sagen vermochte, noch einmal küßte ich ihn auf die Stirn, dann riß er sich los — einen Augenblick später rollte der Wagen von dannen. Ich aber ging mit meinem Mann hinein in das Haus und wir Beide haben geweint, als ob wir unser eigen Kind verloren hätten. Nach dem Westen von Deutschland geht Freddy zu reichen Verwandten, die ihn an Kindesstatt adoptirten und ihm die Erfüllung seines sehnlichsten Wunsches, Marineofficier zu werden, zugesagt haben. Deine Erzählungen haben den Gedanken hieran in ihm wach werden lassen. Vielleicht führt Euch der Zufall später einmal wieder zusammen — dann nimm Dich seiner an nach besten Kräften, hilf ihm, wo immer Du kannst; seine Mutter, die er wohl nie wieder sehen wird, wird es Dir danken.
Wenn Du die Frau in diesen Wochen des tiefsten Schmerzes hättest sehen können, so würdest auch Du zu ihr wie zu einer Heiligen emporgeschaut haben. Du kennst sie ja in ihrer stolzen, üppigen Erscheinung, groß, blond und blauäugig, die echte Germanin. Das Leid und das Elend hat sie womöglich noch verschönt, ihrem Auge und ihren Zügen einen ruhigen, traurigen Ausdruck verliehen. Sie klagt nicht mit Worten und weint keine Thränen, nur ihre Augen verkünden, was sie leidet. Wie ist es möglich, daß eine Frau so Schweres zu ertragen vermag? Wenn das Wort der Schrift sich erfüllt, das da besagt: Belohnt soll der einst werden, wer hier auf Erden leidet, so muß der Heiland ihr dereinst, wenn ihre Stunde geschlagen hat, mit ausgestreckten Händen entgegenkommen und zu ihr sprechen: „Komm, ich will Dir lohnen wie keiner je zuvor — Du warst geduldig in Trübsal, hieltest fest am Gebet und hadertest nicht gegen Deinen Gott, der Dir so Schweres auferlegte, Dein Leben soll Dir werden.”
Das Haus, das einst wiederhallte von den fröhlichen Stimmen der Kinder, ist wie ausgestorben. Freddy's Mutter wird zu uns ziehen. Ob sie je eins ihrer Kinder wiedersehen wird? Ich glaube kaum. Schrecklich ist das Loos, das ihr zu Theil wurde. Wenn ich sie sehe, vergleiche ich sie im Geiste immer mit einem Baum, der einst in voller Blüthe stand, dessen Blüthen aber von dem Sturm und Ungewitter fortgerissen wurden. Kalt, starr und einsam steht nur noch der Stamm, geduldig des Unwetters harrend, das auch ihn zu Boden wirft.
Mutter, Mutter, klang es in diesem Augenblick vom Krankenbette her.
Der Officier, der beständig bei dem Kranken wachte und sich selbst nur die nothwendigste Erholung gönnte, beugte sich über das Lager und strich dem Kranken zärtlich über die heiße Stirn: Kann ich irgend etwas für Sie thun, Freddy, wünschen Sie etwas?
Der Kranke hörte seine Worte, ohne ihren Sinn zu verstehen. Mutter, komm zu mir, bat er mit flehender Stimme.
Leise öffnete sich die Thür der Cajüte und der Arzt trat herein. Flüchtig begrüßte er den Officier und näherte sich dann dem Kranken. Er fühlte den Puls und legte horchend sein Ohr auf die Lungen und auf das Herz des schwer Athmenden, es waren nur wenige Minuten, die so vergingen, aber dem jungen Officier dünkten sie eine Ewigkeit.
Endlich richtete der Arzt sich wieder in die Höhe und blickte dann wieder in das Gesicht des Fieberkranken.
Nun, Doctor, wie steht's?
Und als keine Antwort kam, fragte der junge Officier noch einmal: Herr Doctor, bitte sagen Sie mir die Wahrheit, Sie wissen, ich liebe ihn wie meinen Bruder, sagen Sie mir, wie es um ihn steht, ich bin auf Alles gefaßt.
Noch einmal fühlte der Arzt den Puls des Kranken, dann sagte er mit leiser Stimme: Mein Wissen und meine Kunst ist hier zu Ende, wenn nicht ein Höherer hilft, schlummert Freddy morgen Abend auf dem Boden des Meeres.
Der junge Officier war aufgesprungen und hatte die Hand des Arztes ergriffen, mit flehenden Blicken sah er zu ihm empor: Doctor, ich beschwöre Sie, nehmen Sie das Wort zurück, das Sie eben sprachen, sagen Sie, daß Sie sich irrten. Freddy darf, er soll nicht sterben — so jung, so liebenswürdig und so schön soll er nicht schon Abschied nehmen von diesem Leben, das ihm bisher nur Trauriges brachte, das ihm alle Freuden vorenthielt. Lassen Sie ihn nicht sterben, noch nicht, noch ist er zu jung, erhalten Sie ihn uns am Leben.
Traurig schüttelte der Arzt den Kopf: Er muß sterben.
Und giebt es gar keine Rettung, gar keine?
Hier nicht, klang es zurück, wenn wir den Kranken an Land hätten, in sorgsamster, aufopferndster Pflege, jedes Geräusch, jede Störung von ihm fernhalten könnten, wenn er in einem Krankenhause läge statt hier an Bord eines Kriegsschiffes, das von den Wellen hin und hergeworfen wird — dann, ja dann wäre eine Möglichkeit vorhanden, ihn zu retten. Aber so kann ich nur wiederholen: er muß sterben.
Er muß sterben.
Niemand wußte, wer es erzählt hatte, Keiner hatte es dem Anderen gesagt, aber auf einmal wußte es die ganze Besatzung: er muß sterben. Wo sich immer zwei begegneten, ob auf dem Deck oder hoch oben auf den Raen, flüsterte es Einer dem Andern zu. Verflogen war die Freude der Heimkehr und fast grollenden Blickes sahen sie hinab auf das Meer, dem sie bald einen der Ihrigen anvertrauen würden.
