Das Foulardkleid

Von Freiherr von Schlicht.
in: „Schöne Frauen” Bibliothek pikanter Erzählungen und Gedichte, Band 3, Seite 146, und
in: „Treulose Frauen”


Seitdem der Fabrikant Heinevetter aus Kötzschenbroda in Sachsen auf einer einsamen Wanderung in Berlin Fräulein Hilda Bauer kennen gelernt hatte, nahm sein Geschäft zu dem grössten Erstaunen, aber auch zur grössten Freude seiner Gattin, der er, wie es sich für einen braven Ehemann gehört, diese neue Bekanntschaft verschwieg, einen ebenso plötzlichen wie grossen Aufschwung. Jede Woche hatte er wenigstens einmal in Berlin zu thun, und bei seiner Heimkehr zeigte er seiner in diesem Falle wirklich besseren Hälfte stets einige Tausendmark­scheine, die er angeblich verdient, in Wirklichkeit aber sich bei(1) seinem Bankier für vierundzwanzig Stunden hatte geben lassen.

Bei seiner Ankunft in Berlin nahm ihn auf dem Anhalter Bahnhof stets seine Hilda in Empfang, und gemeinsam wohnte er dann mit ihr als „Herr und Frau Bornemann” im Alexanderplatz-Hôtel. Und das Lob musste man Herrn Heinevetter lassen: er hatte in der Wahl seiner Heissgeliebten einen guten Geschmack bewiesen. Hilda war mittelgross, schlank und zierlich, von einem entzückenden Ebenemass der Glieder. Ihr Gesicht war nicht besonders ausdrucksvoll oder besonders scharf geschnitten, aber es war das, was man „süss” nennt. Im schroffsten Gegensatz zu dem Rot ihrer Wangen standen die grossen, tiefschwarzen Augen und das dunkle Haar, das auf der Stirn ein wenig gekräuselt war.

Offiziell aber wohnte Herr Heinevetter bei einem alten Freunde, einem reichen Junggesellen, den er in das süsse Geheimnis eingeweiht hatte und mit dem er durch eine langjährige Bekanntschaft, vor allen Dingen aber — und das war in diesem Falle das Wichtigste — durch das Telephon verbunden war. Kamen Briefe für ihn an, so wurde er hiervon benachrichtigt, oder der Freund schickte sie ihm in einem besonderen Kouvert, das an Herrn Bornemann adressiert war.

Länger als vierundzwanzig Stunden pflegte Herr Heinevetter nie von Haus fortzubleiben, und auch bei seinem letzten Besuch wollte er nach den üblichen vierundzwanzig Stunden in sein geliebtes Kötzschenbroda zurückkehren, aber eine höhere Macht zwang ihn, zu bleiben: Hilda feierte am nächsten Tag ihren Geburtstag, und er hätte kein Herz in der Brust und kein Geld im Portemonnaie haben müssen, wenn er diesen Tag nicht gemeinsam mit ihr gefeiert hätte. Der Geburtstag verlief herrlich. Herr Heinevetter hatte sich nicht lumpen lassen und ganz gehörig eingekauft. — Endlich hatte er Hildas Lieblingswunsch erfüllt und ihr das grauseidene, mit kostbaren Spitzen besetzte Foulardkleid bei Gerson erstanden, das im Fenster auslag und jedesmal von neuem ihren Beifall und ihre Anerkennung gefunden hatte. Billig war das Kleid nicht, aber was half's? Er kaufte es und Hilda strahlte. Ihre Freude wurde auch dadurch nicht getrübt, dass das Kostüm nicht tadellos sass. „Das schadet nichts, Liebster,” tröstete sie ihn, „das lasse ich mir umändern, und wenn Du das nächste Mal wiederkommst, wirst Du staunen, wie hübsch Deine Hilda aussieht.”

Am nächsten Morgen fuhr das „Ehepaar” gemeinsam nach dem Bahnhof, er löste sich ein Billet nach Kötzschenbroda, sie kaufte sich ein Perronbillet(2), und sie trennten sich mit den Worten: „Auf Wiedersehen am nächsten Mittwoch.”

