Humoreske von Freiherrn v. Schlicht
in: „Kieler Zeitung” vom 5.6.1898,
in: „Stralsundische Zeitung”, Sonntagsbeilage vom 5.6.1898,
in: „Mährisches Tagblatt” vom 7.6.1898,
in: „Emscher Zeitung” vom 8. und 9.6.1900 und
in: „Ehestandshumoresken”
In der kleinen Provinzialstadt, dem Sitz der Regierung und der Garnison zweier Infanterie-Regimenter, stand die Saison auf höchster Höhe. Ein Diner(1) folgte dem anderen, Abend für Abend war man ausgebeten, man kam, um den Ausdruck eines berühmten Humoristen zu zititren, „garnicht mehr aus der reinen Wäsche heraus”, man wußte kaum noch, wie ein Mittagessen oder das Abendbrot zu Hause schmeckte; das Wirthschaftsgeld der Hausfrauen wurde auf die Hälfte reduziert, da sie mit Ausnahme des Morgen-Kaffees keine Mahlzeiten zu bereiten brauchten(2). Nicht nur des Guten, sondern auch des Besten kann es zuweilen zuviel werden, gar mancher Magen fing an gegen den ewigen Hummer zu revoltiren, und unter Anwendung von Pepsinpillen und doppelkohlensaurem Natron suchte man über die Gefährnisse dieser Zeit hinwegzukommen.
Auf der Höhe des Triumphes stand Frau Matsen.
Frau Matsen war die Kochfrau der kleinen Stadt — nicht als ob sie(3) die einzige am Ort gewesen wäre, nein, es gab noch mehrere außer ihr, aber sie hatte das Vorrecht „bei den vornehmsten Herrschaften” zu kochen, ihre Kolleginnen und Rivalinnen mußten sich mit der Kundschaft in den kleineren Bürgerkreisen begnügen. Gegen Frau Matsen kam keine auf — sie beherrschte ihren Kochtopf, wie die selige Frau Pythia ihren Dreifuß, sie ließ sich nicht von ihrem Platz verdrängen.
Mehr noch als in großen wird in kleinen Städten „geklatscht” und den lieben Mitmenschen allerlei Böses und Schlechtes nachgesagt — an Frau Matsen wagte sich keine Verleumdung heran, Niemand hatte den Muth, über sie etwas Schlechtes zu sagen, sie, wenn auch nur in ihrer Abwesenheit, zu tadeln, — wie leicht hätten gute Freunde und getreue Nachbarn es ihr nicht wieder erzählen können. Und was dann? Das wagte Niemand auszudenken, Gesellschaften geben mußte man, eine Gesellschaft ohne Frau Matsen war ein Unding.
Frau Matsen war die wichtigste Persönlichkeit im Ort, die reichsten und vornehmsten Damen buhlten um ihre Gunst, die stolzeste Aristokratie, die jedem Bürgerlichen jede Existenzberechtigung absprach, nannte die Beherrscherin des Kochtopfes und der Bratpfanne „meine Liebe” und schüttelte ihr beim Abschied die Hand, als wenn auch sie blaues Blut in ihren Adern hätte.
Frau Matsen ertheilte Audienzen wie eine Fürstin: wer etwas von ihr wollte, mußte sie in ihrer eigenen Wohnung aufsuchen, und die vornehmste Dame mußte es sich gefallen lassen, daß sie auf ihre freundliche Bitte, doch an einem Tag der nächsten Woche bei ihr kochen zu wollen, zur Antwort erhielt: „Ja, meine guteste gnädige Frau, vor Donnerstag über vierzehn Tagen ist mir das nun ganz partoutemang unmöglich.”
Dagegen gab es keinen Widerspruch — Frau Matsen führte gewissenhaft Buch über jede Bestellung, sie war streng und gerecht, und selbst die Schätze Indiens hätten nicht vermocht, sie vom Pfad der Tugend abzulenken, eine Zusage rückgängig zu machen und dafür eine andere Zusage zu machen.
Wenn Frau Matsen nicht konnte, konnte keine Gesellschaft stattfinden: auf den Gedanken, eine andere Kochfrau zu engagiren kam Niemand, man hätte nicht gewagt, seinen Gästen das von einer Stellvertreterin zubereitete Essen vorzusetzen.
Frau Matsen regierte die Stadt.
Und da geschah es eines Tages, daß ein Gerücht die Stadt durchschwirrte, — es war so schrecklich, was man zu hören bekam, daß man es nicht glauben wollte und nicht glauben konnte — Frau Matsen sollte krank sein.
Das war ja unmöglich!