In der Messe saßen die Cadetten zusammen: junge, frische, übermüthige Leute. Aber jetzt unterhielten sie sich nur mit leiser Stimme. Jeder scheute sich zu sprechen, sie glaubten kein Anrecht auf das Leben mehr zu haben, da einer von ihnen mit dem Tode rang.
Nur die sorgsamste pflege, nur die Ueberführung in ein Krankenhaus, wo es ihm an nichts fehlt, vermag ihn zu retten, so hat der Arzt gesagt, erklang da die Stimme eines Kameraden, und darum giebt es nur eins: Wir müssen zum Commandanten gehen und ihn bitten, den nächsten Hafen anzulaufen.
So neu und ungeheuerlich war Allen dieser Gedanke, daß für einen Augenblick tiefstes Schweigen herrschte. Die Reiseroute eines jeden Kriegsschiffes ist ganz genau vorgezeichnet — nur außergewöhnliche Umstände ermächtigen den Commandanten, aus eigener Initiative hiervon abzuweichen und sofort hat er dann höheren Ortes sein Thun und Handeln eingehend zu begründen und der nächste Hafen, Cadiz, lag abseits vom Wege — ohne einen Hafen zu berühren, sollte das Schiff die Heimreise machen.
Aber der augenblicklichen Stille folgte ein unbeschreibliches Sprachgewirr. Für und wider wurde der Gedanke erörtert: „er kann nicht, er darf nicht, das ist kein Grund, die Instructionen zu verletzen.” Dann wieder Stimmen: „Er thut's. Er hat das Herz auf dem richtigen Fleck. Laßt uns zu ihm gehen.” „Hiergeblieben,” riefen die Aelteren, „wir wollen in Ruhe überlegen, unsere Officiere um Rath fragen.” „Und warten, bis es zu spät ist! Nein, nein, jetzt gleich,” und in jugendlicher Begeisterung, nur getrieben von dem Gedanken, den Freund zu retten, stürmten sie davon —die Ruhigeren, Besonneren hinter ihnen her, um sie von einem unüberlegten Schritt zurückzuhalten. Strenger noch als auf dem Land ist der Verkehr zwischen Untergebenen und Vorgesetzten auf dem Schiff geregelt und der Commandant insonderheit nimmt eine völlige Ausnahmestellung ein: nur auf dem Instanzenwege darf man mit ihm verkehren, er muß ganz für sich leben, um das Ansehen seiner Person und seiner Stellung zu bewahren. So verlangt es das Gesetz.
Auch jetzt saß er allein in seiner mit behaglichem Luxus ausgestatteten Kammer an seinem Schreibtisch, als er draußen halblautes Sprechen und dazwischen die Stimme des Postens vernahm.
„Wo ist die Ordonnanz? Sie soll uns bei dem Herrn Commandanten melden.”
„Die Ordonnanz ist nicht da.”
„So melden wir uns selbst an.”
„Das darf ich nicht dulden.”
„Was giebt's?”
Neugierig hatte der Commandant seine Kammerthür geöffnet und ein Ausdruck des Erstaunens legte sich auf seine Züge, als er seine Cadetten vollzählig vor sich sah.
„Was giebt's`Was führt Sie zu mir?”
Aus den Reihen der Cadetten trat der Aelteste vor: Herr Commandant, wir sind gekommen, um Sie zu bitten, heute in den Hafen von Cadiz einlaufen zu wollen. Unser Kamerad Freddy, ich meine Cadett von Unstrut, kämpft mit dem Tod. Nach Aussage des Arztes kann die Ueberführung in ein Krankenhaus ihn retten, während er hier unbedingt sterben muß. Und da wollten wir den Herrn Commandanten gehorsamst bitten, in Cadiz den Kranken ausschiffen zu lassen. Von Herrn Lieutenant Walter haben wir gehört, daß Freddy immer nach seiner Mutter jammert, die er, wie wir erst heute erfuhren, seit mehr als zehn Jahren nicht gesehen hat. Sie ist arm und mittellos; wir Alle haben zusammengeworfen und wollten ihr telegraphisch von Cadiz aus das Geld anweisen, damit sie kommen kann, ihren Sohn zu sehen — vielleicht, daß er dann wieder ganz gesund wird.
Der Sprecher schwieg und blickte gespannt auf zu dem Commandanten, der in Gedanken versunken da stand. Es war viel, sehr viel, was die Cadetten von ihm verlangten und er schwankte und überlegte, ob er ihren Wunsch erfüllen könnte. Da fiel sein Blick auf die Bilder seiner Kinder, die an den Wänden seinr Cajüte hingen und eine innere Stimme sprach zu ihm: „Als Dir die Cadetten anvertraut wurden, gelobtest Du Dir, ihnen alle Zeit ein Vater sein zu wollen und sie zu halten, als wenn sie Deine eigenen Kinder wären. Das Leben eins der Deinen ist in Gefahr, Du hast die Macht es zu retten, kannst Du noch zögern? Würdest Du eins Deiner eigenen Kinder sterben lassen, wenn noch die Möglichkeit vorhanden wäre, es Dir und der Mutter zu erhalten? Nein, nein, und abermals nein, rief es in seinem Innern und so sagte er:
Ich will selbst gehen um mich nach dem Kranken umzusehen — Sie aber, er wandte sich an den Sprecher von vorhin, überbringen dem wachthabenden Officier von mir den Befehl, den Curs zu ändern. Der Wind ist günstig, ich hoffe, daß wir heute Nacht Cadiz erreicht haben.
(Fortsetzung folgt.)
Belletristisch-Literarische Beilage, No. 32., Sonntag, den 7. August 1898.