Zu Hause angekommen, harrte seine eine grosse Ueberraschung. Sein Schwager, der einzige Bruder seiner Frau, der in Südamerika lebte, war auf einer Geschäftsreise in Hamburg eingetroffen und hatte seine Verwandten aufgefordert, ihn am nächsten Mittwoch in Berlin zu besuchen.

„Aber, Emil, Du freust Dich ja gar nicht?” fragte seine Frau, eine starke, üppige Blondinde in der Mitte der Vierzig, deren höchste Schönheit auch in ihrer zartesten Jugend in ihrer grossen Mitgift betsanden hatte, „Emil, Du freust Dich ja gar nicht?”

„Gewiss, ja, natürlich freue ich mich,” erwiderte er, „aber warum muss denn Dein Bruder ausgerechnet am Mittwoch nach Berlin kommen? Es giebt doch auch noch andere Tage in der Woche, die sich für ein Rendezvous eignen, warum muss es gerade der Mittwoch sein, an dem ich geschäftlich dort zu thun habe? Niemand kann zween Herren dienen. Geschäft und Vergnügen lassen sich nicht mit einander vereinen, und das Geschäft geht vor(3).”

Sie stimmte ihm bei. „Aber am Abend wirst Du doch hoffentlich frei sein?”

„Ich will es wenigstens versuchen,” gab er nachdenklich zur Antwort.

„Und wo meinst Du, dass wir absteigen?” fragte sie nach einer kleinen Pause, „mein Bruder wird wie stets im Alexanderplatz-Hotel wohnen, wollen auch wir dort Logis nehmen?”

Für den zehnten Bruchteil einer Sekunde lähmte Herrn Heinevetter der Schreck, dann aber sagte er, anscheinend tief nachsinnend: „Alesanderplatz-Hôtel? Wo liegt das doch noch? Ach ja, richtig, da ganz hinten am anderen Ende der Welt. Das geht für mich unmöglich, ich habe im Zentrum zun tun. Wir steigen in irgend einem Hôtel unter den Linden oder in der Friedrichstrasse, im Monopol- oder Metropol-Hôtel ab.”

Dabei blieb es, und Herr Heinevetter schrieb am nächsten Morgen seiner Freundin schweren Herzens die nachfolgenden Zeilen:

„Liebe kleine Hilda!

Es ist eine Thränenwelt! Meine Frau fährt nächsten Mittwoch nach Berlin, und ich muss sie begleiten, leider, leider, leider, aber es geht nicht anders. So müssen wir das Wiedersehen bis zum übernächsten Mittwoch verschieben. Bis dahin grüsse und küsse ich Dich als

Dein getreuer

Emil.”

Achtundvierzig Stunden später kam die Antwort:

„Mein lieber, guter Emil!

Ich bin mehr als unglücklich. Schreibe mir doch wenigstens, in welchem Hôtel Ihr absteigt, damit ich weiss, wo meine Gedanken Dich suchen und finden können. Das Foulardkleid ist wunderhübsch geworden. Du wirst Augen machen, wenn Du mich zum ersten Mal darin siehst!”

Am nächsten Morgen traf Herr Heinevetter mit seiner Gattin in Berlin ein, und der Droschkenkutscher brachte sie zuerst nach dem Monopol-Hotel, dann aber, als dort alles besetzt war, nach dem Metropol-Hôtel.

Diensteifrig stürzte der Portier, der vor der Thür des Hauses stand, herbei.

„Schön guten Tag, Herr Bornemann! Nein, ist das aber eine Freude, dass ich Sie auch hier begrüssen darf. Und diese Ueberraschung für Ihre Frau Gemahlin! Vor einer Viertelstunde ist sie mit ihrem Herrn Bruder angekommen. Die Herrschaften wohne No. 9 und 10. Ist es Ihnen recht, Herr Bornemann, wenn ich Ihnen 11 und 12 gebe? No. 9, wo Ihre Frau Gemahlin wohnt, hat leider nur ein Bett, aber, wenn Sie es wünschen, kann ich selbstverständlich noch ein zweites hereinstellen lassen.”