Man ging hin, um sich zu überzeugen, wie im Taubenschlag ging es in der Wohnung der Frau Matsen aus und ein; voller Hoffnung, daß die Kunde nicht wahr sei, überschritt Jede die Schwelle, um sich gleich darauf so vielen Anderen weinend an dem Bette der Kranken niederzulassen, ihre Hände zu streicheln und sie mit den süßesten Worten zu bitten, doch morgen, spätestens übermorgen — je nachdem in einem Hause das Diner stattfinden sollte — wieder gesund zu werden.
Frau Matsen versprach, von so viel herzlicher und uneigennütziger Theilnahme gerührt, zu thun, was in ihren Kräften stände, um so bald wie möglich wieder auf ihrem Posten sein zu können. Selbst des Trostes bedürftig, tröstete sie ihre Besucher mit den Worten, daß sie bestimmt hoffe, in vierzehn Tagen wieder ausgehen zu können.
Die Frau Rath, die so hochmüthig war, daß sie auf der Straße kaum den Gruß ihrer Bekannten erwiderte, fiel bei dieser Nachricht auf die Kniee und erhob flehend die Hände: „Liebe Frau Matsen, so lange dürfen Sie nicht krank bleiben. Sie wissen, am nächsten Dienstag kommt der Vorgesetzte meines Mannes auf einer Inspektionsreise hierher, wir haben ihn eingeladen, und es ist eine große Auszeichnung für uns, daß er zugesagt hat — Excellenz lehnt sonst jede Einladung ab. Wir haben zweiundzwanzig Gäste, alles Fleisch, alle Delikatessen sind bestellt und theils schon eingetroffen, die beiden Lohndiener und die Aufwartefrau sind auch bereits engagirt, was soll nun werden? Wir können, wir dürfen die Gesellschaft nicht absagen, das könnte meinem Mann die Karriere kosten.”
„Kann denn das Mädchen nicht” — wollte Frau Matsen schüchtern einwenden, aber die Frau Rath unterbrach sie erregt: „Unsere Dore? Wenn ich mich nicht jeden Mittag selbst um das Essen kümmern würde, käme bei uns überhaupt nichts auf den Tisch, die hat vom Kochen keine Ahnung, obgleich ich ihr erst letzten Weihnachten Henriette Davidis' Kochbuch — sogar mit Goldschnitt — geschenkt habe. Ich glaube, sie hat das Buch noch nicht ein einziges Mal aufgeschlagen, nicht einmal harte Eier kann sie kochen. Sie wissen, mein Mann ißt sie so gerne — aber wenn Dore sie gekocht hat, sind sie immer ganz weich. Nicht einmal nach der Uhr sehen kann die dumme Person, sie hat nur Liebschaften im Kopf; das Militär ist für uns Hausfrauen ein wahrer Fluch, die Mädchen denken nur an ihren Schatz, und dafür bezahlt man ihnen siebenzig Thaler Lohn.”
„Ja, ja, Frau Rath,” stimmte die Matsen bei, „die Zeiten werden immer schlechter, und wie Frau Rath bemerkten, mit den Mädchen ist heute zu Tage rein garnichts mehr los. Als wir noch jung waren —”
Aber davon wollte die Frau Rath nichts hören, dazu war sie viel zu eitel. So kam sie denn wieder auf ihre Bitte zurück:
„Nicht wahr, liebe beste Frau Matsen, ich kann mich mit Bestimmtheit darauf verlassen, daß Sie nächsten Dienstag wieder gesund sind? Sie haben es mir doch fest versprochen zu kommen und doch stets Ihr Wort gehalten.”
„Was ich thun kann, werde ich thun, verlassen Sie sich darauf,” erwiderte Frau Matsen, und voller Hoffnung ging die Frau Rath von dannen.
Die Krankheit der Frau Matsen bildete in den betheiligten Kreisen das Tagesgespräch; wo immer Damen sich trafen, war stets die erste Frage: „Haben Sie etwas Bestimmtes gehört, geht es wirklich etwas besser?”
Es war ja uch geradezu unerhört, wie konnte die Matsen gerade jetzt krank werden, wie konnte sie auch nur so ungeschickt sein, sich mit kochendem Wasser beide Arme zu verbrühen — wenn sie wenigstens soviel Geistesgegenwart besessen hätte, den Topf mit dem siedenden Wasser festzuhalten! Aber nein, sie hatte ihn fallen lassen, es ist geradezu unglaublich, wie ungeschickt solche Leute sind, sie hatte den Topf wahrhaftig fallen lassen und, wie solche Leute nun einmal sind, vergessen die Füße fortzunehmen. — Zwar hatte das Leder der Stiefel — es war nur ein wahres Glück, daß die Frau Schuhe trug — bedeutend geschützt, dennoch aber war der linke Fuß verletzt worden und Frau Matsen somit nolens volens gezwungen, das Bett zu hüten.