(Fortsetzung. Vergl. No. 31 d. Bl.)
II.
In einem großen, hellen, luftigen Gemach des Klosters zur heiligen Ursula lag Freddy auf seinem Lager. Durch die offenen, hohen Bogenfenster fluthete milde, sanfte Luft und goldig schien die Sonne zwischen den hohen, alten Bäumen des Klostergartens hindurch und fiel auf die in schwerem Gold gearbeitete Figur des gekreuzigten Erlösers.
Zu den Füßen des Krankenbettes saß die Schwester Juanita, aufmerksam in dem Gesicht des Schlafenden lesend, denn heute, so hatte der Arzt zu ihr gesprochen, heute schlägt er die Augen auf, heute oder nie. Daß Sie gleich zur Hand sind, wenn er ruft und daß Sie nichts in der Pflege vernachlässigen.
Statt jeder Antwort hatte sie nur ein Lächeln gehabt, ein mildes, gütiges Lächeln, das Lächeln eines Engels.
Vor drei Tagen hatte man den Kranken gebracht, spät am Abend war es schon gewesen, fast schon Zeit zum Schlafengehen. Da hatte ein gar seltsamer Zug sich dem Kloster genähert: vier Matrosen, große, stämmige Gesellen, in blauer Uniform, die so gut stand zu den braunen Gesichtern, den blauen Augen und dem blonden Haar, hatten auf ihren Schultern einen Krankenkorb getragen und viele Officiere und junge Cadetten waren ihnen gefolgt. Deutsche waren es gewesen, wie es hinterher bekannt wurde und neugierig hatten sie Alle die ihnen fremden Gesellen angeschaut. Vor der Thür des Klosters hatten sie Halt gemacht, dann hatte ein hoher, stattlicher Officier, den die anderen Alle mit ganz besonderer Auszeichnung behandelten, Eingang erbeten und sich zu der Priorin führen lassen. Wenige Minuten nur verstrichen, dann war die Priorin an der Seite des Fremden erschienen, die Träger hatten den Korb wieder aufgenommen und durch einen langen, langen Säulengang hierher in dieses Gemach getragen — vorsichtig, leise, ganz leise hatten sie die Last niedergesetzt und dann den Deckel des Korbes zurückgeschlagen. Und da hatten sie zum ersten Mal den Kranken gesehen: so schön, so jung und so blaß, daß ihnen Allen die Thränen in die Augen getreten waren.
Aus dem Korb hatte man den Jüngling auf ein Lager gebettet — ernst und schweigend hatten seine Kameraden zugeschaut, dann waren sie herangetreten und der älteste Officier hatte gesagt: Wir wollen beten, daß der Herr ihn uns zurückgiebt. Mit lauter Stimme hatte er das „Vater unser” gebetet und im Stillen hatte Jeder es nachgesprochen. Dann waren sie herangetreten, um Abschied zu nehmen; Einer nach dem Andern hatte sich über den Schlummernden gebeugt und seine Stirn geküßt, dann waren sie gegangen und gleich darauf hatte das Kloster wieder still dagelegen.
Prüfend und forschend hatte die Priorin sich unter den Schwestern umgesehen, wem sie den Kranken anvertrauen sollte; dann hatte sie Juanita zu sich herangewinkt. Dankbar hatte sie das Knie gebeugt und die Hand der Priorin geküßt und darauf ihren Platz eingenommen. Drei Tage und drei Nächte war sie kaum von dem Lager fortgekommen und sie hatte den Blick nicht von ihm abzuwenden vermocht. An vielen, vielen Krankenbetten hatte sie gesessen, aber selbst das Werk der aufzehrendsten Nächstenliebe wird mit der Zeit zur Gewohnheit und das Herz weiß oft kaum noch, was die Hand thut, was der Mund spricht. Schon so Viele hatte sie sterben sehen, daß ihr Empfinden abgestumpft war gegen das Erscheinen des Todes — jetzt aber war die Theilnahme für ihren Schutzbefohlenen wieder in ihr erwacht, sie betete für sein Leben mit Inbrunst, sie wollte ihn retten, um seinetwegen — um ihretwegen, denn sie fühlte, daß sie nie wieder glücklich werden würde, wenn er stürbe.
Wie schön er war! Wieder betrachtete sie ihn von Neuem und da sah sie, wie der Kranke plötzlich die Augen aufschlug und verwundert, erstaunten Blickes um sich sah.
Er lebt, er ist gerettet, jubelte es in ihrem Innern — ein Gefühl grenzenloser Dankbarkeit erfüllte sie und sie sank auf die Knie, ein heißes Gebet gen Himmel sendend, dann erst trat sie an sein Lager.
Wo bin ich? fragte er mit schwacher, matter Stimme, was ist mit mir geschehen? Wo ist meine Mutter?
Sie war des Deutschen etwas mächtig, so gab sie ihm Antwort, so gut sie es vermochte, die ihr ungeläufigen Ausdrücke in ihrer Muttersprache wiedergebend und mit großer Freude erfüllte es sie, als sie merkte, daß er ihre Sprache verstand.
Und wie darf ich Sie nennen? fragte er, als sie nun schwieg.
Schwester Juanita, gab sie zur Antwort.
Bewundernd ruhten seine Blicke auf der schlanken, stolzen und in ihrer dunklen Tracht doch so demüthigen Gestalt. Edel und scharf war das Gesicht gezeichnet, dunkel, mit verhaltenem Feuer leuchteten die großen schwarzen Augen, unter der Haube hervor quoll in dicken Strähnen das dunkle Haar. An muth und Grazie lag in der ganzen Erscheinung und um den feingeschnittenen Mund, aus dem blendend weiße Zähne hervorleuchteten, lag ein tiefernster Zug, der von vielem Leid und vielem Ungemach erzählte und dem sonst so frischen, fast kindlichen Antlitz einen besonderen Reiz verlieh.