Herr Heinevetter sass da, starr, unbeweglich, mit starren Augen den Portier ansehend, der seine Stelle im Alexanderplatz-Hotel aufgegeben und ein Engagement im Metropol-Hôtel angenommen hatte. Er war unfähig, sich zu rühren, der Angstschweiss stand ihm auf der Stirne, die Zunge klebte ihm am Gaumen, er konnte keine Silbe sprechen, und denken konnte er nur: Wenn doch wenigstens meine Frau nicht neben mir sässe!

Aber leider sass sie da, und der Ausdruck ihres Gesichtes verkündete nichts Gutes. Mit dem Instinkt der Frau hatte sie mit einem Mal die häufigen Geschäftsreisen des Gatten begriffen, und ein Sturm, nein, ein Teifun der Entrüstung tobte in ihr, aber die Rücksicht auf sich selbst gebot ihr, zu schweigen.

„Darf ich das Gepäck heraufbringen lassen, Herr Bornemann?” begann der Portier von neuem, „ah, da kommt ja Ihre Frau Gemahlin.”

Und richtig, an der Seite eines schlanken, eleganten Herrn erschien in diesem Augenblick seine treue Hilda. Sie sah süsser aus denn je, denn zum ersten Mal trug sie das ihr entzückens stehende graue Foulardkleid. Alles, was sie auch(4) hatte, war von ihm: Der Hut, die Handschuhe, der Schirm, die Stiefel, und durch das Kleid hindurch glaubte er die teueren Dessous zu sehen, die mit den einfachen Unterröcken seiner Frau nicht die entfernteste Aehnlichkeit hatten.

Darum also hatte Hilda sich erkundigt, wo er wohnte! Und wie schlau sie war, dass sie sich bei dem Anblick des auch ihr bekannten Portiers nicht als die Frau, sondern als die Schwester ihres Geliebten ausgegeben hatte.

O, diese Weiber!

Hilda und ihr Begleiter studierten eifrigst an der im Thorweg aufgestellten Litfas–Säule die Theater–Annoncen; so blieben die Insassen des Wagens Gottseidank unbemerkt.

„Soll ich Ihre Frau Gemahlin nicht benachrichtigen?” fragte der Portier noch einmal.

„Um Gotteswillen, nur das nicht!” stöhnte der Arme in seinem Innern. Gewaltsam raffte er sich auf.

„Nein, nein, es handelt sich um eine Ueberraschung, sagen Sie auch nicht, dass wir hier waren. Meine — — Schwester (er würgte etwas sehr an dem Wort), meine Schwester und ich werden heute abend wieder vorsprechen. Kutscher: Hôtel — — Hôtel — —”.

Er besann sich, aber er wusste nicht, wohin mit sich und mit seiner Gattin.

Da sprach plötzlich eine scharfe, energische Stimme an seiner Seite: „Kutscher Alexanderplatz-Hôtel!”

Der Wagen rollte davon, und kraftlos sank Herr Heinevetter in sich zusammen. Er war auf alles gefasst, schlimmer, als es gewesen war, konnte es nun nicht mehr werden. Aber in seine Verzweiflung hinein mischte sich ein grosser Aerger. Zwar hatte er für das Foulardkleid schon 400 Meter(5) bezahlt, aber den grössten Teil, 600 Mark, schuldete er noch für die Robe, und er war ausser sich, jetzt noch so viel Geld für ein Kleid bezahlen zu müssen, in dem Hilda ihm gefallen sollte, in dem sie jedoch einem Anderen gefiel.

Recht aber hatte Hilda behalten: er hatte Augen gemacht, als er sie zum ersten Mal in dem neuen Foulardkleid sah!


Fußnoten:

(1) In der Fassung von „Treulose Frauen” heißt es hier: „von seinem Bankier”. (zurück)

(2) Damit ist eine „Bahnsteigkarte” gemeint. (zurück)

(3) Beachte die Erzählung: „Das Geschäft geht vor.” (zurück)

(4) In der Fassung von „Treulose Frauen” heißt es hier: „alles, was sie an hatte”. (zurück)

(5) In der Fassung von „Treulose Frauen” heißt es hier: „Mark”. (zurück)


zurück zur

Schlicht-Seite
© Karlheinz Everts