Das Leiden des berühmtesten Menschen wäre nicht im Stande gewesen, mehr Theilnahme zu erwecken, als die Krankheit der Kochfrau: man sandte ihr Sträuße und Topfpflanzen, Eingemachtes und kandirte Früchte, Zeitungen und Bücher; keine Hausfrau unterließ es, täglich bei ihr anfragen zu lassen, wie es ginge; der Arzt, der die Kranke behandelte, wurde von seinen anderen Patienten bestürmt, sich doch, so oft es ihm irgend möglich sei, nach ihr umzusehen und sein Möglichstes zu thun, um sie so schnell wie möglich wieder „auf die Füße” zu bringen.
Es hätte nicht viel gefehlt, so hätte man über ihr Befinden Bulletins ausgegeben, und eines Abends brachte das Wochenblatt eine Annonce: „Aus Anlaß meiner Krankheit sind mir von allen Seiten so viele Beweise herzlicher Theilnahme geworden, daß ich mich außer Stande fühle — zumal ich noch halb verbrüht bin — jedem Einzelnen, wie ich es wohl möchte, dankend die Hand zu drücken. Gleichzeitig benutze ich die Gelegenheit, um meinen vielen Gönnerinnen die Versicherung zu geben, daß ich in Zukunft durch noch besseres Kochen als zuvor bemüht sein werde, mir die Gunst und die Kundschaft eines hohen Adels und eines feinschmeckenden Publikums zu erhalten. Matsen, Kochfrau.”
Man fand dies Inserat „rührend”, man überhäufte die Kranke mit noch größeren Aufmerksamkeiten, bis man durch einen Zufall erfuhr, daß die Annonce von einer Anzahl Junggesellen aus reinem Unsinn eingesetzt sei.
Da fand man das Inserat „scheußlich”.
Wohl ein Dutzend Gesellschaften war „wegen plötzlich eingetretener Hindernisse” abgesagt worden — keine Hausfrau wagte es offen einzugestehen, daß sie ohne Kochfrau nicht leben konnte — Frau Rath hatte die Excellenz, den hohen Besuch, mit kalter Küche bewirthen müssen, und immer war Frau Matsen noch krank.
Verzweifelt rangen die Hausfrauen die Hände — Fräulein Marie aber renkte sich die Finger aus.
Sie hatte auch Grund dazu, mehr als verzweifelt zu sein: sie war verlobt, sie war Braut, sogar glückliche Braut, und ihre Hochzeit stand vor der Thür.
Und ihre Eltern hatten keine Kochfrau.
Sonne stehe still im Thale Gibeon!
Entsetzlich.
„Was machen wir nur?” fragte der Vater.
„Was machen wir nur?” fragte die Mutter.
„Was machen wir nur?” weinte die Braut.
Schlecht bei Laune waren sie Alle.
Und das Resultat reiflichen Nachdenkens war: wir müssen die Hochzeit aufschieben.
Damit aber ist keine Braut einverstanden, ebensogut kann man von ihr verlangen, daß sie sich am Tag vor der Hochzeit sämmtliche Zähne ausziehen läßt.
Fräulein Marie renkte sich in ihrer Verzweiflung die Finger wieder ein und stürzte zu Frau Matsen: sie umklammerte ihre Knie und beschwor sie bei allen Fleischextrakten der Welt, sie nicht im Stich zu lassen. Die Hochzeit konnte nicht aufgeschoben werden, die auswärtigen Gäste hatten zum Theil schon ihre Reise angetreten, der Urlaub des Lieutenants war schon bewilligt und nur kurz bemessen, es ging nicht, es ging absolut nicht: bei den anderen Gesellschaften hatte es gehen müssen, aber bei ihr gimg es nicht, das mußte Frau Matsen doch einsehen.
Und sie sah es auch ein.
„Ich komme, Fräulein, verlassen Sie sich darauf und wenn ich mit einem Wagen hinfahren soll und den Löffel mit den Zähnen umrühren soll, ich komme.”
Niemals gab es auf Erden eine glücklichere Braut.
Zum ersten Mal in ihrem Leben bekam Frau Matsen von ihrer Kundschaft einen Kuß.