Sie fühlte seine Blicke auf sich ruhen, sie las die Bewunderung in seinen Augen und wider ihren Willen färbten sich ihre Wangen dunkel. Sie war glücklich, daß sie ihm gefiel und sie sehnte sich nach einem Wort aus seinem Munde. Und als er immer noch schwieg, trat sie näher an sein Lager und rückte ihm die Kissen zurück [Wohl recte: zurecht! D.Hrsgb.] Wie unabsichtlich strich sie mit ihrer schlanken Hand über seine Stirn.
Ist meine Mutter nicht hier?
Jäh loderte das heiße Blut in ihr auf und zornig funkelten ihre Augen. Immer nur die Mutter! Er schien gar keine weiteren Gedanken zu haben. In seinen Fieberphantasien hatte er stündlich nach ihr gerufen, sie in den flehendsten Ausdrücken gebeten, zu ihm zu kommen.
Mutter, küsse mich, ach küsse mich nur noch ein einziges Mal, hatte er einmal gerufen — da war sie der Versuchung unterlegen, sie hatte sich über ihn gebeugt und einen langen, heißen Kuß auf seine Lippen gedrückt. Für eine Secunde hatte er da die Augen geöffnet, wild und unstät aber waren seine Blicke umhergeirrt, sie fühlte, er hatte sie nicht erkannt, eben war er wieder eingeschlummert.
Ist meine Mutter nicht hier? fragte er noch einmal, mir war einmal, als hätte sie sich über mich gebeugt und mich geküßt. Deutlich glaubte ich den Kuß auf meinen Lippen zu spüren, ein Gefühl der Glückseligkeit durchdrang mich und ich glaube, diesem Kuß verdanke ich es, daß ich genesen bin.
Sie hatte sich abgewandt und räumte im Zimmer auf:
Ein Traum war es, Signor, gab sie zur Antwort, ein schöner Traum. Nun aber dürfen Sie nicht mehr sprechen, nur schlafen müssen Sie, viel schlafen, damit Sie ganz wieder gesund werden. Kann ich noch etwas für Sie thun?
Ich bin müde, sagte er mit matter Stimme. Er lehnte sich in die Kissen zurück und sorgsam deckte sie ihn zu. So hat die Mutter mich früher auch immer zugedeckt, erzählte er leise, früher, vor vielen, vielen Jahren, als ich noch ganz klein war. Ich weiß es noch ganz genau, obgleich es schon sehr, sehr lange her ist. So etwas vergißt man aber nicht, wenn man seine Mutter lieb gehabt hat, ach und ich habe sie sehr, sehr lieb.
Ein glückliches, kindliches Lächeln umspielte seinen Mund und dies Lächeln schwand auch nicht, als sich seine Augen von neuem geschlossen hatten und er in einen sanften Schlaf verfiel.
Wieder wachte Schwester Juanita an seinem Lager; wild pochte das Blut in ihren Schläfen und mit fast feindseligen Blicken betrachtete sie den Schlummernden. Immer nur die Mutter, nur ihr galten seine Gedanken und seine Worte. War sie selbst ihm eben garnichts? Wie hatte sie sich auf den Augenblick gefreut, da er zum ersten Mal erwachen würde, wie hatte sie geglüht in freudiger Erregung, als sie seine Blicke auf sich ruhen fühlte, mit welcher Ungeduld hatte sie ein Wort der Dankbarkeit — der Liebe aus seinem Munde erwartet. Denn wenn sie es sich zuerst auch nicht hatte eingestehen wollen, wenn sie dagegen angekämpft hatte mit aller Gewalt und in heißen Gebeten die Heilige um Schutz und Hülfe angefleht hatte, so war doch Alles vergebens gewesen; sie liebte den Kranken mit der ganzen Gluth und Leidenschaft ihres jugendlichen Herzens, sie liebte ihn seit dem Augenblick, da sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Freude und Glückseligkeit, Trauer und Verzagtheit erfüllten ihr Herz, und was sollte daraus werden? Sie fühlte es nur zu gut, sie war dem Kranken nichts, nur seiner Mutter galten seine Gedanken. Sie wußte, daß seine Mutter kommen würde, täglich, stündlich wurde sie erwartet. Sie schrak zusammen, sobald sie auf den Wandelgängen Tritte hörte und ihr Herz drohte ihr stehen zu bleiben, sobald die Thür des Gemaches geöffnet wurde. Immer fürchtete sie, die Gehaßte eintreten zu sehen — ja, sie haßte sie mit dem eifersüchtigen Zorn ihrer Liebe, mit der südländischen Leidenschaft ihres heißen Temperaments.
Nur der Mutter gedenkend, hatte er für sie nicht einmal ein Wort des Dankes gehabt — schätzte er denn das so gering, was sie für ihn gethan hatte? Galten ihm die Tage und die langen, langen Nächte nichts, die sie wachend an seinem Lager verbracht hatte, wußte er es denn nicht, daß er es nur ihrer aufopfernden Pflege zu verdanken hatte, wenn er mit dem Leben davon kam? Noch war die Gefahr nicht beseitigt, noch konnte ein Rückschlag wieder eintreten, noch konnte sie nicht daran denken, sich selbst etwas Ruhe und Erholung zu gönnen. Zum ersten Male vergaß sie die Regel ihres Ordens, der da lehrt, das Gute zu thun um seiner selbst willen, nicht zu rechnen auf klingenden Lohn und auf die Dankbarkeit der Menschen. Sie ward ungerecht in ihrem Zorn und in ihrer Mißstimmung und zum ersten Male fragte sie sich: Wie komme ich dazu, meine Jugend, meine Schönheit, meine ganze Person der Pflege eines Kranken zu widmen, der Alles, was ich ihm biete, hinnimmt, als wenn es so sein müßte, als wäre ich eine dienende Magd, und nicht wie er selbst aus vornehmen, stolzen Hause.
In Reichthum und Luxus war sie groß geworden, ihre Familie zählte zu einer der angesehensten des Landes und in der zärtlichsten Liebe ihrer Eltern, deren einziges Kind sie war, wuchs sie auf. Der stolze, schöne Palast ihrer Eltern bildete den Mittelpunkt der ersten Gesellschaft: Künstler und Gelehrte, der Adel und die höchsten Beamten gingen bei ihnen ein und aus, ein Fest jagte das andere und sie, die in fast märchenhafter Schönheit prangende Erbin bildete den Mittelpunkt eines jeden Festes. Zahlreiche Freier hatten sich um sie beworben, die Edelsten des Landes warben um ihre Hand, aber sie wies Alle zurück, sie liebte keinen derjenigen, die um sie freiten. Die Eltern drängten in sie, sich endlich zu entscheiden; sie ließen ihr auch freie Wahl, so wünschten sie dennoch bald die Tochter vermählt zu sehen.
(Schluß folgt.)
Belletristisch-Literarische Beilage, No. 33., Sonntag, den 14. August 1898.
(Fortsetzung. Vergl. No. 32 d. Bl.)
Da war es eines Mittags geschehen, daß Juanita von einer Besorgung zurückkehrend an einer kleinen Kirche vorbeikam, die sie noch nie betreten hatte. Am frühen Morgen hatte eine heftige Unterredung zwischen ihrem Vater, der von ihr verlangte, daß sie einem Bewerber von fürstlicher Abstammung die Hand reichen sollte, unbd ihr stattgefunden und ihr Herz war von Sorgen und Trübsal bedrückt, denn sie liebte den Mann nicht, den man ihr geben wollte. Um im Gebet Trost und neue Kraft zu finden, trat sie, von einem plötzlichen Impuls geleitet, in die Capelle. Schnellen Schrittes durchmaß sie den kleinen Raum und schon wollte sie sich auf die Knie niederlassen, als ein ergreifendes Bild ihre Blicke auf sich zog. Vor den Stufen des Altars, vor dem Bild der heiligen Mutter Gottes kniete in inbrünstigem Gebet ein junger Mensch. Hell und freundlich schien die Sonne durch die bunten Kirchenfenster gerade auf die Madonna, die mit gütigem Lächeln auf den Beter zu ihren Füßen hinabzublicken schien. Aus dem Gesicht des Betenden aber sprach Verzweiflung und Sorge und schwere Thränen rannen über sein männlich schönes Antlitz. Nun hatte er sein Gebet vollendet und wandte sich zum Gehen, nachdem er sich dreimal vor dem Mutter Gottesbild verneigt hatte. Da fielen seine Blicke auf Juanita, die an einen Pfeiler gelehnt dastand und sein Gebet abgewartet hatte, da sie es nicht wagte, durch ihre Schritte seine Andacht zu stören. Wie von einer überirdischen Erscheinung gefesselt, blieb er stehen und schaute sie bewundernd an mit solch großen, leuchtenden Augen, daß sie verwirrt den Blick zu Boden schlug. Zürnen Sie mir nicht, bat er, was Sie dem Menschen vielleicht nicht verzeihen könnten, müssen Sie dem Künstler, der in mir steckt, zu Gute halten, und als ob es etwas ganz Selbstverständliches sei, erzählte er ihr von sich und seinem Leben, während sie an seiner Seite dahinschritt, ohne ihr Gebet verrichtet zu haben. Don José nannte er sich und war Maler. Mit Noth und Sorgen hatte er zu kämpfen gehabt, bis er endlich durch Vermittelung guter Freunde einen größeren Auftrag für einen reichen Kunstmäcen erhalten hatte. Gestern hatte er das Werk, an dem er fast ein Jahr gearbeitet, auf das er alle seine Hoffnungen gesetzt und auf dessen Honorar hin er, um inzwischen leben zu können, neue Schulden hatte machen müssen, vollendet und heute Morgen sei ihm die Nachricht geworden, daß sein Beschützer gestorben sei. Er sei nun dem Elend und der höchsten Noth ausgesetzt und in seiner Verzweiflung habe er sich im Gebet Trost geholt.
Theilnehmend hörte Juanita ihm zu, mehr als einmal drängte sich ihr der Gedanke auf, dem Armen ihre Hülfe anzubieten, aber sie fürchtete den Fremden durch ihr Anerbieten zu beleidigen und zu kränken: edler Stolz und männliches Selbstgefühl sprachen aus seinen Zügen und ihr war, als hätte sie noch nie einen Mann außer diesem, den sie zum ersten Mal sah, gekannt. Sie hatte seine Wohnung erfragt für den Fall, daß sie einen Käufer wisse und schon am nächsten Tag hatte ihr Vater auf ihre Bitte hin das Bild zu einem ungewöhnlich hohen Preis erstanden, ja noch mehr, er hatte den Maler gebeten, in seinem Palast zu verkehren, um ihm somit Gelegenheit zu geben, neue Auftrgäge zu erhalten. Fast täglich hatten Juanita und Don José nun einander gesehen und immer mäüchtiger war die Liebe in ihr geworden, bis sie eines Tages ihrem Vater gestand, daß sie niemals einem andern Mann als Don José angehören könne. Wie vernichtet hatte der stolze Spanier einen Augenblick bei dieser Nachricht, die seine Hoffnungen, sein Kind dereinst an der Seite eines prinzlichen Gemahls zu sehen, zu Schanden machte, [hier fehlt offensichtlich ein Wort wie, „dagestanden”. D.Hrsgb.] dann aber war der Zorn in ihm erwacht und ein donnerndes „Nie, niemals” hatte er ihr entgegengerufen. Vergebens hatte sie vor ihrem Vater und ihrer stolzen Mutter auf den Knieen gelegen und sie beschworen, sie nicht unglücklich zu machen, Alles war umsonst gewesen, nur das Eine hatte sie nach vielem Bitten erreicht, daß ihr gestattet wurde, in ein Kloster zu gehen. Juanita glaubte und hoffte in ihrer Verzweiflung und in ihrem Seelenschmerz dort Genesung und Trost zu finden für das Leid, das ihr ihre junge Liebe bereitet hatte. In der strengen Zucht des Klosters, in dem anstrengenden Dienst und der neuen Thätigkeit waren ihre Gedanken bald abgelenkt worden von den Freuden dieser Welt, sie hatte ihre Liebe überwunden und glaubte, nachdem sie so Schweres durchgemacht hatte, gefeit und geschützt zu sein für alle Zeit. Und nun war doch wieder die Liebe über sie gekommen, stärker und mächtiger als einst und hatte ihr ganzes Sinnen und Trachten gefangen genommen. Sie war ja noch so jung, kaum zwanzig Jahr und zwei Jahre währte ihre Probezeit, ehe sie ganz in den Dienst ihres Ordens trat. Noch stand ihr der Austritt jeder Zeit offen, aber nie hatte sie daran gedacht, wieder in die Welt und in die Gesellschaft zurückzukehren. Jetzt zum ersten Male regte sich wieder die Sehnsucht in ihr, an der Seite eines über Alles geliebten Mannes glücklich zu sein.