Frau Matsen geht wieder aus, mit Windeseile verbreitete sich das Gerücht in der Stadt; Alles ging zu ihr, um die Tage für die ausgefallenen Diners mit ihr zu verabreden, auch die Frau Rath, die noch zwei Gesellschaften geben mußte, machte sich auf den Weg, aber als sie die Stubenthür öffnete, sah sie eine so große Damenversammlung vor sich, die sie mit einem gewissen schadenfrohen Gelächter empfing, daß sie schon in der Thür Kehrt machte und unverrichteter Sache von dannen ging.
Bei dem, der zuerst kommt, wird zuerst gekocht.
Frau Matsen hielt Cercle: sie war huldvoll gegen Jedermann, aber sie versprach garnichts, absolut garnichts — erst wollte sie abwarten, wie ihr die Hochzeit bekäme, davon würde es abhängen, wann sie wieder ausginge.
Das war hart, aber ließ sich nicht so Vieles im Leben nicht ändern? Und ebenso wie die Frau Rath, mußten auch die andern Damen(4), ohne etwas erreicht zu haben, wieder nach Haus gehen.
Der Hochzeitsmorgen brach herein, und in aller Früh schon erschien Frau Matsen. Ihre Gesundheit erlaubte ihr noch nicht zu gehen, so hatte man sie in einem Wagen abholen lassen und ihr auf ihre ausdrückliche Bitte hin auch gestattet, sich eine Gehülfin mitzubringen, die ihr Handlangerdienste leisten sollte. Sie war noch garnicht so recht wieder auf dem Damme, sie hatte die Treppen hinaufgetragen werden müssen und saß nun, den linken Fuß auf einem Schemel, beide Arme dick mit Watte verbunden, in einem bequemen Lehnstuhl, den man in die Nähe des Heerdes gerückt hatte, und dirigirte von da aus das Ganze.
Frau Matsen übertraf sich an diesem Tage selbst, das Hochzeitsmahl war ausgezeichnet, und alle Gäste, die fremden und die einheimischen, waren sich darüber einig, daß auf der ganzen Welt so nur Frau Matsen kochen könnte.
Am nächsten Tag ging das Gerücht durch die Stadt, Frau Matsen sei an dem Gelingen des gestrigen Diners so unschuldig wie Astyages an der Erschaffung der Welt, sie habe den ganzen Tag in ihrem bequemen Lehnstuhl geschlafen, gekocht habe die Gehülfin, die sie sich mitgebracht. Und das sei Niemand anders gewesen als Frau Hansen, die zweite Kochfrau der Stadt, die die Rolle der Gehülfin nur übernommen habe, um einem hohen Adel und einem feinschmeckenden Publikum den Beweis zu erbringen, daß auch sie kochen könne, und daß man garnicht nöthig habe, so hinter ihrer Konkurrentin herzulaufen.
Im Bette liegend, ertheilte Frau Matsen ihren zahlreich versammelten Damen gerade Audienz, als auch ihr das Gerücht zu Ohren kam; sie that das Klügste, was sie thun konnte: sie richtete sich auf ihrem Lager etwas in die Höhe und fiel dann in Ohnmacht — aus Wuth darüber, daß die unverschämte Person trotz des ihr extra bewilligten Goldstücks den Mund nicht gehalten hatte.
An eine Ohnmacht glaubt jede Dame — so stand die kranke Kochfrau groß, von jedem Verdacht gereinigt, über jede Anfechtung erhaben da, und die Verleumdung, die da bezweckt hatte, ihre Kunst zu schmälern, diente nur dazu, ihren Ruf und ihren Ruhm in's Unermeßliche zu steigern.
Frau Hansen aber wurde von der ganzen Stadt boykottirt, und eines schönen Tages verließ sie den Ort, in dem, wie sie sich gebildet ausdrückte, Andere die Trauben essen, die man selbst gepflanzt hat.
Am Nachmittag um vier Uhr zwanzig Minuten stieg Frau Hansen in den Zug und vier Uhr einundzwanzig Minuten stieg Frau Matsen aus dem Bett — sie war wieder gesund, sie hatte die Anstrengungen des Hochzeitstages überwunden.
(*) Eine „Frau Matzen” tritt auf in „Der Gardegraf”und in „Ihres Mannes Geheimnis”, und ein Schreiber Matzen in „Die Ananasbowle” und in „Ein Kampf” (zurück)
(1) In der Fassung der „Kieler Zeitung” heißt es hier: „Diener” (zurück)
(2) In der Fassung der „Kieler Zeitung” heißt es hier: „brauchte” (zurück)
(3) In der Fassung der „Kieler Zeitung” fehlt hier das Wort: „sie” (zurück)
(4) In der Fassung der „Kieler Zeitung” heißt es hier: „Namen” (zurück)