Und dieses Mal würde sie glücklich werden. Nicht zum zweiten Mal wollte sie sich ihre Liebe nehmen lassen, es sollte, es mußte ihr gelingen, sein Herz zu erobern und dann wollte sie es festhalten für alle Zeit, für ihre Liebe kämpfen gegen Jedermann, auch gegen sie, die verhaßte Mutter.
Dem Tag folgte die Nacht und nach langen, langen Stunden erquickenden Schlafes erwachte Freddy von Neuem. Als er die Schwester wieder an seinem Bette sitzen sah, nickte er ihr freundlich zu: Immer noch da, Schwester Juanita? Ich mache Ihnen wohl viel Arbeit und Mühe und ich glaube, ich habe Ihnen gestern nicht einmal gedankt, daß Sie so für mich sorgen.
Sie hatte auf dieses Wort gewartet, aber nun da er es sprach, wies sie jeden Dank zurück und ihre Rechte zitterte, als sie sie in die ihr dargereichte Hand legte. Verwirrt fragte sie, wie er geruht, ob der Schlaf ihm wohl gethan habe und ob er sich gestärkt fühle und sie war froh, als sie auf kurze Zeit das Zimmer verlassen konnte, da er den Wunsch nach Speise und Trank äußerte. Als sie bald darauf wieder eintrat, glaubte sie, ihre Verwirrung überwunden zu haben, dennoch aber zitterten die Speisen in ihrer Hand, als sie seinen Blick wieder auf sich ruhen sah.
Wie schön Sie sind, Schwester Juanita!
Er sah, wie sie erröthete und folgte mit seinen Augen jeder ihrer Bewegungen, als sie nun die Schüsseln auf einen kleinen Tisch setzte und diesen zu ihm heranrollte. Sie schob ihm die Kissen unter den Rücken, daß er fast aufrecht saß und legte eine Decke um seine Schultern.
Mit zitternden, schwachen, kraftlosen Händen führte er den Löffel zum Munde.
Es geht nicht, Schwester Juanita, wollen Sie mir helfen?
Mit der Linken stützte sie ihn und ihre Rechte zitterte fast ebenso wie die seine, als sie ihm die Nahrung einflößte.
Sie sind müde und überanstrengt, Schwester, auch Sie bedürfen der Ruhe und der Stärkung, und als sie verneinend das Haupt schüttelte, bat er: So trinken Sie wenigstens einen Schluck von diesem schweren Wein, er rinnt wie Feuer durch das Blut, er wird auch Ihnen gut thun.
Lächelnd sah er zu, wie sie trank, und als sie ihm nun das Glas darbot, drehte er es in ihrer Hand, bis sein Mund die Stelle fand, die ihre Lippen berührt hatten.
Sie that als hätte sie es nicht bemerkt, als verstände sie den Blick nicht, den er ihr zuwarf und dennoch fühlte sie, wie ihr Herz wild schlug, wie ihre Wangen sich rötheten.
So, sagte er, Schwester Juanita, nun glaube ich, ist es genug.
Er schob den Teller bei Seite und schnell räumte sie ab.
Wollen Sie nun nicht wieder schlafen? fragte sie, aber er schüttelte den Kopf: Seit Tagen habe ich ja nichts Anderes gethan und bald muß ich ja doch für immer schlafen, da lassen Sie mich jetzt nur wachen.
Sie erschrak bei seinen Worten: Wie können Sie nur so etwas reden? Sie werden bald ganz wieder gesund sein, stärker und kräftiger als je.
Er lächelte schmerzlich: Das glauben Sie ja selbst nicht, Schwester Juanita, und als sie schnell ein „doch, doch” erwiderte, fuhr er fort: Dann kennen Sie das Fieber nicht, wen es so gepackt hat wie mich, den läßt es nicht wieder los, ganz gesund wird man nie wieder und wenn man noch so alt wird. Mit mir geht es aber bald zu Ende, von mir ist ja nichts mehr noch als ein Haufen Unglück.
Er versuchte zu scherzen, da erst gewahrte er, daß heiße Thränen ihre Wangen feuchteten.
Sprechen Sie micht so, bat sie, versündigen Sie sich nicht, Sie werden genesen. Wie kann man so verzagt sein und von Sterben sprechen, wollen Sie denn nicht leben?
Hellauf leuchteten seine Augen: Ob ich nicht will? Ach, das Leben ist so schön, trotz allen Elends und Kummer, die uns bescheert werden, daß ich ewig leben möchte. Viel Trauriges habe ich erlebt und oft geglaubt, verzagen zu müssen. Ueberall aber giebt es gute und liebe Menschen, die helfen und trösten — ich habe sehr viel Trauer erfahren, aber auch sehr viel Liebe. Er schwieg eine Weile, dann fuhr er fort: Sie dürfen nicht traurig sein, Schwester Juanita und nicht weinen. Sie sehen, ich selbst bin ja ganz gefaßt, ich fürchte mich nicht vor dem Tode. Ich will nicht klagen wenn er kommt — nur so lange möchte ich noch leben, bis ich noch ein einziges Mal meine Mutter gesehen habe.
Sie haben Ihre Mutter wohl sehr, sehr lieb?
Fast tonlos kam diese Frage aus ihrem Munde.
Ob ich sie lieb habe? Schwester Juanita, muß man denn seine Mutter nicht lieb haben?
Das klang so schlicht, so einfach, daß mit einem Mal der Haß und der Groll, den sie gegen die Fremde hegte, schwand.
Sie sollten sie nur einmal sehen, Schwester Juanita, so schön, so gut und so lieb, auch Sie würden sie lieben, es könnte garnicht anders sein. Der Mutter wegen möchte ich noch leben, sie wird sehr traurig sein, wenn ich nicht mehr bin, in allen Briefen, die sie mir schrieb, nannte sie mich nie anders als ihren Sonnenschein. Oft hat ihr die Sonne auf ihrem Lebenspfade nicht gelächelt, viel Leid hat sie durchgemacht, viel, viel Leid, fast zu viel für einen Menschen.
Schwester Juanita, bat er, nehmen Sie mir bitte die Kissen fort, ich möchte liegen. So danke, fuhr er fort, ich bin so müde und matt und mein Herz thut mir weh. Ja, wenn ich ein anderes Herz hätte, dann könnte Alles noch gut werden, aber das ist schwach, zu schwach. Das sagte man mir damals, als ich Soldat werden wollte, aber ich glaubte ihnen nicht und bat und flehte, bis man ein Auge zudrückte und mich trotz meines Flehens als tauglich und gesund bezeichnete.
Mit Schrecken hörte Juanita diese Worte, bestätigten sie ihr doch, was ihr noch gestern der Arzt gesagt hatte, als er den Herzschlag des Kranken untersuchte: Wenn nur dies Herz nicht wäre, hatte er immer wieder gesagt, dann wäre keine Gefahr, aber auch so wollen wir das Beste hoffen, noch ist Hoffnung vorhanden.
Als Schwester Juanita sich zurückziehen wollte, um ihm Ruhe zu gönnen, bat er sie zu bleiben: Lassen Sie mich nicht allein, besser als ich wissen Sie, wie egoistisch gerade wir Kranken sind, wir denken nur an uns. Ich habe Sie so gerne um mich, hier ist es so ruhig, so schön. Aber noch schöner ist es auf dem Meer. Kennen Sie es? Sind Sie jemals mit vollen Segeln hinaus gefahren in das weite, weite Meer. Kennen Sie den Zauber, dahin zu gleiten, von starkem Winde getrieben, unter sich die schäumenden Fluthen, über sich in unendlicher Ferne den blauen Himmel? Waren Sie einmal auf See? Und als sie verneinte, schilderte er ihr die Reize seines Berufes und berichtete von den Reisen, die er unternommen.
Nicht so viel sprechen, bat sie, nun sage ich es Ihnen zum letzten Male. Sie müssen sich ruhig verhalten, der Arzt will es und ich will es auch.
Er lachte belustigt über den strengen Ton aus ihrem Munde: Schwester Juanita, nicht solch' böses Gesicht, das steht Ihnen nicht, Güte und Strenge passen nicht zu Ihnen, Sie müssen lachen und scherzen, das kleidet Sie viel besser. So oft ich Sie ansehe — und glauben Sie mir, Schwester Juanita, ich sehe Sie fast immer an — denke ich darüber nach, welches Schicksal Sie hierher geführt hat. Darf ich es wissen? Nicht Neugierde ist es, die mich fragen läßt, Theilnahme ist es, Theilnahme und herzliche Zuneigung. Wissen Sie wohl, Schweter Juanita, daß ich Ihnen sehr gut bin, fast so gut wie meiner Mutter? Auch Ihretwegen möchte ich wohl gesunden und stark und kräftig werden. Wissen Sie, was ich dann thäte? Nach einem Jahr, wenn ich Officier geworden, würde ich hierher zurückkehren, mit Roß und Reisigen würde ich dies Kloster belagern und nicht eher von dannen ziehen, als bis Sie mir versprochen hätten, mir zu folgen. In meine schöne nordische Heimath hätte ich Sie dann geführt und Sie zu meiner Königin ernannt. Soll ich Ihnen noch etwas sagen, aber Sie dürfen mir nicht zürnen, setzte er hinzu, wie tiefes Roth ihre Wangen färbte und ein leises Zittern ihre Gestalt durchlief: Darf ich es Ihnen sagen? und ohne ihre Antwort abzuwarten, fuhr er fort: Mir träumte heute Nacht, ich ginge mit Ihnen in dem Klostergarten auf und ab. Mit Ihrer Hand stützten Sie mich, denn ich war noch krank und schwach und einmal, als die Kräfte mir erlahmten, blieb ich stehen und lehnte mich an Sie. Da beugten Sie sich zu mir hinab und drückten mir einen Kuß auf meine Stirn und mit einem Mal war ich gesund und genesen, grenzenlose Glückseligkeit durchdrang mich und Hand in Hand gingen wir weiter. Und plötzlich standen wir vor der Thür einer Capelle, die ich bis dahin noch nie gesehen. Feierlicher Gesang und mächtiger Orgelklang tönte uns entgegen. Hand in Hand traten wir hinein und mit einem Mal schlossen sich uns Alle an, die ich in meinem Leben geliebt habe: meine Mutter, die Geschwister, die Freunde und die Kameraden. Wie im Hochzeitszuge schritten wir dahin, immer weiter und weiter, dem Altar entgegen, auf dessen Stufen der Geistliche uns erwartete. Er streckte die Hand aus, um uns zu segnen — da, mit einem Mal erwachte ich, der Traum war verflogen, mein erster Blick aber fiel auf Sie.
Er schwieg und sah sinnend und träumend vor sich hin, als wollte er noch einmal das Bild vor sich heraufzaubern.
In grenzenloser Verwirrung hatte sie ihm zugehört, unbeschreibliche Glückseligkeit durchdrang ihre Brust und von neuem sandte sie ein Gebet zum Himmel: „Erhalte ihn mir am Leben — doch nicht mein, sondern Dein Wille geschehe.”
Lange, lange lag Freddy schweigend da, dann sagte er: Nun habe ich Ihnen Alles erzählt, nun wissen Sie, wie es mit mir aussieht. Jetzt sind Sie an der Reihe zu erzählen.
Willig kam sie seiner Aufforderung nach, vor ihm hatte sie kein Geheimniß, sie glaubte ihm nichts verschweigen zu dürfen und zuerst mit stockender Stimme, dann immer freier und lebhafter erzählte sie ihm die Geschichte ihres Lebens.
Mit gespanntester Aufmerksamkeit hörte er ihr zu und als sie geendet, reichte er ihr schweigend seine Hand und lange ruhte ihre Rechte in der seinen.
Arme Schwester Juanita, wieviel Trauriges haben auch Sie durchgemacht, sagte er dann theilnehmend, aber darf ich ganz offen zu Ihnen sprechen? und als Sie ihm freundlich zulächelte, fuhr er fort: Sie haben geliebt und überwunden, sie haben gelitten und sind gesundet. Kein Leid, so sagt man, sei so groß, daß es nicht den Keim zu einem neuen Glück in sich trüge und das, will mir scheinen, ist auch bei Ihnen der Fall. Sie sind hierher geflohen in das Kloster, Sie sind vielen Kranken ein rettender Engel gewesen und bei der Einsamkeit Ihres Lebens haben Sie sich selbst wiedergefunden. Sie waren verzweifelt und haderten mit Ihrem Geschick — ohne Groll gedenken Sie jetzt der Vergangenheit und freudig bewegt blicken Sie in die Zukunft. Schwester Juanita, ich sagte es schon einmal und geschah es vorhin halb im Scherz, so sage ich es jetzt im bitteren Ernst: Ich wollte, ich wäre der Arzt, der Sie ganz gesund machen könnte — aber wie kann ein Kranker eine Kranke heilen? Meine Tage und meine Stunden sind gezählt, ich beginge eine Sünde, wenn ich Hoffnungen in Ihnen erwecken wollte, die sich nie erfüllen könnten. Aber ich bitte Sie um eins: Kehren Sie zurück in Ihr Elternhaus, ein langes Leben liegt noch vor Ihnen, die Liebe der Mutter, die Güte des Vaters, die sich Ihrer Rückkehr freuen werden, sichern Ihnen eine glückliche Zukunft. Es giebt kein Wesen auf der Welt, das uns so liebt wie unsere Mutter — schon ihretwegen müssen Sie umkehren. Ich kenne Ihre Mutter nicht, aber ich denke mir, daß sie gut und edel ist wie die meinige, für Ihre Mutter bitte ich, ach, wie kann man eine Mutter haben und sie freiwillig verlassen? Gehen Sie zu ihr. Lassen Sie mich der letzte Kranke gewesen sein, dem Sie die letzten Tage seines Daseins verschönten, bleiben Sie bei mir, bis ich gestorben bin, dann aber gehen Sie. Wollen Sie es mir versprechen? Und wenn es nicht anders sein kann, thun Sie es nur mir zu Liebe. Wollen Sie?
Da sank sie schluchzend an seinem Lager nieder und barg ihr Gesicht in seinem Schooß. Ich will Alles, Alles thun, was Sie wollen.
Zärtlich strich er mit seiner Hand über ihr dichtes, schwarzes Haar.
Aber nicht sterben, nicht sterben, schrie sie plötzlich auf, ich ertrag' es nicht.
Mach' mir das Herz nicht schwer, bat er mit weicher, flehender Stimme: Ich bin so müde und matt, ich hatte es mir doch leichter gedacht, Abschied zu nehmen von dieser schönen Welt.
Er legte sich in die Kissen zurück und schloß die Augen. In demselben Augenblick öffnete sich die Thür des Gemaches und die Priorin erschien auf der Schwelle.
Schnell erhob sich Schwester Juanita und eilte ihr entgegen. Er schläft, flüsterte sie mit leiser Stimme und ebenso leise klang es zurück: Seine Mutter ist angekommen, kann sie ihn sehen?
Aber so leise die Worte auch gesprochen waren, der Kranke hatte sie dennoch gehört. Jäh fuhr er in die Höhe und richtete mit verzehrender Ungeduld die Blicke nach der Thür.
Mutter, rief er mit sehnsüchtiger Stimme, Mutter, wo bist Du?
Und da trat sie über die Schwelle, stolz und königlich anzusehen, grenzenlose Liebe, grenzenlose Trauer in den Zügen.
Mutter, rief er, Mutter, so sehe ich Dich doch noch einmal wieder —
Stürmisch schlang er seine Arme um ihren Hals und preßte seine Lippen in einem heißen Kuß auf ihren Mund. Dann lösten sich seine Hände, schnell und jäh sanken sie herab, schwer fiel sein Körper in die Kissen zurück, und als die Mutter sich über ihn beugte, um ihm, wie sie es oft gethan, da er noch ein Kind war, die Augen zu küssen, küßte sie die Augen eines Todten.